Res Zürcher, ein treuer Migros-Kunde, wundert sich: 67 Millionen Franken? Aus der Zeitung erfährt der im Emmental wohnende Elektromonteur, wie viel Geld der Grossverteiler fürs Projekt «Corporate Design» ausgeben will. Ab 2005, so liest er, gibt es neue Beschriftungen und für das Personal schönere Arbeitskleider. Kurz entschlossen setzt sich Zürcher an den Computer und schreibt einen Leserbrief, der am 10. April in der «Berner Zeitung» erscheint: «Dieser neue Migros-Schriftzug ist ein absoluter Leerlauf! Ich kann nicht verstehen, warum man so viel Geld investiert, wenn man den Unterschied fast nicht sieht!»
Wenn sich die Migros einem Facelif-ting unterzieht, wird daraus ein Politikum weit über den Konzern hinaus. Zwar hat das heutige Erscheinungsbild schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel, doch das Vermächtnis des Gründervaters Gottlieb Duttweiler steht hier zu Lande unter einer Art Denkmalschutz. Die Migros ist nicht nur eine Powermarke. Sie ist ein Stück Schweizer Kultur, ein Spiegel unserer Gesellschaft. Der orange Riese zählt 81 600 Mitarbeiter – 2,5 Prozent aller Arbeitnehmer in der Schweiz. 72 Prozent der Haushalte kaufen mindestens einmal pro Woche bei der Migros ein, mehr als bei den Konkurrenten Coop und Denner zusammen.
Wie schwer es ist, sich mit dem Monument Migros zu messen, zeigt das Beispiel des Erzrivalen Coop. Bereits im Jahr 2001 hatte Konzernchef Hansueli Loosli den Markenauftritt von Coop vereinheitlicht, ein neues Logo eingeführt und die Angestellten modischer eingekleidet. Martin Hotz, Marketingexperte der Agentur Fuhrer & Hotz, ist voll des Lobes: «Dieser Marken-Relaunch in kürzester Zeit sucht seinesgleichen.»
Bei der Migros dagegen herrscht ein Kunterbunt mit rund 3000 verschiedenen Marken. Vor allem das Kürzel «M» – ursprünglich für die Kennzeichnung der drei Ladengrössen M, MM und MMM vorgesehen – wird geradezu inflationär eingesetzt: von den Tipo-M-Teigwaren über die M-Color-Filme bis zur Vorratsdose M-Top-Line. Eine Logik lässt sich dabei nur schwer erkennen: So heissen die Plastikteller M-Party, die Kartonteller im Regal daneben jedoch nur Migros. Die Grillzange trägt den Namen M-Camping, die Grillbürste dagegen nennt sich M-Giardino.
Trotz diesem Wildwuchs: Die Marke Migros hat im Urteil der Konsumenten nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Im Gegenteil, der Vorsprung gegenüber der Marke Coop ist seit dem Jahr 2000 sogar deutlich gewachsen. Dieses beachtliche Resultat zeigen bisher unveröffentlichte Daten aus der grössten Schweizer Markensstudie, dem «Brand Asset Valuator 2003» der Agentur Advico Young & Rubicam (siehe Artikel zum Thema «Markenstärke»).
Die Studie basiert auf persönlichen Interviews mit mehr als 1500 Konsumenten. Sie offenbart einen detaillierten Einblick in die Seele der beiden Marken. Zwar schneidet Coop bei den Kriterien «modisch» und «qualitativ hoch stehend» besser ab. Insgesamt jedoch erhält die Migros die klar besseren Noten. Im Urteil der Konsumenten liegt die Marke bei Eigenschaften wie «authentisch», «mutig», «energiegeladen», «dynamisch» oder «sozial» deutlich vorne. Ein weiterer Befund: Während die Marke Migros bei sämtlichen Schichten und in allen Regionen einheitlich hohe Werte erzielt, zeigt sich bei Coop ein weniger homogenes Bild. So kommt die Marke bei jungen männlichen Konsumenten besser an als bei Frauen und älteren Personen.
