«Unglücklicherweise passen die Fakten nicht zur Theorie.»
Alexis de Tocqueville
Das schweizerische Erfolgsmodell basiert auf einem massvollen Staat mit freier, prosperierender Wirtschaft. Es gibt keinen vernünftigen Grund, davon abzuweichen! Wir sind uns bloss in den letzten 20 Jahren untreu geworden. Wir sollten uns wieder auf unser liberales Erbe besinnen: auf Eigenverantwortung, Wettbewerb, offene Märkte, freie Preisbildung und stabile Geldpolitik, auf Fleiss, Zuverlässigkeit, auf individuellen Gewinn statt Umverteilung! Es sind einfache und wohl gerade deshalb so brauchbare Tugenden.»
Mit diesen Worten hat sich Christoph Blocher, Bundesrat und treibende Kraft der Schweizerischen Volkspartei (SVP), am 20. Mai 2005 an schweizerische Unternehmer gewandt, die in Deutschland produzieren. Im Kern seiner Rede stand die Warnung, dass die Schweiz auf dem besten Wege sei, demnächst ebenso weit vom Pfad der marktwirtschaftlichen Tugenden abzukommen wie unser Nachbar im Norden.
Blochers Pessimismus
Das Kapitel «Mythos Wirtschaftskrise» (siehe BILANZ 17/2005) hat gezeigt, dass sich die Behauptung nicht stützen lässt, die Schweiz habe wegen schlechterer Strukturen seit 20 oder 30 Jahren ein zu geringes Wachstum gehabt. Bedeutet das nun, dass die Strukturen egal sind, dass Blocher (und andere Marktrevolutionäre) Unrecht haben, wenn sie behaupten, offene Märkte und effizientere Strukturen würden den Wohlstand mehren? Nein, das bedeutet es nicht. Offene, gut funktionierende Märkte können vieles leisten. Und Strukturen können immer verbessert werden.
Nur: Ist Blochers Pessimismus berechtigt? Ist die schweizerische Wirtschaftspolitik tatsächlich so reformfeindlich? Und was wären die geforderten marktwirtschaftlichen Reformen überhaupt im Stande zu bewirken?
In seinem im Frühjahr 2005 erschienenen Büchlein «Mut zum Aufbruch, 10 Jahre danach» hat sich der Berner Ökonomieprofessor Ernst Baltensperger die Mühe gemacht, die im gleichnamigen Weissbuch aus dem Jahr 1995 gemachten Reformvorschläge mit dem zu vergleichen, was in den zehn Jahren seither an Reformen verwirklicht wurde. Erinnern wir uns zurück: Schon die Weissbücher der neunziger Jahre formulierten im Wesentlichen die Anklage, die Schweiz leide darunter, dass Reformen kaum möglich seien, weshalb die wirtschaftliche Zukunft des Landes in Gefahr sei. Der 2005 zurückblickende Ernst Baltensperger war kein Unbeteiligter dieser Debatten: Als Mitunterzeichner des ersten Weissbuchs aus dem Jahr 1991 gehörte er ebenfalls zu den Marktrevolutionären des vergangenen Jahrzehnts. Dass er die Einschätzungen der Weissbuch-Autoren im Nachhinein in seinem neuen Buch lobt, ist daher wenig überraschend. Umso eindrücklicher ist es andererseits, gerade bei ihm zu lesen, wie viel in den letzten zehn Jahren tatsächlich reformiert wurde.
So sind etwa der Telekommunikations- und der Postbereich der heutigen Schweiz nicht mehr wiederzuerkennen. Anfang der neunziger Jahre existierte noch das PTT-Monopol, ein staatlicher Betrieb, dem sowohl das ganze Telefonwesen wie das Postwesen oblagen. Konkurrenzanbieter waren in diesen Bereichen nicht zugelassen. Heute konkurrieren eine ganze Reihe von Telefon- und Postanbietern, die Swisscom ist heute eine private Aktiengesellschaft (wenn auch mit einer Aktienmehrheit des Bundes), und der Monopolbereich der Post schrumpft zusehends. In allen einst für andere Anbieter geschlossenen Bereichen herrscht heute starke Konkurrenz. Marktrevolutionäre lassen sich durch diesen Wandel nicht beeindrucken – auch Ernst Baltensperger nicht –, sie verweisen kritisch darauf, dass eine geringe Aktienmehrheit der Swisscom noch immer dem Staat gehört oder dass diese Gesellschaft ihre Konkurrenz etwa durch ihren ererbten Besitz der Leitungen zu den Haushalten (die so genannte «letzte Meile») noch immer diskriminieren kann. Und sie monieren, dass selbst ab 2006 die Post für Pakete bis 100 Gramm ihr Monopol noch bewahren kann. Im Vergleich zu den bereits erfolgten marktwirtschaftlichen Reformen konzentriert sich diese Kritik – um den berühmten Vergleich mit der Sicht auf das halb volle oder das halb leere Glas zu bemühen – auf ein paar Tropfen im weitgehend geleerten Glas.
