BILANZ: Holocaust-Gelder, Luftverkehrsabkommen, Swissair-Debakel – lauter Pleiten, die vermeidbar gewesen wären, wenn sich das Land rechtzeitig der Realität gestellt hätte. In der Marthaler-Inszenierung «Grounding» am Zürcher Schauspielhaus, die Sie sponsern, wird das Debakel der Schweizer Manager thematisiert. Warum stellen sich die Schweizer immer wieder selber ein Bein?
Branco Weiss: Die meisten Schweizer sind mit dem Sonderfall eine kurze Weile gut gefahren. Sie haben aber nicht begriffen, dass zu Mythen stilisierte Schlagworte nur eine kurze Lebensdauer haben. Solche Illusionen mögen für eine Weile nützlich sein, aber man darf sie nicht allzu ernst nehmen, man darf nicht wirklich daran glauben. Denn die Zeiten und damit die Schlagworte ändern sich immerzu.

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Spielt der Mythos vom Sonderfall tatsächlich noch eine so grosse Rolle?
Ein guter Teil der Schweizer, vorwiegend, aber nicht nur SVP-Wähler, glaubt noch immer an die gloriosen Zeiten und die Allmacht des Sonderfalls. Glaubt, dass Konkurrenz nicht sein darf, und verhält sich entsprechend. Das Ausland begegnet dem Sonderfallgebahren mit Unverständnis und leiser Kritik, aber auch mit Abneigung gegen die Schweizer Überheblichkeit. Den Vorwurf des Egoismus der Schweizer werden wir noch häufiger hören, auch wenn man hier und dort wenige echte Gegenmassnahmen ergriffen hat. Aber die Massnahmen greifen nicht, weil sie nicht echt sind.

Steht es denn um die Schweizer Wirtschaft wirklich so schlecht, wie die aktuellen Zahlen befürchten lassen?
Für die Schweizer Wirtschaft sieht es nicht wirklich schwarz aus. Wir werden immer Wirtschaftszyklen haben, und auch die menschliche Natur bleibt sich immer gleich: Sie neigt zu Übertreibungen, in alle Richtungen. Grundsätzlich steht es um die Schweizer Wirtschaft nicht schlecht, besonders nachdem die Redimensionierung beendet sein wird. Denn jede Redimensionierung beinhaltet auch einen generellen Reinigungsprozess. Besinnt sich die Wirtschaft auf das Anbieten von echten Leistungen, orientiert sie sich nach den Märkten und passt sie sich proaktiv an den unausweichlichen Wandel an, so hat sie nicht viel zu befürchten. Die Wirtschaft war schon immer illusionsfrei, weil sie sich jährlich rechnen muss.

Welche Bereiche der Wirtschaft haben denn die besten Voraussetzungen?
Überleben werden zunächst jene Exportfirmen, die ihre Produkte und Leistungen dauernd erneuern und die Füsse am Boden behalten. Die gewerbliche Wirtschaft muss rasch echte Leistungsträger zu konkurrenzfähigen Tarifen hervorbringen. Nur Zulieferer zu sein, ist nicht gut genug und auch gefährlich.

Wer hat denn in Zukunft bessere Chancen, die grossen Konzerne oder die kleinen und mittleren Unternehmen?
Wir brauchen beide. Grosse Unternehmen setzen sich kraft ihrer Stärke durch, mit Marketingmacht oder mit Forschungspotenzial. Sie bedürfen eines hohen Organisationsgrades und sind deshalb eher unflexibel. Kleine Unternehmen sind beweglicher, können Nischen erobern. Ihr Problem ist, dass sie, wenn sie erfolgreich sind, unweigerlich irgendwann an Wachstumsgrenzen stossen. Dann dürfen sie sich nicht aufblasen und im Konzert der Grossen mitspielen wollen. Für Führungskräfte in solchen Unternehmen ist Skepsis die wichtigste Tugend.

Sind unsere Eliten mit diesen Ansprüchen nicht überfordert?
Das sind sie wohl. Das Problem ist aber, dass unsere Wirtschaftselite zu klein ist. Die Grösse der Schweizer Wirtschaft entspricht etwa einem 14-Millionen-Volk. Da finden sich bei den rund sieben Millionen Schweizern zu wenig hochkarätige Führungskräfte. Etliche der Spitzenleute sind ganz einfach arme, überforderte Menschen. Die sich überdies auch noch überschätzen. Wenn einer bei uns in seinem Bereich ein wenig Erfolg hatte, glaubt er, er könne nun auf allen Hochzeiten tanzen. Auch hier: Skepsis ist eine Tugend.

Glauben Sie denn, dass sich unsere Eliten grundsätzlich überschätzen?
Die Eliten bei uns haben in den allzu guten Zeiten vergessen, dass sie sich verbrauchen, dass nur neue Leistungseliten Bestand haben, und auch dies nur, solange sie überdurchschnittliche und von den Märkten honorierte Leistungen erbringen. Der Kampf um die Erhaltung des Status quo ist immer ein Verlustspiel, bei dem wertvolle Zeit und die endliche Energie unnütz verbraucht werden. Wir haben zu viele verbrauchte Eliten, die noch in den letzten zwanzig bis dreissig Jahren verhaftet sind.
Neue Eliten werden dringend gebraucht, und diese müssen aus heutigen Leistungsträgern mit dem Blick auf die nächsten zwanzig Jahre gebildet werden. Wo sind sie?

