Für die russische Wirtschaft gibt es eine Schmerzgrenze. Von Bloomberg befragte Ökonomen taxieren sie mehrheitlich auf ein Ölpreisniveau von rund 30 Dollar. Ein derart niedriger Ölpreis würde die Wirtschaft im flächenmässig grössten Land der Welt derart belasten, dass die Stabilität des Finanzsystems bedroht wäre. Es handelt sich um die grösste Bedrohung für Russland im kommenden Jahr neben der Geopolitik, Verwerfungen im Bankensystem und eine weitere Abwertung der Landeswährung Rubel. Befragt wurden 27 Analysten.
«Sollte der Ölpreis weiter nachgeben und über längere Zeit auf einem niedrigen Niveau bleiben, so steigt das Risiko fiskalischer und finanzieller Destabilisierung signifikant», sagte Analyst Sergej Narkewitsch, Analyst bei der PAO Promsvyazbank in Moskau, per E-mail.
Russland gehen die Möglichkeiten aus
Russland hat in den letzten Monaten und Jahren mit massiven Einsparungen auf den schwächeren Rubel und die wegen gefallener Preise sinkenden Einnahmen aus dem Rohstoffexport reagiert. Für weitere Verschärfungen der Lage gehen dem Land die Möglichkeiten zunehmend aus.
Die in Europa gängige Ölsorte Brent wird derzeit auf einem Niveau um 45 Dollar je Barrel gehandelt. Ein weiterer, überdurchschnittlich warmer Winter könnte die Nachfrage für Heizöl einbrechen lassen und den Impuls für eine weitere Abwärtsbewegung in Richtung 20 Dollar je Barrel auslösen. Das befürchten Analysten der Goldman Sachs Group Inc. laut einer Studie vom 18. November.
«Unsere Situation lässt sich mit dem Begriff Krise nicht mehr beschreiben», sagte der stellvertretende Finanzminister Maxim Oreschkin in einer Diskussion im russischen Parlament. Es handele sich um die neue Realität, sagte er. Die neuen Preise für Rohöl liessen auch für die Zahlungsbilanz eine neue Lage erwarten.
Wesentliche Faktoren
Wesentliche Faktoren für den niedrigen Ölpreis sind die auf Rekordniveau gestiegenen Lagerbestände in den USA und die weiterhin über ihren eigenen Quoten produzierenden Mitglieder des Ölkartells OPEC. Beim kommenden Treffen der OPEC am 4. Dezember in Wien wird keine wesentliche Änderung erwartet. Das Kartell will mit seiner hohen Produktion eigene Marktanteile verteidigen und die in vielen Teilen ausserhalb der OPEC kostspieligere Produktion schwächen. Das erwarten alle 30 von Bloomberg in einer separaten Erhebung befragten Analysten.
Eine Rolle bei den Risiken für die weitere Entwicklung in Russland spielt auch die geopolitische Lage. Bereits nach dem Abschuss eines russischen Jagdbombers an der türkisch-syrischen Grenze durch die Türkei in der letzten Woche war es an den Finanzmärkten zu einem Ausverkauf russischer Aktien und Anleihen gekommen. Neben den Spannungen mit dem Westen über die Strategie in Syrien hat Russland auch mit den anhaltenden Sanktionen wegen des ungelösten Ukraine-Konflikts und der Krim-Annektion zu kämpfen.
Aufweichung der Sanktionen?
Erste Hoffnungen auf die Aufhebung der westlichen Sanktionen im Zuge des gemeinsamen Kampfes gegen die Terrororganisation IS in Syrien und im Irak nach den Terroranschlägen in Paris und auf den russischen Airbus in Ägypten haben sich zunächst zerschlagen. Allerdings rechnen 56 der Befragten Ökonomen in den kommenden zwölf Monaten mit diesem Schritt oder zumindest mit der Aufweichung der Sanktionen. Bei der letzten Umfrage im August rechneten nur 34 Prozent der Befragten damit. 20 Prozent rechnen im kommenden Jahr mit weniger harten Sanktionen der USA gegen Russland. Vor drei Monaten waren es lediglich drei Prozent.
Drei europäische Diplomaten sprachen im Vorfeld eines Treffens der 28 EU-Länder am 17. und 18. Dezember hingegen von vermutlich um sechs Monate ab Ende Januar ausgeweiteten Sanktionen, und zwar ungeachtet von der verbesserten Kooperation in Syrien.
«Nur ohne Sanktionen wird die russische Wirtschaft wieder zu einem BIP-Wachstum zurückkehren können», hiess es von Ökonom Wolf-Fabian Hungerland von der Berenberg Bank in Hamburg. Trotz der einzigartigen Chance auf eine Tauwetterphase bei den Beziehungen von Russland zum Westen gebe es das substanzielle Risiko, dass diese Chance nicht genutzt werde und die Sanktionen im Gegenteil vor einer Verlängerung stünden.
Gelernt mit einem Ölpreis von 40 Dollar zu leben
Vizefinanzminister Oreschkin hatte erklärt, dass Russland mit einem Ölpreis von 40 Dollar zu leben gelernt habe, und lediglich ein weiterer Einbruch auf 30 Dollar würde eine weitere Belastung hervorrufen. Das, sagte der Spitzenpolitiker, sei aber kein wahrscheinliches Szenario. Die russische Notenbank hatte den Effekt eines auch zwischen 2016 und 2018 unter 40 Dollar verharrenden Ölpreises in einem Stresstest-Szenario auf eine Kontraktion der Wirtschaft um fünf Prozent oder mehr im kommenden Jahr beziffert. Die Inflation würde sich demnach auf sieben bis neun Prozent beschleunigen.
Beim Verharren des Ölpreises bei etwa 50 Dollar je Barrel erwartet die Zentralbank in Moskau einen BIP-Verlust von 3,9 bis 4,4 Prozent in diesem Jahr und nicht mehr als einem Prozent im kommenden Jahr.
«Russland ist mittlerweile besser als im letzten Jahr vorbereitet für einen weiteren Ölpreisschock. Die Wechselkurse sind flexibler, die Haushalte sind gestrafft, der Bankensektor konsolidiert und die Reserven bleiben ausreichend», sagte Schwellenland-Stratege Per Hammarlund von der SEB AB in Stockholm. Trotzdem sei die russische Wirtschaft in der Klemme. Es gebe nur die Alternative, den Rubel abzuwerten oder die Ausgaben zu kürzen.
(bloomberg/ccr)