«Demokratie ist die Verzweiflung darüber, dass es keine Helden gibt, die sich regieren; und das Befriedigtsein darüber, dass man sich mit ihrem Fehlen abfinden muss.»
Thomas Carlyle

Der Staat, dein Feind und Helfer. Umklammert von Väterchen Schweiz, verliert man die Freiheit, Geld und auch mal die Nerven. Wir stimmen ständig über fast alles ab. Aber sind wir auch frei? (…) Unser Väterchen Staat ist allgegenwärtig und hat uns fest im Schwitzkasten. (…) Gutmenschen und Bürokraten wollen uns belehren, beschützen und ‹bessern›. Von Eigeninitiative ist abzuraten, lieber halten wir uns an Beschwerden, Verbote oder Einsprachen.»

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Offenbar ist die Freiheit im Land durch unseren Staat gefährdet: Wenn man diese polemischen Sätze des Basler Ökonomieprofessors Silvio Borner liest, könnte man glauben, wir seien auf dem besten Weg, sozialistische Verhältnisse wie in Nordkorea einzuführen. «Ein Sozialist will einen Staat, der in die Wirtschaft eingreift», erklärte auch SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli. Und er enttarnte munter weitere Linke. Für Blochers Sprachrohr sind sogar der Präsident wie auch der Direktor des Arbeitgeberverbandes, Rudolf Stämpfli und Peter Hasler, gefährliche Sozialisten.

Die Feindschaft gegenüber dem Staat hat in der Regel drei Motive. Das erste davon ist das wichtigste und stärkste: Im Staat wird hauptsächlich eine Macht gesehen, welche die persönliche Freiheit einschränkt und damit auch die Wirtschaftsfreiheit und die freien Märkte.

Eng verwandt mit diesem Motiv ist zweitens dasjenige der Anarchisten: Auch sie sehen im Staat ein unnötiges, die Freiheit unterdrückendes Zwangsinstrument, aber vor allem zum Schutz des Kapitalismus und der Reichen. Sie nehmen im Gegensatz zu den Anhängern des ersten Motivs an, dass die Menschen in völliger Freiheit durch Solidarität und Gemeinschaft statt durch Wettbewerb ein besseres und gerechtes Leben führten. Noch in den achtziger Jahren war die Feindschaft gegenüber dem Staat vor allem mehrheitlich in der Linken präsent: «Macht aus dem Staat Gurkensalat», so lautete einer der Schlager der 80er-Bewegung. In den neunziger Jahren hat sich das radikal geändert. Seither dominiert die Staatsfeindschaft von rechts, während anarchistische Slogans bloss noch in romantischen Zirkeln zu hören sind.

Das dritte Motiv schliesslich ist das ökonomische. Genau genommen führt es nicht zur Feindschaft gegenüber dem Staat, aber sicher zur Skepsis. Dennoch begründen die meisten Vertreter der Rechten ihre Staatsfeindlichkeit mit ökonomischen Argumenten. Solche beziehen sich hauptsächlich auf Effizienzüberlegungen und Anreize: Bei vollständiger Konkurrenz wäre die Volkswirtschaft insgesamt am effizientesten, was bedeutet, dass jeder Eingriff des Staates zu Wohlfahrtsverlusten führen müsste. Politiker und Staatsbeamte haben zudem nur geringe Anreize, möglichst das Beste für die Allgemeinheit zu tun. Ihre Position und ihr Lohn sind – anders als in der privaten Wirtschaft – weniger gefährdet, wenn sie ihren Job nicht bestmöglich erfüllen, denn sie stehen nicht in Konkurrenz. Zudem haben sie starke Motive, mit ihrer Macht speziellen Interessengruppen in die Hände zu spielen, die sich mit Spenden, Posten oder anderen Wahlstimmen revanchieren können.

Doch eine vollständige Konkurrenz gibt es nur im Lehrbuch, und in vielen Fällen, bei allen Arten von Marktversagen etwa, ist der Einfluss des Staates derart wichtig, dass ohne ihn eine Marktwirtschaft nicht denkbar wäre.