Die Untersuchung belegt: Wichtiger als die Design-Hülle ist der Inhalt. Zwar wirkt das Erscheinungsbild der Migros etwas ungelenk. Doch die Konsumenten nehmen das gern in Kauf, weil sie «ihre» Migros dafür als ungekünstelt und echt erleben. Umgekehrt kann ein toller Markenauftritt gewiss hohe Erwartungen wecken. Umso grös-ser freilich fällt die Enttäuschung aus, wenn die Versprechungen danach nicht eingelöst werden. Coop-Sprecher Felix Wehrle bestreitet indes ein Absinken der Markenstärke: «Unsere repräsentativen Umfragen zeigen, dass die Wertigkeit der Marke Coop substanziell gestiegen ist.» Dies lasse sich vor allem bei den Imagekriterien Frische und Dynamik feststellen. Konkrete Daten will Wehrle allerdings nicht offen legen.
Beim Power-Brand Migros kommt eine historische Dimension hinzu: Der Name steht wie kaum ein zweiter als Sinnbild für die Entwicklung der Schweiz zur modernen Konsumgesellschaft. Konzernchef Anton Scherrer hält fest: «Das Geheimnis der Marke Migros liegt in der Person von Gottlieb Duttweiler» (siehe Interview auf Seite 54). Scherrer bezeichnet es als eine seiner wichtigsten Aufgaben, das Gedankengut des charismatischen Migros-Gründers weiterzupflegen. Auch beim neuen Unternehmensleitbild sei dieses Ziel im Zentrum gestanden. Als «Dutti» 1962 starb, war Scherrer gerade mal 20 Jahre alt. Und doch prägt der Gründervater die Kultur seines Konzerns bis heute ganz entscheidend mit. Das von ihm erlassene Verkaufsverbot für Alkohol und Tabak sowie das Kulturprozent legten die Basis für das soziale Image und die hohe Glaubwürdigkeit.
Ebenso wichtig für das unverwechselbare Profil der Migros ist die Eigenmarkenstrategie. Duttweiler hatte damit auf die Herstellerboykotte reagiert, weil er sich nicht an deren Preisbindung halten wollte. Beispiele solch frecher Markenkopien sind der 1931 lancierte Kaffee Zaun statt Hag oder Eimalzin als Ovomaltine-Adaption.
Die Strategie mit den Eigenmarken geriet mit dem Siegeszug der grossen Markenhersteller immer mehr zum Auslaufmodell. Trotzdem hielt die Migros stur daran fest. Jetzt hat der Wind allerdings gedreht, Eigenmarken liegen wieder im Trend – und damit auch das alte Konzept des Gottlieb Duttweiler.
Als Vorbild für diese neue Generation von Detailhändlern gilt Tesco. Die britische Supermarktkette ist wie die Migros ein so genannter Content-Retailer. Das heisst, im Zentrum der Strategie steht das Sortiment. Tesco ist es dank Eigenmarken gelungen, sich im gesamten Spektrum, von billig bis edel, zu profilieren. Mit einer Umsatzverdoppelung in fünf Jahren ist der Konzern in Grossbritannien zum Marktführer aufgestiegen.
Sowohl Tesco als auch die Migros haben sich mit Hilfe von Eigenmarken geschickt dem zunehmenden Wettbewerbsdruck der Discounter entzogen. In beiden Ländern kommen die Billiganbieter nicht über zehn Prozent Marktanteil hinaus. In Deutschland dagegen, wo nur zwölf Prozent der Produkte Eigenmarken sind, besetzen die Discounter bereits 38 Prozent des Marktes. Aus diesem Grund setzt auch Coop verstärkt auf eigene Marken wie Naturaplan oder Betty Bossi – und diese haben in den letzten Jahren rasant an Umsatz zugelegt. Obwohl das Coop-Sortiment noch immer zu 56 Prozent aus Markenartikeln besteht, gegenüber lediglich 10 Prozent bei der Migros: Die Profile der beiden werden sich immer ähnlicher.
Deshalb verbeissen sich Migros und Coop mehr und mehr in einen unliebsamen Konkurrenzkampf. Ein erstes Scharmützel lieferten sich die beiden Konzernchefs im März, als sie sich via Medien über die Qualität ihrer Fischstäbchen zankten. Ein weiteres Kräftemessen folgte vor Monatsfrist: Gestützt auf die Berechnungen des Marktforschungsinstituts IHA-GfK, erschien die Zeitung «Blick» mit der Schlagzeile «Historisch – Coop hat Migros überholt». Umgehend korrigierte die Migros die Zahlen: Der «Dutti»-Konzern liegt noch immer mit 479 Millionen Franken im Vorsprung (siehe Artikel zum Thema «Kopf an Kopf»).