Das Post- und Telekommunikationswesen ist nur das vielleicht augenfälligste Beispiel für die tatsächlich erfolgten Reformen. Fast jeder Bereich, von dem es einst als ausgemacht galt, dass er nicht über freie Märkte organisiert werden könne, steht mittlerweile seit Jahren unter dem Druck, in irgendeiner Art liberalisiert oder privatisiert zu werden bzw. sich auf einem offenen Markt zu bewähren. Das gilt selbst für das Schulwesen: insbesondere für die Universitäten und die (neu entstandene) Fachhochschullandschaft. Es gilt aber genauso für das Bahnwesen, die Verkehrsinfrastruktur, das Gesundheitswesen oder das Elektrizitätswesen. Jeder dieser Bereiche hat in den letzten zehn Jahren einen gewaltigen Wandel durchgemacht. Und in jedem sind auch eine Menge weiterer Änderungen in Planung.
Um den Konkurrenzdruck auf den inländischen Märkten zu stärken, hat die Schweiz im letzten Jahrzehnt einiges getan, um Preisabsprachen (Kartelle) zwischen Anbietern zu Lasten von Konsumenten zu unterbinden und um den Handel auch über die Kantonsgrenzen hinweg zu erleichtern. Dem ersten Zweck dient das Kartellrecht, das in den neunziger Jahren (gegen die Stimmen der SVP) vollständig revidiert und zudem noch im Jahr 2004 weiter verschärft wurde. Dass in der Schweiz vor allem im Bereich der Binnenwirtschaft (schwergewichtig beim Gewerbe) durch offene oder stillschweigende Preisabsprachen ein weit höheres Preisniveau als im Ausland vorherrscht, gilt als ausgemacht. Für das ganze Land nachweisen lässt es sich hingegen kaum. Seit nun das neue Kartellrecht gilt, kann die Wettbewerbsbehörde Beteiligte an einem Kartell direkt büssen. Eine Kronzeugenregelung wie bei der Bekämpfung der Mafia in Italien soll ausserdem Kartellmitgliedern einen Anreiz bieten, ihre Mittäter zu verraten. So kommen sie mit einer geringeren Strafe oder sogar straffrei davon.
Dem grösseren Konkurrenzdruck zwischen Anbietern verschiedener Kantone – dem zweiten Zweck – dient das so genannte Binnenmarktgesetz. Dieses wurde ebenfalls in den neunziger Jahren erlassen und soll nun gleichfalls revidiert und damit verschärft werden. Kantonale Regelungen – wie kantonsspezifische Zulassungsbewilligungen oder Zeugnisse – können potenziell bessere bzw. effizientere Konkurrenten aus anderen Kantonen fernhalten und somit den Wettbewerb ebenfalls. Mit einem zusehends schärferen Binnenmarktgesetz soll hier Gegensteuer gegeben werden.
Auch wenn die Marktrevolutionäre stets noch ein Haar in der Suppe finden werden und wenn die reale Schweiz noch immer nicht ihrer perfekten Marktwelt entspricht, ist der Befund dennoch überdeutlich:
Alleine die obige Aufstellung an Vorstössen, neuen Gesetzen und Liberalisierungsbestrebungen widerlegt die Behauptung von einer reformunfähigen Schweiz.