Nun haben das auch die Marktrevolutionäre erkannt. Keiner von ihnen geht so weit, gleich die Abschaffung des Staates zu verlangen. Nach ihnen soll der Staat einfach so wenig Einfluss auf die Wirtschaft nehmen wie möglich. Den Fiebermesser, den sie daher ansetzen, um die Gesundheit der Volkswirtschaft zu beurteilen, heisst Staatsquote. Das ist nichts anderes als der prozentuale Anteil aller Staatsausgaben am Gesamtausstoss der Wirtschaft, gemessen am Bruttoinlandprodukt.

Aus dieser einfachen Grösse leiten die Marktrevolutionäre nun einiges ab: Je höher die Staatsquote ist, desto geringer ist der Bereich der freien Marktwirtschaft, das heisst, desto weniger frei seien die Menschen und desto weniger effizient sei daher auch die Wirtschaft insgesamt. Dies wiederum führe dazu, dass ein Land mit höherer Staatsquote mit einem geringeren Wachstum bestraft werde.

Länder mit einer hohen Staatsquote weisen indes nicht durchwegs ein geringeres Wachstum aus. Die schwedische Staatsquote lag im Jahr 2003 bei 58,2 Prozent, jene der Schweiz nur gerade bei 38,8 Prozent. In den letzten 30 Jahren lag das Wachstum, gemessen am realen BIP, in Schweden aber bei durchschnittlich 2 Prozent pro Jahr, in der Schweiz dagegen bei 1,33 Prozent. Die Schweiz hat nicht nur im Vergleich mit Schweden, sondern auch mit den anderen OECD-Ländern eine der tiefsten Staatsquoten. Über die letzten 30 Jahre liegt das am BIP gemessene Wachstum der Schweiz im Vergleich mit den anderen OECD-Ländern jedoch ebenfalls im untersten Bereich. Etwas undifferenziert könnte man also behaupten, eine tiefe Staatsquote führe zu tieferem statt zu höherem Wachstum – also gerade das Gegenteil der marktrevolutionären Behauptungen. Doch das wäre ebenfalls Unsinn, weil sich ohne weiteres auch Länder finden lassen, die mit einer tiefen Staatsquote ein höheres Wachstum erreicht haben als solche mit einer höheren Staatsquote. Die einzige Erkenntnis daraus: Es gibt keinen
Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Staatsquote.

Doch so schnell geben sich die Marktrevolutionäre nicht geschlagen. Zwei Argumente halten sie den ihre Behauptungen diskreditierenden Fakten entgegen: Erstens würden hier Äpfel mit Birnen verglichen, weil die Quote in jedem Land zum Teil etwas anderes umfasse, und zweitens sei nicht so sehr der absolute Umfang des Staatsanteils an einer Volkswirtschaft entscheidend als vielmehr die Veränderung dieses Umfangs. Nehme die Staatsquote deutlich zu, so die modifizierte Argumentation, führe dies zu wirtschaftlicher Stagnation. Beide Argumente haben zumindest auf den ersten Blick etwas für sich – aber nur auf den ersten.

Um die Staatsquote als Prozentsatz der Staatsausgaben zum BIP zu berechnen, muss erst einmal geklärt sein, was alles zu den Staatsausgaben hinzugerechnet wird. Nach der Definition der OECD zählen dazu die unmittelbaren Ausgaben des Staates von der Gemeinde- bis auf Bundesebene plus die Ausgaben der obligatorischen Sozialversicherungen. Doch das Pensionskassensystem ist in der Schweiz so wenig freiwillig wie etwa die deutsche Rentenversicherung, zählt aber nicht wie diese zu den Staatsausgaben. Ebenso unfreiwillig ist in der Schweiz die Krankenversicherung: Von ihr findet sich in der Staatsquote ebenfalls nichts. Dagegen ist in England das Gesundheitswesen staatlich organisiert, weshalb es in der Staatsquote berücksichtigt wird. Es wird also tatsächlich schwierig, aus Vergleichen der Staatsquoten viel herauszulesen.