Trotzdem kann die Migros-Führung die aggressive Expansionspolitik von Coop nicht ignorieren. Bei Coop kletterte der Marktanteil im Food-Bereich in drei Jahren von 20,2 auf 23,0 Prozent, während die Migros nur leicht um 0,2 auf 24,4 Prozent zulegte. Hinzu kommt die Preisoffensive der inländischen Discounter Denner und Pick Pay sowie der ausländischen Giganten Carrefour, Aldi und Lidl. Bis anhin reagiert Platzhirsch Migros allerdings mit erstaunlich leisen Tönen, auch beim neuen Markenauftritt. Der Projektverantwortliche, Werbeleiter Beat Mühlemann, vergleicht seine Arbeit mit derjenigen eines Coiffeurs: «Wir wollen dem Konzern eine frische Frisur geben, ohne dass die Leute gleich sehen, wo wir die Haare abgeschnitten haben.»
Die Konsumenten werden vom neuen Look zunächst kaum etwas bemerken. Der Migros-Schriftzug – der künftig ebenfalls auf den Formatmarken wie Gourmessa oder Micasa erscheint – bleibt praktisch gleich (siehe «Die Logos im Wandel der Zeit» auf Seite 55). Aus Kostengründen haben die zehn regionalen Genossenschaften zudem bis 2010 Zeit, um die neuen Beschriftungen an den Läden und Lastwagen anzubringen. Die Kosten von 67 Millionen Franken verteilen sich somit auf mehrere Jahre.
Die sichtbarste Veränderung bringen die neuen Uniformen für die rund 40 000 Angestellten im Fronteinsatz. Im Juli wurden die paprikafarbigen Shirts mit den beigefarbenen Gilets in zwei Filialen getestet, die flächendeckende Einführung erfolgt im Frühjahr 2005. Bis anhin herrscht auch bei der Bekleidung der typische Migros-Föderalismus: Während das Personal in manchen Regionen die wenig populäre türkis-weiss gestreifte Uniform trägt, arbeiten andere Mitarbeiter wiederum in den zivilen Kleidern, denen sie lediglich eine grüne oder rote ärmellose Weste überstülpen.
Als weitere Massnahme hat die Migros das Tiefpreissegment M-Budget von 160 auf 200 Artikel ausgeweitet. Das ehrgeizige Ziel für 2004 ist eine Verdoppelung des Umsatzes auf 400 Millionen Franken in diesem Bereich, langfristig soll gar die Milliardenmarke erreicht werden. Bewährt hat sich zudem die Verstärkung des Sortiments um ein Dutzend weitere Markennamen wie Kellogg’s, Red Bull oder Nivea. Der angepeilte Mehrumsatz liegt hier bei 300 Millionen Franken. Noch offen ist, wie sich der Grossverteiler bei den Premium-Produkten zusätzlich profilieren will. Im Herbst werden erste Vorschläge diskutiert.
Die wohl kniffligste Aufgabe im Marketing steht der Migros-Spitze dagegen noch bevor: das Zurückstutzen der wild wuchernden Produktenamen. Damit verbunden wäre ein einheitliches Konzept bei den Verpackungen – bei Eigenmarken zumeist das wichtigste Werbemittel. Konkurrent Coop zum Beispiel deklariert seine eigenen Produkte leicht erkennbar mit dem Coop-Schriftzug, der sich in einem kleinen schwarzen Quadrat befindet. Bei der Migros stehen die Verhandlungen für eine solche Entrümpelungsaktion noch bevor. Ein zähes Ringen ist angesichts der föderalistischen Organisationsstrukturen vorprogrammiert.
Trotz dem anstehenden Redesign: Ein perfekt durchgestyltes Erscheinungsbild wird die Migros auch in Zukunft nicht haben. Doch das erwarten die Konsumenten vom «Dutti»-Konzern gar nicht. Ihre Anforderungen sind viel prosaischer, wie die täglichen Fragen auf der M-Infoline illustrieren: Weshalb gibt es die Urgenta-Kartoffeln nicht im Kilo-Beutel? Wieso passt der rechteckig ausgewallte Pizzateig nicht auf mein Backofenblech? Warum haben manche Picknick-Eier am Dotterrand eine gräuliche Farbe?
Ein anderweitiges Problem hat Migros-Kundin Klara Ulrich aus dem solothurnischen Boningen: «Die Produkte sehen im Regal so gluschtig aus», sagt die Rentnerin, «dass ich meistens noch ein paar Dinge kaufe, die gar nicht auf meinem Einkaufszettel stehen.»