Die rechte Hand liegt ruhig auf dem Tisch, die Finger der linken, sauber manikürt, trommeln auf die schwere Edelholzplatte. Der Blick ruht starr auf der Visitenkarte, die vor ihm liegt. Heute Vormittag, bei den Kundengesprächen, soll er gut drauf gewesen sein. Aber eben gerade, als er für das Gespräch gebrieft und gekämmt wurde, hatte er wieder seine autistische Phase. Sass still da. Starrte ins Leere. Reagierte kaum auf Ansprache.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

«Bill Gates, wenn Sie die Gründe für Ihren Erfolg auf drei Punkte reduzieren müssten: Welche wären es?»

Die linke Hand macht eine knappe Bewegung. Bestimmt hat er das schon hunderttausendmal beantwortet. Bestimmt beschäftigt so ein langweiliges Gespräch nur einen Promillebruchteil seiner angeblich exorbitanten Gehirnkapazität. Idle Time nennt man es bei einem Prozessor, wenn Rechenkapazität brachliegt. Computersysteme nutzen sie, um Funksignale aus dem All zu dechiffrieren, Klimaentwicklungen vorherzuberechnen oder Genome zu entschlüsseln. Vermutlich macht sein Gehirn im Moment genau das Gleiche.

Der Blick hebt sich von der Tischkante, die dunkelblauen Augen schauen ernst durch das ungeputzte Brillenglas. «Erstens hatten wir immer die Vision, wie wichtig Software ist, und nur darauf haben wir uns fokussiert», sagt die nasale Stimme. «Zweitens verfolgen wir einen sehr langfristigen Ansatz. Und drittens haben wir hochintelligente Leute auf der ganzen Welt dazu angestellt.»

Die Softwarebranche steckt in einer tiefen Krise. Microsoft geht es besser denn je. Umsatz 32,2 Milliarden Dollar. Gewinn 9,99 Milliarden. Barmittelbestand über 50 Milliarden. Börsenkapitalisierung 280 Milliarden, zusammen mit General Electric die höchste der Welt und so viel wie das Bruttoinlandprodukt der Schweiz. Das Unternehmen, das Bill Gates 1975 mit dem später ausgeschiedenen Studienkollegen Paul Allan in einem Hotelzimmer in Albuquerque gegründet hat, ist heute das erfolgreichste der Welt. Von den normalen Wirtschaftszyklen hat es sich längst abgekoppelt.

Seit Jahrzehnten personifiziert Bill Gates Microsoft wie kein anderer Chef sein Unternehmen. Als in den Achtzigerjahren die ersten PCs auf den Markt kamen, führte er mit seiner Vision «Ein Computer auf jedem Schreibtisch» die technische Revolution an. Als die Kurse der Technologieaktien in den Neunzigern explodierten, wurde er zum reichsten Mann der Welt. Als Microsoft um den Millenniumswechsel ins Visier der Kartellbehörden geriet, verkörperte er den hab- und machtgierigen Bösewicht.

Bill Gates ist Microsoft. Und Microsoft ist Bill Gates. Kaum ein Konzern wird heute noch so sehr von seinem Gründer geprägt. Dies ist der wahre Grund für den Erfolg der Softwareschmiede aus Redmond. Denn über Jahrzehnte bewies Gates (48) ein einzigartiges Gespür für sich anbahnende Veränderungen. «Er kann Dinge voraussehen, die Normalsterbliche einfach nicht sehen», sagt Neil Thompson, Europa-Chef für Home Entertainment bei Microsoft.

Das operative Tagesgeschäft hat Gates vor drei Jahren an seinen Studienfreund und langjährigen Vertrauten Steve Ballmer abgegeben. «Chairman, Chief Software Architect» steht heute auf Bill Gates’ Visitenkarte.

«Bill Gates, wie häufig kommt es vor, dass Steve Ballmer etwas gegen Ihren Willen entscheidet?»

Unter dem Tisch kann man das Tappen der Füsse hören. Gleich wird er die Arme vor der Brust verschränken und anfangen zu schaukeln wie ein ekstatischer Rabbi, jene Gebärde, die zu seinem Markenzeichen wurde und von zahllosen Microsoft-Mitarbeitern imitiert wird.

Das Tappen hört auf. «Eher selten.»

«Warum haben sich die ersten zwölf Monate nach dem Stabswechsel denn als so schwierig für Sie beide erwiesen?»