Versuchen wir es anders: Um die Bedeutung des Staatsanteils für die Wirtschaftskraft eines Landes zu beurteilen, kann man auch die Steuerbelastung nehmen. Wieder müsste dann gemäss der Aussage der Marktrevolutionäre gelten, dass eine höhere Steuerbelastung mit einem tieferen Wirtschaftswachstum gekoppelt sein müsste. Und wieder lässt sich ein solcher Zusammenhang bei einem Blick auf die Länderdaten nicht finden. Länder wie Schweden, Dänemark, Belgien, Finnland, Österreich, Frankreich, Norwegen, Italien, die Niederlande, Norwegen, Deutschland, Spanien und Grossbritannien haben alle nicht nur eine höhere Steuerbelastung, gemessen in Prozent des BIP, sondern sind in den vergangenen Jahren auch stärker gewachsen. Wiederum lässt sich auch der Umkehrschluss nicht belegen: Eine grössere Steuerquote führt nicht zwingend zu mehr Wachstum. Es besteht schlicht kein Zusammenhang.

Bleibt die Möglichkeit, dass die Zunahme des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft die wahrhaftig gefährliche Sache ist. Tatsächlich hat die Staatsquote der Schweiz von 1970 bis 2003 aussergewöhnlich stark, von 26,1 Prozent auf 38,8 Prozent, zugenommen. Während gleichzeitig die am BIP gemessenen Wachstumsraten im Vergleich zum Ausland besonders tief blieben, könnte nun endlich ein Beleg dafür gefunden worden sein, dass der Staat – zumindest dann, wenn sein Einfluss zunimmt – eben doch von Übel ist. Doch das Argument ist ebenfalls nicht stichhaltig. Das wäre etwa so, wie wenn man behaupten würde, eine Menge Badeunfälle im Sommer führe zu heissem, sonnigem Wetter, bloss weil beides gleichzeitig auftritt. In beiden Fällen werden Ursache und Wirkung vertauscht. Wenn das Wetter heiss ist, baden mehr Leute, und damit steigen auch die Badeunfälle. Wenn wirtschaftliche Krisen auftreten – was sich an einem kleinen BIP-Wachstum zeigt –, sinken die Steuereinnahmen, und die Sozialausgaben steigen. Damit steigt ganz automatisch auch der Anteil der Staatsausgaben am BIP, zudem wird dadurch auch die Staatsschuld grösser.

Auch der Anstieg der Staatsquote in der Schweiz erfolgte als Reaktion auf die Wirtschaftslage. Und nicht umgekehrt. Betrachtet man den Verlauf der Staatsquote genauer, so zeigt sich deutlich, dass diese immer genau während Krisenzeiten deutlich heraufgeschnellt ist, während sie in prosperierenden Jahren, etwa während der achtziger oder Ende der neunziger Jahre, wieder kleiner geworden ist. Allerdings hat sie sich nicht mehr so stark zurückgebildet, wie sie mit der Krise angestiegen war. Auch dieser Effekt besagt nicht, wie das Marktrevolutionäre behaupten, dass der Staat sich im Stillen immer mehr ausbreitet. Was seit den neunziger Jahren ebenfalls mit jeder Krise angestiegen ist und sich danach nicht mehr auf das einstige Niveau zurückgebildet hat, ist die Arbeitslosigkeit. Tatsächlich zeigte sich der grösste Anstieg der Staatsausgaben bei der sozialen Wohlfahrt.

Entscheidend ist schliesslich nicht, wie viel Geld der Staat ausgibt, sondern wofür er es ausgibt, welche Vorteile die Bewohner eines Landes also aus den Leistungen des Staates ziehen. Die Staatsquote sagt nichts über die Qualität des Staates und seine Leistungen aus. Eine hohe Staatsquote kann mit besonderer Lebensqualität und Wachstum zusammengehen, wenn der Staat mit seiner Tätigkeit positiv auf die Wirtschaftsentwicklung eingreift. Eine tiefe Staatsquote eines schlecht funktionierenden Staates wiederum schadet auch der wirtschaftlichen Entwicklung. Kurz: Wichtiger als die Staatsquote ist die Qualität der staatlichen Leistungen.

