Am Stadtrand von Bülach wird unter Hochdruck an einem modernen Wunder gearbeitet, nämlich daran, wider alle Gesetze und Widrigkeiten des Marktes eine totgesagte Fabrik mit Hunderten von Arbeitsplätzen wiederauferstehen zu lassen. Eine Fabrik, wohl bemerkt, die vor fünf Jahren quasi als Symbol für den anhaltenden Niedergang des Industriestandortes Schweiz für Schlagzeilen sorgte und die monatelang im Blitzlichtgewitter der Medien stand.
Bereits heute arbeiten in den ehemaligen Räumen der 1999 geschlossenen Medizinalgerätefirma Schneider 350 Frauen und Männer unter der Leitung der Manager der deutschen Biotronik-Gruppe daran, in ihrem angestammten Markt dereinst wieder eine führende Rolle zu spielen. Die Biotronik hatte das leer geräumte Fabrikgebäude in Bülach vor gut vier Jahren übernommen und zumindest einen Teil der 550 auf die Strasse gestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder angestellt.
Hier, im grössten Reinraum Europas, wird nun wieder hergestellt, was von der Fabrikeröffnung 1991 bis zu ihrer Schliessung immer hier produziert wurde: so genannte Ballonkatheter, hochmoderne Medizinalgeräte, mit deren Hilfe verengte Herzkranzgefässe geöffnet werden können. Rund 200 Personen, vorwiegend angelernte, kleine und feingliedrige Frauen, darunter viele Asiatinnen, deren Hände und Geschicklichkeit laut dem technischen Leiter Frank Jellinghaus für die Feinmontage vorteilhaft sind, arbeiten hier unter klinisch reinen Bedingungen, eingehüllt in desinfizierte Ganzkörper-Schutzanzüge.
Ballonkatheter wurden erstmals Ende der Siebzigerjahre durch die Firma Schneider auf den Markt gebracht, was in diesem Bereich zu einer wahren Revolution führte, da bis zu deren Einführung Verengungen in Herzkranzgefässen noch unter Vollnarkose operiert werden mussten, während das mit Ballonkathetern in der Folge gar ambulant geschehen konnte. Erfinder des Ballonkatheter der ersten Generation war der Kardiologe Andreas Grüntzig, der ihn als Assistenzarzt an der Universitätsklinik in Zürich erstmals erfolgreich testete.
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Motiviert von Andreas Grüntzigs Erfolg, begann Firmengründer Hugo Schneider 1977 in einer Garage in Zürich Witikon die Ballonkatheter zu produzieren – mit so grossem Erfolg, dass er seine Firma bereits sieben Jahre später für 14 Millionen Franken an den amerikanischen Pharmagiganten Pfizer verkaufen konnte.
Pfizer baute das Unternehmen zu einem Konzern mit weltweit rund 2200 Mitarbeitern aus und setzte mit der Schneider-Gruppe in den 14 Jahren bis zum Verkauf der Firma rund drei Milliarden Franken um. Dann, im September 1998, fand die Erfolgsgeschichte der Schneider-Gruppe ihr abruptes Ende; das Unternehmen wurde systematisch demontiert und unter den Gesetzen des entfesselten Marktes zum Opfer einer Fusions- und Akquisitionseuphorie, über die sich selbst eingefleischte Anhänger der Marktwirtschaft die Augen rieben.
Im Herbst 1998 begann der Teil der Firmengeschichte, der vor allem dank der damaligen Schneider-Chefin Heliane Canepa zum Symbol für den Kampf der Schweizer Industrie gegen ihren Niedergang im ganzen Land nicht nur für Schlagzeilen, sondern auch für ein breites Bewusstsein für den Überlebenskampf in Zeiten der Globalisierung sorgte.