Der Blick wandert jetzt nicht mehr nach jeder Frage auf die Tischkante zurück, sondern ruht auf dem Gegenüber. «Steve und ich haben über zwanzig Jahre lang zusammengearbeitet. Wir haben unterschiedliche Stärken und Schwächen, also war die Rollenverteilung klar, und wir hatten ein sehr effizientes Entscheidungssystem. Als wir die Rollen tauschten, war plötzlich nicht mehr klar, wer was zu entscheiden hatte. Es brauchte mehr als ein Jahr, bis wir die alte Effizienz wiedergefunden haben.»

Ballmer (47) ist Gates’ Alter Ego. Energisch, laut, mitreissend. Das Gegenteil vom technologieverliebten, introvertierten, emotional zurückhaltenden Gates. Gates ist das Gehirn von Microsoft. Ballmer ist der Muskel. Er strukturiert die Organisation, definiert die Abläufe, verteilt die Ressourcen. Und als Marketingmann sorgt er dafür, dass Microsoft nicht das Schicksal anderer Computerunternehmen erleidet, die von technologieverliebten Ingenieuren geleitet wurden. Deswegen wirft Microsoft lieber ein unausgereiftes Produkt auf den Markt, um von Anfang an präsent zu sein und den ersten Return zu erzielen, als es zur Perfektion zu entwickeln und den Markt zu verpassen. Entsprechend häufig sind Microsoft-Produkte, wie Kritiker bemängeln, erst in der dritten Version richtig brauchbar.

Für die Umsetzung von Gates’ Strategie sind die sieben Leiter der Business-Units zuständig, die in ihrem Bereich als CEOs funktionieren. Gates hat in den letzten Jahren viel Zeit und Energie darauf verwendet, dieses eigentliche Rückgrat des Unternehmens zu stärken, um mehr Entscheidungen nach unten delegieren zu können. Einen «dramatischen Wandel» nennt Kevin Johnson, Marketingchef von Microsoft, die Abkehr von der bisherigen, fast ausschliesslich auf Gates und Ballmer zugeschnittenen Führungsmaschinerie. »Aber bis das Unternehmen wirklich dezentral ist, haben wir noch einen weiten Weg zu gehen», sagt er.

Bill Gates ist ein Workaholic und extrem – viele sagen: krankhaft – ehrgeizig. Wer für ihn arbeitet, muss einem ungeheuren Druck gewachsen sein. «Microsoft ist nie zufrieden. Das Unternehmen sagt jedes Mal: Das können wir noch besser», sagt Thompson. Es gilt das Prinzip des Darvinismus. «Wer mit Gates öffentlich auftreten will, muss sich mit Dutzenden anderer Produktegruppen um den Platz streiten», sagt Balz Wyss, gebürtiger Basler, der seit zwei Jahren in Redmond als Product-Manager arbeitet.

Trotzdem ist Microsoft einer der beliebtesten Arbeitgeber. Dieses Jahr stellte sie 5000 Mitarbeiter ein – mehr als jedes andere Technologieunternehmen. Der Auswahlprozess ist rigoros: Für eine offene Stelle prüft das Unternehmen im Schnitt 28 Bewerbungen; jeder Kandidat muss durch ein Dutzend Bewerbungsgespräche. Nicht der Lebenslauf oder Referenzen zählen, sondern nur die Ergebnisse von Fallstudien und Verhaltenstests. Gérard Cattin des Bois, ein gebürtiger Lausanner, personalisiert den Archetypus der Redmonder Arbeitsbiene: Er sitzt 55 bis 60 Stunden pro Woche im Büro, hat mit seiner ebenfalls voll berufstätigen Frau sechs Kinder und findet nebenher trotzdem noch die Zeit, den Pilotenschein zu machen. «Ich habe bei der Arbeit immer meinen Vater vor Augen und versuche, ihm den Umgang mit dem Computer zu erleichtern», sagt er. Dass ihre Produkte von 400 Millionen Menschen benutzt werden, ist für die Angestellten (Durchschnittsalter 34,5 Jahre) die grösste Motivation. Zudem ist Microsoft für amerikanische Verhältnisse grosszügig: drei Wochen Urlaub statt der üblichen zwei, kostenlose Krankenversicherung und bis vor kurzem reichlich Stock-Options.