Direkte Demokratie: Gutes Management seit über 150 Jahren

Einer der Gründe, weshalb sich die Schweiz auf dem absteigenden Ast befinde, sei die direkte Demokratie, behaupten einige Marktrevolutionäre. «Die allgemeine Mitsprache des Volkes oder spezieller Gruppeninteressen wirkt in dem praktizierten Übermass entweder blockierend oder widersprüchlich. Wir sind einfach überreguliert und zum Teil eben auch überdemokratisiert, was nicht nur dem Wachstum, sondern auch der Qualität der Demokratie abträglich wird», sagt beispielsweise Professor Silvio Borner. Hätten wir eine klare, starke Führung, ausgestattet mit der nötigen Macht, wäre alles besser. «Es müssen sich eine oder mehrere Parteien oder eine Gruppe von Politikern dazu aufraffen, im institutionellen Reformprozess eine Führungsrolle zu übernehmen und gegen massive Widerstände durchzuhalten», so Borner. Endlich könnte nicht mehr jeder Banause die angemessene Politik aufhalten. Auch populistische Zeitungen und Medien wären nicht mehr weiter in der Lage, auf die verführbaren breiten Massen Einfluss zu nehmen. (Borner: «All diese politisch privilegierten Minderheitengruppen können sich in einzelnen Volksabstimmungen zum Thema Liberalisierung gegenüber den schlecht informierten und schwach organisierten Mehrheiten von Konsumenten und Steuerzahlern meist durchsetzen.») Die Zeit der Blockaden wäre vorbei. Mit der Schweiz ginge es aufwärts.

Über die schwache Führung klagt selbst Christoph Blocher, der ansonsten stets als Verteidiger der direkten Demokratie auftritt: «Wenn Sie das anschauen, sieht es aus wie ein Hühnerstall, in den der Fuchs eingefallen ist. Es flattern alle herum und wissen nicht, wohin, es geht nicht mehr so weiter.» Und wie geht es denn nach Meinung von Christoph Blocher weiter? Er verweist auf seine Gattin: «Meine Frau sagt, es wäre doch besser, es würden einmal diejenigen regieren, die wissen, wie man es macht, und die es dann auch machen. Es kann ja auch nicht viel Schlimmes passieren, es gibt ja schliesslich noch das Referendum. Diese Frage hat sie ohne grossen gemeinsamen Zeitplan aufgeworfen. Aber die Grundsatzfrage liegt im gemeinsamen Drehbuch.» Wen hat Frau Blocher da bloss mit jenen gemeint, die regieren sollten, weil sie wissen, wie man es macht?

Tatsächlich hat die Schweiz unabhängig von den Personen, welche die Ämter bekleiden, nur eine schwache Staatsspitze. Dazu Professor Borner: «Das grösste Problem liegt darin, dass das schweizerische System eine solche Führungsrolle stark erschwert oder gar verunmöglicht. Sowohl unsere Exekutive wie unsere Legislative sind schwach, und jeder Entscheid kann einzeln an der Urne wieder angefochten werden.»

Vor allem per Referendum ist es Interessengruppen immer wieder möglich, geplante Gesetze zu sabotieren. Das stets drohende Referendum hat zudem eine weit gehende Kompromisskultur entstehen lassen. Schon bei der Ausarbeitung neuer Gesetze wird jeweils mittels Vernehmlassungsverfahren bei allen betroffenen Interessengruppen abgeklärt, wer gegen Einzelheiten etwas einwenden könnte, wo Befindlichkeiten und allfällige Sonderwünsche sind. Über die Möglichkeit der Volksinitiative können noch Interessen durchgesetzt werden. Fürwahr: Nirgends wird so wie im Schweizer System, das auf allen Ebenen auf Machtbrechung angelegt ist, die Möglichkeit verhindert, eine starke und allein handlungsfähige Staatsspitze zu etablieren.