Eliten sind das eine, Rahmenbedingungen das andere. Wie müssten die Rahmenbedingungen gestaltet werden, um der Wirtschaft wieder Schub zu geben?
«Rahmenbedingungen» ist ein Unwort. Es gehört mental ebenfalls in die Zeit des Sonderfalls. Es war schon immer fatal, zu sehr an Rahmenbedingungen zu glauben, denn sie sollten uns schützen. Auch Rahmenbedingungen sind vergänglich und müssen in der Zeit des Wandels immer wieder neu erschaffen werden. Alte Rahmenbedingungen nützen nichts, sie schaden auf dem Weg zur Anpassung an die neue Realität.

Welche Wegmarken sollten wir uns denn setzen, ohne uns dabei zu überfordern?
Über die Ziele wurde schon viel geredet. Wir müssen uns nur wenige Ziele setzen, diese aber konsequent verfolgen. Die Schweiz muss und kann nur überleben, wenn sie sowohl politisch als auch wirtschaftlich mit überholten Vorstellungen aufräumt. In der Wirtschaft findet dieser Wandel tagtäglich statt, viele veraltete Strukturen und alte Betriebe sind am Ende. Das ist ein natürlicher, lebensnaher Vorgang. In der Politik, in den Köpfen und im Bauch weiss man zwar von veralteten Strukturen, will sie aber nicht wahrhaben und die Erneuerung nicht anpacken.

Zu wenig Mut zum Risiko also?
Die Schweiz stagniert heute, weil wir eine panische Angst vor Veränderungen haben. Wir glauben immer, man müsse für ein Problem die perfekte Lösung haben, bevor man überhaupt etwas tut. Dabei geht es überall gerade darum, Entscheidungen unter der Bedingung unvollständiger Information zu treffen. Das ist mit Risiken verbunden. Und das ist auch völlig normal. Risiken kann man allenfalls verkleinern, aber nicht ausschliessen.

Und woher soll der Anstoss kommen, damit wir vermehrt ein kalkuliertes Risiko in Kauf nehmen, unsere mentale Blockade durchbrechen?
Einen Weg aus dem Malaise aufzuzeigen, ist in Anbetracht der Landesmentalität schwierig. Kaum sagt jemand etwas über notwendige Veränderungen, melden sich nicht nur die vielen Gegner, sondern auch die allgegenwärtigen Kritiker. «Goot nöd» ist mittlerweile landesweit zum Leitspruch der letzten Dekade geworden. Es muss zunächst möglich werden, die brennenden Fragen der Lockerung der verharzten Systeme vorurteilsfrei zu diskutieren und einander wirklich zuzuhören. Ob diese Vision heute oder in den nächsten Jahren möglich sein wird, weiss ich nicht. Die Alternative ist weiterwursteln und die graduell weitergehende Lähmung der Schweiz. Wir müssen mit dem Wunschdenken aufhören.

Mit welchen alten Zöpfen sollten wir schleunigst aufräumen?
Alte Strukturen, die vielen Verbände und andere Schutzsysteme müssen abgeschafft werden, sonst können sich keine neuen, zeitgenössischen Formen bilden. Man muss auf einzelne begabte und fähige Unternehmer (Hayek, Vasella, Bertarelli und andere) setzen, die sich auf den einfachen und wirksamen Weg ihrer Unternehmung konzentrieren. Diese Unternehmer suchen nie beim Staat um Hilfe nach, weil der Staat als Retter ein ganz falscher Weg ist, siehe Swiss. Staatshilfe dient nur der – falschen – Strukturerhaltung. Das heutige Deutschland ist da sicher kein Vorbild.

Was braucht es, um die Lethargie zu überwinden?
Vielleicht bietet das Grossereignis der «Alinghi» ein brauchbares Modell. Hier ist fast alles anders als bei ähnlichen sportlichen Anlässen. Dem Organisator und Financier, übrigens ein Neuschweizer, ging es nicht ums Geld, sondern um den Sport und um die Freude am Organisieren und am Gewinnen. Der Sportchef von «Alinghi» ist Deutscher, der Skipper ein Neuseeländer. Die Mannschaft war im wahrsten Sinne des Wortes multinational, und im Training wurde das Hauptgewicht auf den Sieg und weniger auf die bestehenden Regeln gelegt. Die verhielten sich wie eine Jagdgesellschaft, die sich für ein Ziel vereint und dann wieder trennt. Dass Bertarelli, kaum hat er sein ehrgeiziges sportliches Ziel erreicht, schon wieder auf Neid und Missgunst trifft («der hat den Sieg gekauft»), spricht allerdings eher gegen die Erneuerungskraft der Schweiz.

Dann kann die notwendige Erneuerung also nur von aussen kommen?
Das ist doch schon seit 200 Jahren so. Die Schweiz war für eine notwendige Erneuerung immer wieder auf den Einfluss des Auslandes angewiesen beziehungsweise auf Einwanderung. Etliche der heutigen Grosskonzerne wurden von Eingewanderten gegründet. Selbst die moderne Schweiz mit ihrer Bundesverfassung geht auf die napoleonische Besatzungszeit zurück. Heute reden wir nur über die qualitative Einwanderung, schon seit Jahren – und nichts passiert. Die Mehrheit ist auf Abwehr eingestellt, obwohl klar ist, dass nicht einmal die AHV ohne jüngere Einwanderer auf Dauer finanzierbar ist.