Hohe Preise: Die Löhne
«Hochpreisinsel Schweiz. Es sind vor allem die Mieten und die Löhne, welche die Preise in der Schweiz in die Höhe treiben», schreibt die «HandelsZeitung» Mitte Juni 2005. Als weiterer Beleg für die grundschlechten Strukturen der Schweiz wird oft auch das hohe Preisniveau angeführt und dieses auch gleich noch auf ein behauptetes zu hohes Lohnniveau zurückgeführt. Dieses sei für das Land insbesondere deshalb schädlich, weil die schweizerischen Unternehmen schliesslich im internationalen Wettbewerb mit Firmen konkurrieren müssten, die in ärmeren Ländern weit geringere Löhne bezahlen müssten.
Das Schweizer Fernsehen widmete diesem Thema am 25. Februar 2005 eine «Arena»-Diskussionssendung mit dem Titel «Preise runter – Löhne runter?» Zu Beginn der Sendung schien für das Publikum, einige Teilnehmer und den Moderator klar zu sein, dass das Land ein Problem wegen zu hoher Löhne hat. Die Bemerkung des Freiburger Ökonomen Reiner Eichenberger sorgte dann für einige Verwirrung: «Die Schweiz hat keine hohen Löhne. Die Schweiz hat tiefe Löhne, wenn man es richtig anschaut.» Die Verblüffung wurde noch grösser, als sich zeigte, dass diese Ansicht von keinem der anwesenden Ökonomen bestritten wurde, egal auf welcher politischen Seite diese auch standen. Tatsächlich hat die Schweiz im internationalen Vergleich tiefe Löhne – wenn man es richtig anschaut. Tun wir das.
Eine oberflächliche Betrachtung zeigt, dass die Schweizer Löhne zu den weltweit höchsten gehören. In einer Studie der Credit Suisse erscheint die Schweiz gemessen am Lohn, den die Arbeitnehmer (pro Stunde) ausbezahlt bekommen, an dritter Stelle hinter Dänemark und Norwegen. In einer Untersuchung der UBS, in der statt Länder Städte verglichen werden, erscheint Zürich hinter Kopenhagen als die Stadt mit den zweithöchsten Löhnen, Basel folgt auf Platz drei, Genf auf Platz fünf und Lugano auf Platz sechs. Die UBS-Studie vergleicht zudem auch noch die Preise in den verschiedenen Städten. Auch hier ragen die Schweizer Städte besonders hervor: Zürich und Basel belegen gleich die ersten beiden Plätze, darauf folgt Luxemburg und auf Platz vier und fünf Genf und Lugano. Bis hierher deutet alles darauf hin, dass die These eben doch stimmen könnte, dass die Schweiz zu hohe Löhne hat und deswegen auch zu hohe Preise.
Für ein Unternehmen zählt jedoch nicht, was der Beschäftigte in der Lohntüte hat, sondern was für ihn insgesamt hingeblättert werden muss, das heisst, es kommt auch auf die Lohnnebenkosten an. Dazu gehören die Sozialleistungen, aber auch alle weiteren Arten von Zahlungen und Kosten, die das Unternehmen für einen Arbeitnehmer übernimmt, vom Handy oder Wagen für den Privatgebrauch bis zu den übernommenen Verpflegungskosten. Schweizer und Deutsche mögen sich darin einig sein, dass die Schweizer am Ende des Monats bei gleicher Beschäftigung mehr verdienen. Doch Unternehmer müssen für Arbeitnehmer in Deutschland wegen der Lohnnebenkosten dennoch mehr hinblättern. Werden die Lohnnebenkosten unter den OECD-Ländern verglichen, erscheint die Schweiz gemäss derselben Credit-Suisse-Studie erst an achter Stelle.
Ob ein Lohn ökonomisch gesehen zu hoch oder zu gering ist, bemisst sich aber nicht im Vergleich mit Löhnen, die in anderen Ländern oder in anderen Unternehmen bezahlt werden, sondern daran, in welchem Verhältnis er zur Leistungsfähigkeit der Arbeit steht, für die er bezahlt wird. Ein einfaches fiktives Beispiel verdeutlicht das: Ist ein Beschäftigter des Unternehmens Alphons AG in der Lage (auch unter Zuhilfenahme von technischen Hilfsmitteln), in einer Woche 1000 Stück von einem Gut herzustellen, und ein Beschäftigter der Konkurrenzfirma Bruno AG schafft es nur auf 100 Stück desselben Verkaufsgutes, so können die Beschäftigten der Alphons AG problemlos bis zum Zehnfachen dessen verdienen, was die Bruno AG ihren Arbeitnehmern bezahlt: Die Alphons AG würde immer noch günstiger produzieren. Die sinnvolle Grösse für Lohnvergleiche sind daher die so genannten «Lohnstückkosten», das ist der Betrag, den ein produziertes Stück an Lohn kostet.