Und genau das ist das Beste an der direkten Demokratie! Nirgendwo auf der Welt können der potenziellen Willkür der Mächtigen bessere Instrumente entgegengestellt werden. Was für ein glückliches und freies Volk, das in einer Art regiert wird, dass es seine Herrscher gar nicht gross wahrnimmt und viele diese daher kaum kennen. Was für eine liberale Staatsform! Einen mächtigen Diktator an der Spitze würde jeder kennen, sein Bild würde sich in jeder Bäckerei finden. Nicht in erster Linie aus Achtung, sondern oft, um die Behörden gnädig zu stimmen. So ist es noch immer in vielen Ländern der Welt.

Wie ein schlimmes Virus schlummert das Bedürfnis nach starker Führung in den Menschen. Natürlich denkt dabei niemand an einen Despoten, der Traum dreht sich vielmehr um eine weise, gerechte Führung, die das Ganze im Auge hat und über dem unappetitlichen Kleinkram einander widerstrebender Interessen steht. Doch woher denn sollen solch weise Führer plötzlich auftauchen? Und wer steht wirklich über den Interessen?

Am heftigsten gegen die direkte Demokratie wenden sich vier Wirtschaftsprofessoren: Walter Wittmann, Silvio Borner, Thomas Straubhaar und Aymo Brunetti. Der zuletzt Genannte äusserst sich allerdings seit ein paar Jahren kaum mehr zu diesem Thema. Das liegt daran, dass er als offizieller Vertreter des Bundes in Wirtschaftsfragen beim Seco schlecht gegen seinen eigentlichen Arbeitgeber, nämlich die Bevölkerung der Schweiz, argumentieren kann.

Dass ausgerechnet Wirtschaftsprofessoren sich für eine stärkere Zentralisierung der Macht aussprechen, ist eigentlich verblüffend. In diesem Fach gilt Macht in Märkten meistens als Quelle von Ineffizienz. Wer da über zu viel gesicherte Macht verfügt, hat weniger Anreize zur Effizienz und zu viele Anreize, um die Konsumenten über hohe Preise auszubeuten. Für den
Bereich der Politik gilt das genauso: In ihrer Macht nur schwer begrenzbare Politiker haben ebenfalls mehr Möglichkeiten und Anreize, die Bevölkerung zu ihren eigenen Gunsten oder ihres Umfeldes auszubeuten, als in einem System, das die Position jedes Amtsträgers bei schlechter Arbeit ständig bedroht und seine Entscheidungsgewalt einschränkt.

Keiner der Kritiker der direkten Demokratie fordert allerdings offen eine aufgeklärte Diktatur. Im Vordergrund steht viel eher die Abschaffung der direktdemokratischen Möglichkeiten. Die direkte Demokratie soll durch eine rein repräsentative ersetzt werden, wie sie die Länder um uns herum kennen.

Tatsächlich ist die Machtfülle der Regierung in einer repräsentativen Demokratie grösser als in einer direktdemokratischen. Während ihrer Amtszeit kann die Partei, die über die Mehrheit verfügt, in der Regel weitgehend frei Gesetze erlassen und ihre Politik durchsetzen. Zahltag ist erst der Wahltag.

Warum eine repräsentative Demokratie weniger solcher Nachteile haben soll, wie sie die Professoren der direkten Demokratie vorwerfen, ist schon theoretisch unverständlich. Alles, was sie als Mängel der direkten Demokratie bezeichnen, tritt in einer repräsentativen Demokratie noch verschärft auf. Interessengruppen zum Beispiel finden sich in jeder Gesellschaft. In der repräsentativen Demokratie ist es für diese viel einfacher, Einfluss zu nehmen, als in einer direkten. Hier müssen sie nur genügend Parlamentarier überzeugen, gewinnen oder kaufen – und nicht die ganze Bevölkerung.