Canepa, damals schon mehrfach ausgezeichnete Unternehmerin, kämpfte mit allen Mitteln gegen die Schliessung der Fabrik, die sich abzeichnete, als Pfizer die Schneider-Gruppe für 2,1 Milliarden Dollar an den ebenfalls amerikanischen Medizinalgerätekonzern Boston Scientific verkaufte. Der Wert der Firma hatte sich innert 14 Jahren weit mehr als vertausendfacht. Die Käufer warteten kein Jahr ab, bis sie ankündigten, die Fabrik in Bülach zu schliessen und sämtliche Patente (für die sie den hohen Preis eigentlich gezahlt hatten) und Geräte nach Irland zu verfrachten, wo der Konzern bereits über bestehende Produktionsanlagen verfügte.
Canepa selber war mit ihrem Angebot eines Management-Buy-outs gescheitert, obwohl ein britisch-schweizerisches Bankenkonsortium das Geld dafür zur Verfügung gestellt hätte. Pfizer ging gar nicht auf das Angebot ein. Die umtriebige Firmenchefin begann deshalb, für ihre Mitarbeiter eine neue Lösung zu suchen. Diese fand sie Monate später in der Berliner Biotronik-Gruppe und ihrem Besitzer Max Schaldach, der bereit war, die Räumlichkeiten und die verbliebenen Mitarbeiter zu übernehmen, was ohne die Patente und die Geräte ein erhebliches Risiko darstellte.
Seither haben die Berliner in Bülach einen dreistelligen Millionenbetrag investiert, um sich künftig im Ballonkathetermarkt als Bollwerk gegen die amerikanische Übermacht behaupten zu können. Dass sie in Bülach eingestiegen sind, obwohl sie einzig und allein das Know-how des Personals übernehmen konnten, scheint sich dennoch ausbezahlt zu haben. «Wir haben dank unseren Mitarbeitern in drei bis vier Jahren erreicht, wofür wir normalerweise zehn Jahre gebraucht hätten», so Managing Director Albert Panzeri.
In der Bülacher Fabrik, die zum Zentrum für den Bereich Vaskuläre Intervention des Berliner Familienkonzerns ausgebaut worden ist, wird vor allem an der neusten Generation der Stents gearbeitet, wie die Gefässprothesen, die mit den Ballonkathetern eingeführt werden, auf Englisch heissen. Bis zum Sommer 2005 nämlich wollen die Biotronik-Forscher mit ihren so genannt absorbierbaren Stents auf den Markt kommen und damit eine neue Epoche einläuten. Dabei handelt es sich ebenfalls um Gefässprothesen, die sich von den herkömmlichen Stents dadurch unterscheiden, dass sie sich nach einer gewissen Zeit und nach abgeschlossener Heilung vollständig auflösen.
Es geht um einen Markt, in dem weltweit heute bereits 7,5 Milliarden Dollar umgesetzt werden und der enorme Renditen verspricht. So gehen auch die Biotronik-Verantwortlichen davon aus, dass am Markt für absorbierbare Stents deutlich höhere Preise gelöst werden können als für die herkömmlichen unbeschichteten Stents.
Noch ist die Biotronik nicht so weit, auch wenn ihre Verantwortlichen davon schwärmen, der Konkurrenz um Jahre voraus zu sein. Eine Feststellung, die sich in einer Branche, die gerade im Forschungsbereich auf absolute Verschwiegenheit angewiesen ist, kaum überprüfen lässt. Auch sonst ist die Biotronik kaum einzuschätzen, da das Unternehmen sich in Familienhand befindet und, abgesehen von der Mitarbeiterzahl, auf die Publikation ihrer Geschäftszahlen verzichtet.
Bekannt ist allerdings, dass die Biotronik 1963 vom Forscher Max Schaldach und vom Elektroingenieur Otto Franke gegründet wurde. Wie schon Hugo Schneider starteten auch die beiden Biotronik-Gründer ihre Erfolgsgeschichte bilderbuchmässig in einem Hinterhof. Bereits 1964 brachte die Biotronik ihren ersten Herzschrittmacher auf den Markt. Bis heute hat sich das Berliner Unternehmen zu einem Konzern entwickelt, der weltweit 2500 Mitarbeiter beschäftigt und rund tausend Produkte in seinem Angebot hat. Dennoch gilt die Biotronik in ihrem Markt noch immer als Nischenanbieter.