Das Resultat sieht man an den feudalen Villen, die an den Ufern in und um Seattle thronen. Über 10 000 Dollarmillionäre hat Microsoft im Lauf der Jahre allein im Grossraum Seattle hervorgebracht, wo das Unternehmen 27 000 Mitarbeiter beschäftigt. Das prunkvollste Domizil gehört Gates selber: ein Villenkomplex auf 3700 Quadratmetern, unter dem Hauptgebäude eine 30-plätzige Garage. Kosten des 100-Zimmer-Baus: 57 Millionen Dollar plus 40 Millionen für den darin aufbewahrten Codex Leicester, eine Handschrift Leonardo da Vincis. Peanuts für den reichsten Mann der Welt. 33 Milliarden Dollar sind die 12 Prozent an Microsoft wert, die Gates heute noch hält (bei der Gründung waren es 55 Prozent). Zusammen mit seinen inzwischen zahllosen anderen Beteiligungen (die prominentesten an den Bildagenturen Bettman, Corbis und Sygma) beträgt sein geschätztes Nettovermögen derzeit 46 Milliarden Dollar. Einen grossen Teil davon hat er seiner Stiftung zur Verfügung gestellt (siehe «Mega-Philanthrop» rechts).

Die grösste Stiftung der Welt
Mega-Philanthrop


In einer düsteren Gegend von Seattle, am Hafen zwischen verfallenen Holzbaracken, steht ein zweistöckiger Flachbau. Kein Namensschild weist darauf hin, dass hier die mit Abstand grösste private Wohltätigkeitsorganisation der Welt sitzt: 24 Milliarden Dollar hat die Bill & Melinda Gates Foundation zur Verfügung. Eine Milliarde davon, was etwa den Zinseinkommen entsprechen dürfte, gibt sie jedes Jahr aus, hauptsächlich zu Gunsten von Kindern in der Dritten Welt, aber auch für Anti-Aids-Programme oder die Ausstattung von amerikanischen Schulen und Bibliotheken mit PCs. Allein für Impfprogramme stellt die Foundation mit 750 Millionen Dollar mehr Geld zur Verfügung als WHO und Unicef zusammen. Ultimatives Ziel der Stiftung ist die Entwicklung einer Aids-Impfung. Bereits jetzt baut Gates dafür ein Verteilsystem in Afrika auf, um parat zu sein, wenn die Forscher den Durch-bruch geschafft haben.


Die Stiftung behandelt Spendenempfänger wie Geschäftspartner. Es werden Ziele vereinbart und deren Erreichung gemessen; erst wenn wieder ein Meilenstein erreicht wurde, fliesst die nächste Tranche Geld. Zudem werden die Initiativen so angelegt, dass sich sie langfristig möglichst selber finanzieren können. Und eine Regierung, die Geld aus Gates’ Spendentopf möchte, muss die gleiche Summe aus eigener Kasse beisteuern.


220 vollamtliche Mitarbeiter beschäftigt die Stiftung. Und ist dennoch eine Familiensache: Bill Gates entscheidet über die Zuteilung der Mittel, zusammen mit seiner Frau Melinda, die einen guten Teil ihrer Zeit bei den Projekten vor Ort verbringt. Vater William H. Gates senior war selber lange Jahre in lokalen Wohltätigkeitsinitiativen tätig und hat Bill Mitte der Neunzigerjahre zur Philanthropie motiviert. Heute ist er in seinem Amt als Co-Chairman noch immer eine treibende Kraft.

«Bill Gates, wie teilen Sie sich heute Ihre Zeit ein?»

Die linke Hand mit dem goldenen, fünffach gerillten Ehering spielt mit der Visitenkarte.

«Ein Sechstel der Zeit diskutiere ich mit unseren Forschern. Ein Drittel verbringe ich damit, die Entwicklung unserer Produkte zu begleiten. Die andere Hälfte der Zeit verbringe ich mit Kunden, kontrolliere das Geschäft und kümmere mich um das Management.» Zum ersten Mal huscht der Ansatz eines Lächelns über das blasse Gesicht.