Geradezu überwältigend sind die Resultate für die Schweiz aber, wenn man darauf schaut, wie sich das System der direkten Demokratie in der Praxis bewährt. Schon ein oberflächlicher Blick auf die repräsentativen Demokratien um unser Land herum macht deutlich, dass es um die These, dort würde dem Allgemeininteresse besser zum Durchbruch verholfen, nicht gut steht. Die Schweizer haben ihr Land so bestellt, dass es im Vergleich zu den Ländern rundherum selbst wirtschaftlich deutlich freier ist. Sogar die stockkonservative amerikanische Heritage Foundation zählt die Schweiz Jahr für Jahr zu den liberalsten Ländern der Welt.

Doch damit nicht genug. Mit Gebhard Kirchgässner, Lars Feld und Marcel Savioz haben sich drei andere Ökonomieprofessoren die Mühe gemacht, die Vorwürfe gegen die direkte Demokratie ihrer Berufskollegen mit Fakten und Studien zu vergleichen. Die Resultate sprechen für sich: Wo direktdemokratische Verhältnisse vorherrschen, ist die Steuermoral höher – es werden also weniger Steuern hinterzogen –, was für ein grösseres Verantwortungsbewusstsein der Bürger spricht: Man fühlt sich stärker als Teil des Staates. Die Staatsausgaben werden eher im Sinne der Bewohner getätigt, die öffentliche Verschuldung ist geringer und die Kontrolle der Ausgaben höher. Grössere Mitbestimmung der Bürger führt zudem auch zu einer höheren Wirtschaftsleistung. Schliesslich sind die Menschen auch umso glücklicher, je stärker direktdemokratische Instrumente ausgebaut sind.
Alles spricht schliesslich dafür, dass die Kritik am System der direkten Demokratie letztlich Ausdruck des Frusts der Kritiker bleibt, dass ihre Rezepte an der Urne auf zu wenig Resonanz stossen. «Die von uns und anderen vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Reformen widersprechen in wichtigen Punkten kürzlich getroffenen Entscheiden des Souveräns», beschwert sich etwa Silvio Borner. Jeder hat Vorstellungen davon, was richtig und was falsch ist. Diese aber absolut zu setzen, ist kein Ausdruck einer wahrhaft liberalen Gesinnung.

Die Schweiz ist, wenn es um wirtschaftliche Reformen geht, nicht langsamer als andere Länder – die hiesige wirtschaftliche Freiheit verweist sogar auf das Gegenteil. Die direkte Demokratie ist ein cleveres Frühwarnsystem: Bereits die glaubwürdige Ankündigung einer Initiative oder eines Referendums führt zu einer Auseinandersetzung mit dem Anliegen. Und zwar nicht nur bei allen betroffenen staatlichen Stellen oder Verbänden, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit.

In einer repräsentativen Demokratie existiert nichts Entsprechendes, weil dort nur die Politiker und ihre unverbindlichen Gesamtprogramme zur Wahl stehen. Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz hingegen findet in einer Art statt, dass sie weit stärker in der Bevölkerung verankert ist, wodurch sie auch weit öfter für fair gehalten wird. Selbst die Kompromisssuche unter allen wesentlichen Interessengruppen bewährt sich. Denn diese werden in der Folge weniger Obstruktion gegen gemeinsam gefundene Lösungen betreiben. Die geringe Streikrate und der soziale Friede in der Schweiz sind Zeugnis dafür. Die breite Akzeptanz der Ergebnisse dieses Prozesses wirkt zudem der Unstetigkeit entgegen, weil neue Parlamentsmehrheiten nicht die ganze Politik ändern können. Stetigkeit ist ohnehin kein Wert an sich. Wenn eine Bevölkerung angesichts neuer Umstände eine andere Politik wünscht, sollte dieser Wunsch unabhängig davon Beachtung finden, ob nun zuvor eine andere Ansicht vorgeherrscht hat.