Insgesamt wird der Markt für die vaskuläre Intervention von vier amerikanischen Konzernen kontrolliert. Dies sind Johnson & Johnson mit ihrer Tochter Cordis, die Medtronic, die Firma Guidant und die Schneider-Käuferin Boston Scientific. Zusammen kontrollierten die vier Grossfirmen im Jahr 2003 rund 90 Prozent des Marktes. Das restliche Zehntel teilen sich zahlreiche Firmen aus allen Kontinenten auf, zu denen auch die Biotronik gehört.
Sie alle sind in einem Markt tätig, der jährlich um rund 30 Prozent wächst. Das Wachstum wurde vor allem beschleunigt, seit 2002 die ersten mit Medikamenten beladenen Stents auf den Markt kamen – Medikamente, die entzündungshemmend wirken und dazu beitragen, Folgekomplikationen in den geöffneten Gefässverengungen zu verringern.
Eigene so genannte «drug eluting stents», wie diese neuen Gefässstützen genannt werden, will die Biotronik noch dieses Jahr auf den Markt bringen. Zum grossen Durchbruch verhelfen sollen allerdings dann die erwähnten absorbierbaren Stents, für welche die Biotronik-Verantwortlichen bis im Sommer 2005 die Zulassung zumindest in Europa erhalten wollen.
Nachdem die Tierversuche erfolgreich abgeschlossen worden sind, laufen in Belgien zurzeit die ersten Tests mit Menschen, wobei die neuartigen absorbierbaren Stents vorerst nur unterhalb des Knies getestet werden. Damit sich die neuen Stents nach Abschluss der Heilungsphase vollständig auflösen und nur noch körpereigenes Zellgewebe zurückbleibt, wurden die neuen Gefässprothesen auf der Basis einer Magnesiumlegierung entwickelt. Diese haben den grossen Vorteil, dass die bei herkömmlichen Stents vorkommenden chronischen Entzündungen ganz verschwinden, dass negative Langzeiteffekte gar nicht erst auftreten und dass bei weiteren medizinischen Interventionen keine Probleme mit den traditionellen Techniken mehr bestehen.
Sollte die Biotronik ihre hochtrabenden Pläne und Visionen verwirklichen können, dürfte der Industriestandort Bülach davon profitieren. Umso mehr, als sich auch Besitzer Max Schaldach, der Sohn des vor drei Jahren tödlich verunglückten Firmengründers, klar zum Standort Schweiz bekennt.
Allerdings wollen Schaldach und seine Statthalter die Kosten noch weiter herunterfahren.
«Wir müssen effizienter werden, um im Hochlohnland Schweiz konkurrenzfähig zu bleiben. In diesem Prozess sind wir allerdings schon sehr weit gekommen», so Claus Martini, der bei der Biotronik den Bereich Vascular Intervention leitet. Sicher ist jedoch, dass sich die Mitarbeiterzahl bei einem möglichen Durchbruch mit den absorbierbaren Stents deutlich vergrössern dürfte. «Wir haben den Platz dafür, unsere Kapazitäten in den bestehenden Räumen dereinst zu vervielfachen», so Martini.
Allzu einfach dürfte es die Konkurrenz der Biotronik indes nicht machen, das weiss man auch in Bülach. Martini: «Wir können uns auf diesem Vorsprung nicht ausruhen, denn die Grossen der Branche haben so viel mehr Geld und Marktmacht als wir, dass sie selbst grosse Vorsprünge innert Kürze aufholen könnten.»
In der Tat reisen die Verteter der amerikanischen Grosskonzerne ständig durch die Welt, auf der Suche nach innovativen Produkten und viel versprechenden Start-ups, die sie reihenweise aufkaufen. An Wunder glaubt man zwar auch in Bülach nicht, aber zumindest besteht hier die Hoffnung, den Vorsprung auf die Konkurrenz nutzen zu können. «Wir sind ein kleines Unternehmen und haben nicht das Ziel, morgen schon zum Marktführer zu werden, da machen wir uns keine Illusionen», so Claus Martini. «Aber wir arbeiten intensiv daran, eine Vordenkerrolle zu übernehmen.»