Raimund Gregorius, Lehrer für alte Sprachen in Bern, hält auf der Kirchenfeldbrücke eine Frau vom Sprung in die Tiefe ab. Das Wort, mit dem sie auf seine Frage nach ihrer Herkunft antwortet, weckt eine unbestimmte Sehnsucht in ihm: «Português.» Am nächsten Tag verlässt er Knall auf Fall die Schule und reist über Genf und Paris im «Nachtzug nach Lissabon». Im Gepäck das schmale Buch des fiktiven portugiesischen Autors Amadeu Inacio de Almeida Prado. In Lissabon begibt er sich auf die Spur dieses Autors und Arztes, der einem Geheimdienstoffizier Salazars das Leben rettete und dann gegen die Diktatur kämpfte.
Gregorius’ Versuch, das Leben Prados zu rekonstruieren, wird zur Suche nach sich selbst, seine Reise nach Lissabon zur Reise in die eigenen Möglichkeiten: «Worauf es ankäme, wäre, sich sicher und gelassen, mit dem angemessenen Humor und der angemessenen Melancholie, in der zeitlich und räumlich ausgebreiteten inneren Landschaft zu bewegen, die wir sind. Warum bedauern wir Leute, die nicht reisen können? Weil sie sich, indem sie sich äusserlich nicht ausbreiten können, auch innerlich nicht auszudehnen vermögen, sie können sich nicht vervielfältigen, und so ist ihnen die Möglichkeit genommen, weitläufige Ausflüge in sich selbst zu unternehmen und zu entdecken, wer und was anders sie auch hätten werden können.»
Im Roman ist Amadeu Prado das andere Ich des Raimund Gregorius. Im wirklichen Leben ist Pascal Mercier das andere Ich des Peter Bieri, Schweizer, Philosophieprofessor in Berlin. Ihm ist ein brillanter Roman gelungen, der auf verschiedenen Erzählebenen, in mehreren miteinander verknüpften Handlungssträngen, in einer einfachen, eindringlichen Sprache die Frage angeht, was wir eigentlich auf dieser Welt machen. Dies geschieht derart überzeugend, dass man als Leser immer wieder versucht ist, selber ins Geschehen einzugreifen – Gregorius zum Beispiel daran zu hindern, wieder nach Bern zurückzukehren. Und weil das nicht möglich ist, beginnt man unweigerlich, über die eigenen Lebensmöglichkeiten und verpassten Ausbruchschancen nachzudenken.
Pascal Mercier
Nachtzug nach Lissabon
Hanser Verlag, München, 495 Seiten, Fr. 44.50