Technologie ist Gates’ Lieblingsthema – eines der wenigen, bei denen er sich in Fahrt reden kann. «Wenn Bill uns im Forschungslabor besucht, bekommt er Augen wie ein Kind im Spielzeugladen», sagt Kevin Schofield, Technischer Strategiedirektor. 6,9 Milliarden Dollar gibt Microsoft für Forschung und Entwicklung aus, mehr als jedes andere Softwareunternehmen. 26 000 Mitarbeiter sitzen an der Produktentwicklung, 750 weitere dürfen erforschen, was sie wollen, ohne dass es sich in Produkten niederschlagen muss. Bill Gates selber stellt die Teams zusammen, definiert ihre Grenzen und die Zusammenarbeit, kontrolliert und korrigiert ihre Ausrichtung.

Mitarbeiter quer durch alle Hierarchiestufen fürchten diesen «BillG-Review». Unterstützt von zwei technischen Assistenten, stellt Gates in hohem Tempo sehr dezidiert Fragen. Das Ergebnis des Kreuzverhörs, eine Note zwischen eins und fünf, fliesst direkt in den Bonus ein (20 bis 30 Prozent des Gehaltes sind variabel). Die Bestnote erhalten pro Jahr nur ein paar Dutzend Mitarbeiter. Beat Stamm, ein Schweizer, der am Microsoft-Hauptsitz an der Lesbarkeit von Computerschriften tüftelt, erinnert sich, wie er für sein jüngstes Forschungsprojekt kürzlich bei Bill Gates antraben musste: «Es war erschreckend, wie er sich in den technischen Details auskennt und Schwachstellen sofort erkannte.» Giorgio Vanzini, ebenfalls Schweizer und in Redmond mit der Entwicklung von Grafiktools beschäftigt, beschreibt seine Begegnung schlicht als «coming to Jesus». Mit Gottes Sohn debattiert man nicht; Gates ist für sein hitziges Temperament bekannt, und wenn es ihm zu lange geht, beendet er Diskussionen auch im Topmanagement mit der Begründung «Ich weiss, dass ich Recht habe».

Bill Gates war sein ganzes Leben lang so. In der Schule rebellierte der Sohn wohlhabender Anwälte gegen das System, indem er sich vornahm, in allen Fächern Bestnoten zu erreichen, ohne dabei je ein Buch in die Hand zu nehmen. Auf diese Weise schaffte er es in Mathematik unter die zehn Besten des Landes. «Er hat ein Gehirn, so gross wie ein Planet», sagt Neil Thompson und reiht sich damit in die Kette von Gates’ Weggefährten ein, die alle dasselbe sagen.

«Bill Gates, was war der grösste Fehler, den Sie begangen haben?»

Er nimmt die rechte Hand von der Tischplatte und beginnt zu gestikulieren.

«Manchmal sind wir zu spät gekommen. Wir haben nicht rechtzeitig vorhergesehen, wie wichtig Netzwerk-Software würde oder E-Mail. Da ist uns die Konkurrenz davongelaufen. Die meisten dieser Fehler konnten wir aber korrigieren.»

Seine Gesten werden grösser.

«Manchmal sind wir auch zu früh. Im interaktiven Fernsehen haben wir 300 oder 400 Millionen Dollar versenkt. Aber das stört mich nicht.»

Dann lehnt er sich zurück und lacht. Der Bann ist gebrochen.

Microsoft Schweiz
Zwei Millionen Umsatz pro Kopf


Alexander Stüger (47) weiss, wie man ein Fass aufmacht: Der Steirer begann seine Karriere bei einer Brauereigruppe. Auch heute hat er Grund zum Feiern: Der Chef von Microsoft Schweiz kann jedes Jahr Wachstumszahlen von rund 25 Prozent vermelden. Insgesamt ist er verantwortlich für 250 Mitarbeiter und einen Umsatz von geschätzten 500 bis 600 Millionen Franken.


Damit ist Microsoft in der Schweizer Wirtschaft ein wichtiger Faktor: «15 000 Arbeitsplätze hängen direkt von Microsoft-Produkten ab, weitere 35 000 indirekt», sagt Stüger. Die meisten davon bei den 5000 Partnerunternehmen wie Accenture, CSC, Unisys oder HP, die ihr Geld damit verdienen, die Programme aus Redmond den Bedürfnissen der Schweizer Kunden anzupassen und zu implementieren. Sie leben gut davon: Wegen des zunehmenden Spardrucks konzentrieren sich die IT-Abteilungen vieler Unternehmen auf Standardprodukte. Zudem befinden sich 6 der 40 Global Accounts der Microsoft Corporation in der Schweiz (Roche, Novartis, UBS, CS, Nestlé und ABB). Das Privatkundengeschäft hingegen macht nur zehn Prozent des Umsatzes aus.