Bleibt das Argument der Verführbarkeit des Volkes. Seit Urzeiten wurde immer wieder gegen die Demokratie argumentiert, das Volk sei dafür zu dumm. In keinem anderen Argument zeigt sich die Arroganz derjenigen, die besser zu wissen glauben, was für die Bevölkerung gut ist, als jene selbst, deutlicher. Nichts hat sie deutlicher widerlegt als die Erfolgsgeschichte der schweizerischen direkten Demokratie. Die Bevölkerung hat Vorlagen gegen die Wünsche der wesentlichen Interessengruppen und die Parolen der Mehrheit der Medien angenommen; am bekanntesten ist hier die Abstimmung zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Sie hat sogar gegen eigene Freizeit – fünf Wochen bezahlte Ferien – oder für höhere Ausgaben gestimmt, wenn die damit verfolgten Absichten überzeugt haben, so etwa bei der Einführung der Autobahnvignette oder der Schwerverkehrsabgabe (LSVA). Die Schweizer zeigen gerade damit einen ausgeprägten Bürgersinn, indem sie das Allgemeininteresse zuweilen vor das eigene Portemonnaie stellen. Generell lässt sich anhand des Abstimmungsverhaltens der Schweizer weder zeigen, dass Reformen chancenlos bleiben, noch, dass Kosten jederzeit umgangen werden, Steuern stets vermieden oder erhöht werden, der Sozialstaat ständig aus- oder abgebaut wird oder Anliegen einer politischen Richtung permanent besonders bevorzugt werden.

Geht die Mehrheit des Volkes aber über alles? Gibt es nicht auch so etwas wie die Diktatur der Mehrheit? Aus liberaler Sicht braucht die Demokratie Grenzen: Minderheitsrechte sollen wie auch Menschenrechte ganz allgemein nicht durch die Mehrheit missachtet werden dürfen. Doch hier haben die Gründerväter des Landes vorgesorgt: Die Schweiz ist keine reine direkte Demokratie. Das Volk kann nicht alles beschliessen. Im System sind Blockaden eingebaut, die Minderheiten und Freiheiten schützen. Dafür sorgt zum Beispiel die Verfassung, auch wenn ihre Bestimmungen weniger gut einklagbar sind als in anderen Ländern. Bevor das Volk entscheidet, beraten zwei Parlamentskammern jede Vorlage, wovon nur die eine, der Nationalrat, die Mehrheit repräsentiert. Die andere, der Ständerat, repräsentiert die Kantone, was – wie der Föderalismus generell – allein schon für einen Schutz der Minderheiten sorgt. Zudem lässt sich über Gerichtsurteile auch in der Schweiz nicht abstimmen, und internationales Recht, zu dessen Einhaltung sich die Schweiz vertraglich verpflichtet hat, begrenzt die Möglichkeit einer Mehrheitswillkür.

Keine Staatsform kann letztlich mit Sicherheit garantieren, dass wirtschaftlicher Fortschritt, Freiheit, Menschenrechte oder sozialer Ausgleich gewährleistet bleiben. Solches hängt immer von der Bereitschaft einer Mehrheit ab, solche Allgemeingüter zu tragen und dafür fortwährend zu kämpfen.

Die Grenzen des Staates

Klar, unser Land hat wie zu jeder anderen Zeit und wie jedes andere Land auch Probleme. Pessimismus und Untergangsszenarien zu widersprechen, heisst nicht, wir seien sozusagen am Ende der Geschichte angelangt. Herausforderungen werden sich auch künftig nicht von selbst lösen. Die Botschaft dieses Buches lautet nicht, die Hände in den Schoss zu legen. Nicht weil wir heutzutage besonders gefährdet wären – der politische Kampf um wirtschaftlichen Fortschritt, um möglichst kluge Rahmenbedingungen, um sozialen Ausgleich, um Freiheit und gegen Willkür ist nie definitiv gewonnen und daher nie abgeschlossen. Alle demokratischen, rechtlichen, sozialen Sicherungsnetze helfen nichts mehr, wenn ein grosser Anteil der Bevölkerung den Grundkonsens nicht mehr mitträgt.