Bei den international handelbaren Gütern steht die Schweiz hier gut da, die Produktivität der Schweizer Wirtschaft gehört zu den höchsten der Welt, was insbesondere für die Industrie und den Exportsektor generell gilt. Auch bei der Entwicklung der Lohnstückkosten kommen die Schweizer Unternehmen gut weg. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre haben diese gemäss der Credit-Suisse-Studie im Vergleich zu den wichtigsten Konkurrenten deutlich weniger zugelegt. Die Studie hat zudem die Entwicklung der Arbeitskosten in einer grösseren Anzahl von Industrieländern von 1980 bis 2003 untersucht und kommt dabei zum interessanten Schluss, dass die Schweiz hier nach Japan die geringste Zunahme aufweist. Die oben erwähnte langfristige reale Aufwertung des Schweizer Frankens hat den Schweizer Exporteuren keine andere Wahl gelassen, als ihren Vorteil über eine grössere Produktivität zu suchen, während andere Länder jeweils zu Gunsten ihrer Unternehmen die Währung abwerten konnten.
Die Schweizer Arbeitsmärkte verfügen noch über eine Reihe zusätzlicher wichtiger Vorteile, welche die scheinbare Höhe der Lohnkosten weiter relativieren: In der Schweiz wird pro Woche länger gearbeitet als in den meisten anderen Ländern, dasselbe gilt für die Dauer der Erwerbszeit – nur in Schweden arbeitet unter den OECD-Ländern ein höherer Anteil an 50- bis 64-Jährigen. Überhaupt ist mit 79 Prozent der Anteil der Arbeitenden an der erwerbsfähigen Bevölkerung ausserordentlich hoch. Zum Vergleich: Die EU hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, diese Quote in ihren Ländern bis 2010 auf 70 Prozent zu steigern. Zudem sind die Schweizer Arbeitsmärkte sehr flexibel – anders als in den umliegenden Ländern bleiben Regelungen zum Arbeitsverhältnis weitgehend den Unternehmensführern und Arbeitnehmern der betroffenen Betriebe direkt überlassen. Schliesslich hat sich in der Schweiz ein aussergewöhnlich stabiler Arbeitsfriede etabliert – Streiks und Aussperrungen gibt es im Vergleich zu den meisten anderen Ländern nur äusserst selten.
Die pauschale Behauptung, die Schweiz bezahle generell zu hohe Löhne, ist also falsch. Dennoch hat das hohe Preisniveau auch etwas mit den Löhnen zu tun. Während bei international handelbaren Gütern die Löhne der Produktivität entsprechen müssen, damit ein Unternehmen im Export überlebensfähig bleiben kann, gilt das nicht für Dienstleistungen und Güter, die sich kaum international handeln lassen, wie Haarschnitte beim Friseur, eine Reparatur der Heizung oder ein frisches Brötchen beim Bäcker. Und wirklich: Haarschnitt, Reparatur und Brötchen kosten in der Schweiz deutlich mehr als eine ebenso gute Leistung in einem anderen Land mit tieferen Löhnen. Das liegt daran, dass sich das Lohnniveau in diesen nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Branchen stärker am Durchschnitt des Lohnniveaus im Land orientiert als am Vergleich über die Länder hinweg: Ein Schweizer Friseur könnte mit dem Lohn seines chinesischen Kollegen kaum überleben. Da solche Güter und Dienstleistungen nicht grenzüberschreitend gehandelt werden können, besteht hier auch wenig Lohndruck. Reiche Länder, deren hohe Löhne auf eine produktive Exportwirtschaft zurückgehen, haben stets im Vergleich dazu weniger produktive Bereiche mit (im internationalen Vergleich) relativ hohen Löhnen. Deshalb haben reiche Länder stets auch ein relativ hohes Preisniveau. Diese Gesetzmässigkeit nennen die Ökonomen den Balassa-Samuelson-Effekt. Dieser tritt ganz unabhängig davon auf, ob das Land nun strukturelle Schwächen hat oder nicht. Ein hohes Preisniveau taugt daher für sich genommen nicht als Beleg für solche.