Microsoft Schweiz ist dabei keine reine Verkaufsgesellschaft, sondern funktioniert auch als Feedback-Kanal Richtung Redmond. So wird der Internet Explorer in seiner nächsten weltweiten Version einige deutliche Veränderungen erfahren. Die Anregungen dafür kamen von einem grossen Transportunternehmen mit Sitz in der Schweiz.

54 000 Mitarbeiter beschäftigt Gates heute. Da das Führungssystem so sehr auf ihn zugeschnitten war, konnte er das Unternehmen trotzdem bis vor wenigen Jahren wie ein Start-up führen. Das erlaubt dramatische Kurswechsel in kürzester Zeit. Jeder der Angestellten weiss: Wenn oben etwas entschieden wurde, wird mitgezogen. Diskussionslos. Unbürokratisch. Und sofort. Mitte der Neunzigerjahre beging Gates seinen wohl grössten Fehler als Unternehmer: Er verkannte die Bedeutung des aufkommenden Internets. Konkurrent Netscape wurde mit seinem Browser zur grössten Bedrohung für Microsoft. Im Dezember 1995 korrigierte Gates seine Einschätzung und setzte alle verfügbaren Ressourcen ein, um das Unternehmen internetkompatibel zu machen und den Konkurrenten abzudrängen. 36 Monate später war Netscape Geschichte.

Als Kind konnte Bill Gates beim Spielen nie verlieren. Das hat sich bis heute nicht geändert. Deswegen agiert Microsoft im Markt mit einer beispiellosen Aggressivität. Die Art, wie sie Netscape aus dem Markt boxte, war der eklatanteste Fall, und die Folgen beschäftigen die Justiz bis heute. Doch die Liste der Vorwürfe, die Konkurrenten, Staatsanwaltschaften, ehemalige Partner und sogar Kunden gegen Microsoft erheben, ist lang. Dass Microsoft ihr Windows-Monopol ausnutzt, um die Konkurrenz auch bei anderen Produkten auszuschalten. Dass sie Kunden zum Kauf neuer Produktversionen zwingt, indem die alten vom Kundendienst nicht mehr unterstützt werden. Dass sie die Technologie von Partnern kopiert, um auf deren Basis eigene Produkte herauszubringen. Und so weiter.

Gates, in dessen privater Porsche-Sammlung sich auch ein Gruppe-3-Rennwagen befindet, den er mangels Strassenzulassung in den USA gar nicht fahren darf, steuert das Unternehmen seit Jahrzehnten konsequent am Limit und manchmal etwas darüber hinaus. Das machte ihn zum meistgehassten Manager der Welt. Niemand sonst kommt auf so viele Hatesites im Internet (www.killbillgates.com usw.) wie er. Er hat die Aggressionen immer stoisch erduldet. Schliesslich ist er davon überzeugt, der Menschheit nur Gutes zu tun. «Unser Eigen- und das Fremdbild klaffen dramatisch auseinander!», erkennt Alexander Stüger, Chef von Microsoft Schweiz.

Erst in letzter Zeit haben die Anfeindungen etwas nachgelassen. Vor der Tür stehen drei Bodyguards, noch einmal drei sitzen, als Geschäftsleute getarnt, im Foyer. Früher, als ihm seine Gegner noch Torten ins Gesicht schmissen, liessen die Leibwächter Gates nicht aus den Augen, standen selbst bei öffentlichen Auftritten dicht an seiner Seite. «Jetzt ist er entspannter geworden», sagt Holger Rungwerth, PR-Manager Microsoft Schweiz. Auch weil Gates nach der Hochzeit mit seiner Frau Melinda (eine ehemalige Microsoft-Mitarbeiterin) am Neujahrstag 1994 und der Geburt der Kinder Jennifer (1996), Rory (1999) und Phoebe (2002) entdeckt hat, dass es auch ein Leben ausserhalb Microsofts gibt.

Mit ihm ändert sich auch die Politik des Unternehmens. Seit März gilt eine neue Doktrin, wonach Micro tatsächlich soft werden soll. Zu gross ist bei Bill Gates die Angst, dass ihn das gleiche Schicksal ereilt wie J.D. Rockefeller, dessen Ölimperium Anfang des letzten Jahrhunderts von der Politik zerschlagen wurde, weil er mit seinem Monopol zu mächtig geworden war. Nun hat Gates die Parteienfinanzierung in Washington massiv erhöht und bemüht sich intensiv um ein sauberes Image, sowohl als Unternehmer wie auch über seine Stiftung.