Noch funktioniert unser Staat. Aber dass er es tut, ist von solch unsicheren, schwer definierbaren und noch schwerer fassbaren Dingen abhängig wie der Kultur, die dieses Land mehr oder weniger eint. Ein Land, das weder durch Ressourcen noch durch seine verschiedenen Sprachen, noch durch seine Geschichte – 150 Jahre sind nicht viel – erklärbare gemeinsame Interessen hat. Diese Kultur gewährleistet bisher, dass die Bewohner sich als Teil eines Ganzen verstehen, dem sie sich mehr oder weniger auch verpflichtet fühlen. Sie hat bisher so etwas wie einen Gemeinschafts- oder eben Bürgersinn hervorgebracht.

Und gleichzeitig verdeutlicht dies auch die Grenzen des Staates. Man kann von ihm nichts erwarten, wenn der Grundkonsens fehlt. Das war den Gründern der modernen Schweiz nach dem Sonderbundskrieg im vorletzten Jahrhundert auch bewusst, denn genau deshalb haben sie sich derart geschickt um Institutionen bemüht, die zu einem möglichst hohen Einbezug all der vielen auseinander driftenden Interessen führen. Es ist genau dieses historisch gewachsene Werk, das Marktrevolutionäre heute als mangelhaft, ineffizient und nostalgisch verurteilen: der Einbezug einer grossen Anzahl von Interessen bis hin zur Möglichkeit, dass der Hinterste und Letzte bei Referenden und Abstimmungen auch noch seinen Senf dazugeben kann.

Die Marktrevolutionäre haben Recht: Wenn Interessengruppen sich auf gar nichts mehr einlassen würden, was nicht unmittelbar ihrem Vorteil diente, wenn die Staatsverschuldung ins Unermessliche wachsen und wenn die Umverteilung derart stark überhand nähme, dass jede wirtschaftliche Leistung und jeder Kapitaleinsatz mehr bestraft als belohnt würden, dann stünde das Land am Abgrund. Die Frage ist nur, wie das geschehen könnte. Denn solche Entwicklungen könnten sich nur einstellen, wenn sich bei niemandem mehr das geringste Verantwortungsgefühl gegenüber dem Ganzen finden liesse.

Für jene, die – wie es die Marktrevolutionäre tun – ihre Analyse verabsolutieren, ist es nur konsequent, die direkte Demokratie und die Kompromisssuche abzulehnen. Gelänge dieser Abschied vom bisherigen Suchprozess nach gemeinsamen Lösungen, wäre zu erwarten, dass sich nach und nach sämtliche Parteien dem Prozess ebenfalls entzögen und kompromisslos auf ihre Interessen pochten. Wovor die Marktrevolutionäre warnen, drohte dann als Fluch der sich selbst erfüllenden Prophezeiung tatsächlich einzutreten. Doch auch dafür stehen die Chancen zum Glück noch immer schlecht. Zumindest bisher.

Markus Diem Meier

Der Autor (Jahrgang 1963) hat an der Universität Zürich Volkswirtschaftslehre und Geschichte studiert und schreibt als freischaffender Wirtschaftsjournalist für grosse Schweizer Publikationen wie BILANZ, «Weltwoche», «Facts» oder «Tages-Anzeiger». Zudem ist er als Dozent für Volkswirtschaftslehre an Fachhochschulen in Bern und Zürich tätig.

Markus Diem Meier: Was heisst hier liberal?
Warum die Untergangspropheten falsch liegen und die Schweiz zu beneiden bleibt Verlag Rüegger, 191 Seiten, Fr. 39.–, erhältlich im Buchhandel.

Gekürzte Fassung des Kapitels «Staat und Demokratie» aus dem Buch «Was heisst hier liberal?» von Markus Diem Meier (siehe Seite 61). Letzter Teil des Buchvorabdrucks.