Die 600 Mitarbeiter starke Rechtsabteilung in Redmond versucht, die Dutzende hängiger Klagen gegen Microsoft schnellstmöglich aussergerichtlich zu regeln. Im wichtigsten Prozess mit den amerikanischen Kartellbehörden, der zur Zerschlagung Microsofts hätte führen können, einigte man sich gegen Zahlung einer Milliardenstrafe. Nur in Europa lässt es Bill Gates auf ein Kräftemessen mit Wettbewerbskommissar Mario Monti ankommen. Unter dem Schlagwort «trustworthy computing» versucht Microsoft zugleich mit grossem Aufwand, Sicherheitslücken in ihren Programmen zu schliessen und sie so vertrauenswürdiger zu machen. Ausgewählte Grosskunden, Regierungen und Universitäten dürfen als Geste des guten Willens sogar den Source-Code von Windows einsehen – ein bis vor kurzem undenkbarer Schritt.

Der reichste Mann der Welt
Was Gates mit seinem Geld kaufen könnte


Das Privatvermögen von Bill Gates wird auf 46 Milliarden Dollar geschätzt. Damit könnte er
  • jeden Erdenbewohner zu Big Mac, Cola und Pommes frites einladen
  • oder alle Autos kaufen, die BMW letztes Jahr hergestellt hat (ohne Mengenrabatt)
  • oder die Mehrheit an ABB, Adecco, CS, Swiss Re und Swatch Group übernehmen
  • oder alle Sitzplätze der Swiss für die nächsten 13 Jahre buchen und sie damit zum erfolgreichsten Carrier aller Zeiten machen.

Bill Gates, der neue Microsoftie. Aus hehren Motiven? Nur zum Teil. Kaum ein Computerbenutzer kommt an Microsoft vorbei, der Marktanteil mit Windows beträgt 93 Prozent. Doch der PC-Absatz stagniert. Deshalb drängt Bill Gates mit Macht in neue Märkte: ERP-Software für Unternehmen, Handy-Betriebssysteme, demnächst Musik via Internet. Eine halbe Milliarde Dollar liess er sich allein die Einführungskampagne für die Videospielkonsole Xbox kosten. Eine unglaubliche Summe. Und doch weniger als ein Prozent des Barmittelbestandes von Microsoft, der ausreichen würde, die Mehrheit an der gesamten deutschen Autoindustrie zu erwerben. Aber Geld allein reicht nicht: In den neuen Märkten ist Microsoft auf Partner angewiesen. Wegen seiner Ellbogentaktik ist Gates alles andere als willkommen. Auch daher fährt er den neuen Schmusekurs: «Wir müssen berechenbarer werden», sagt Marketingchef Johnson.

Vor allem wegen jenes Feindes, der Bill Gates derzeit am meisten schlaflose Nächte bereitet: Linux, ein Betriebssystem, das Microsofts Windows zunehmend bedrängt. Es gehört keinem Unternehmen, keinem Konkurrenten, keinem Anti-Bill-Gates. Der Quellcode liegt offen im Internet. Jeder darf ihn kostenlos verwenden und weiterentwickeln, die Verbesserungen kommen der gesamten Benutzergemeinde zugute. Open Source nennt sich das System, und es gewinnt zunehmend an Popularität. Bis 2007 wird jedes vierte Unternehmen derartige Software einsetzen, schätzt das Marktforschungsunternehmen Soreon.

Dieser Feind ist nicht greifbar. Bill Gates kann ihn nicht wie alle anderen mit dem Ellbogen wegdrücken. Er muss nach dessen Regeln spielen. Das ist die grösste Herausforderung für den erfolgreichsten Unternehmer dieser Generation. Aber Microsofts neuer Kurs zeigt, wie schnell und konsequent Bill Gates das Ruder herumreissen kann.

Nach einer Dreiviertelstunde hat sich Bill Gates richtig in Fahrt geredet. Schliesslich verabschiedet er sich gut gelaunt und eilt zum nächsten Meeting. «Das Interview hat richtig Spass gemacht», wird er später ausrichten lassen.

Vermutlich, weil er nebenher, in seiner Idle Time, noch ein paar hundertstellige Primzahlen berechnet hat.