Da die hohen Löhne im Land kein generelles Problem für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Unternehmen sind, bleibt die Frage, welcher Effekt nun überwiegt. Können wir uns dank hohen Löhnen mehr oder dank hohen Preisen weniger leisten als andere? Eine klare Antwort liefert die Studie der UBS zu Löhnen und Preisen: In Zürich konnte man sich für einen durchschnittlichen Nettostundenlohn mehr kaufen als in jeder anderen Stadt. Auf Platz zwei folgt Basel, dann Luxemburg und auf Platz vier und fünf wieder die Schweizer Städte Genf und Lugano.
Dies zeigt: Selbst die hohen Preise und Löhne eignen sich nicht als Beleg für Behauptungen, die Strukturen der Schweizer Wirtschaft seien in dramatisch schlechtem Zustand. Dennoch wäre es falsch, aus diesen Überlegungen zu schliessen, dass im Bereich der Preise alles zum Besten bestellt wäre.
Die Pervertierung der Marktidee
Selbst unter den Marktrevolutionären gibt es nur wenige, die im Fall von Kartellen obrigkeitliche Eingriffe zu deren Verhinderung bereits als schädliche Einmischung des Staates ins freie Unternehmertum brandmarken. Einer, der das allerdings tut, ist Christoph Blocher. In der Debatte zur Verschärfung des Kartellrechts im Herbst 2002 waren die geforderten Massnahmen gegen Absprachen für ihn – damals noch als Nationalrat – nichts anderes als «Eigentumsbeschränkungen». Dass diese Einschränkungen im Sinne eines funktionierenden Wettbewerbs sind, liess er nicht gelten: «Wir (gemeint ist der Nationalrat) kommen jetzt als die grossen Retter der freien Marktwirtschaft! Dabei bedeutet die freie Marktwirtschaft ein einziges Recht, nämlich eine freie Wirtschaft zu haben, ohne Eingriffe des Staates.» Jeder Anbieter – auch ein Arbeitnehmer, der sein Können anbietet – wird durch eine bessere Konkurrenz, neue Verfahren und neue Erkenntnisse «enteignet», denn andere werden seinen Platz einnehmen, wenn er sich nicht mitentwickelt. Seine Produktionsstätte wie auch sein Wissen werden ansonsten von der Marktentwicklung entwertet. Dieser Druck gerade generiert die dynamische Kraft von funktionierenden Märkten, die zu Entwicklung und mehr Möglichkeiten führt. Aber genau deswegen hat kein Anbieter ein Interesse an Konkurrenz. Damit diese aufrechterhalten bleibt, muss daher eine äussere Kraft eingreifen: der Staat. Eine freie Marktwirtschaft einfach als Markt ohne Staatseinfluss zu definieren, führt also zu einem logischen Widerspruch.
Die Argumentationsweise von Blocher zum Kartellgesetz zeigt exemplarisch, was gemeint ist, wenn von einer Ideologisierung eines ökonomischen Modells, jenes der «vollkommenen Konkurrenz», die Rede ist: Das Marktideal mit seinen vermeintlichen Effizienz- und Wohlstandsvorteilen wird auch dann beschworen, wenn diese Vorteile gar nicht zum Tragen kommen können. Kartelle mindern den gesellschaftlichen Wohlstand, die Effizienz, und sie behindern wirtschaftliche Entwicklung.
Ein anderes aktuelles Beispiel für die Täuschung, dass Märkte ohne Kontrolle effizienter seien, zeigt sich in der Debatte zu den gewaltigen Salären von Managern internationaler Konzerne. In den neunziger Jahren begannen diese Zahlungen anfänglich in den USA, mittlerweile auch in der Schweiz förmlich zu explodieren. Heute kassieren Manager wie der Novartis-Chef Daniel Vasella oder Marcel Ospel von der UBS um 20 Millionen pro Jahr. Auch hier reden die Manager und ihre vielen Imageberater davon, es sei eben der Markt für Manager, der Unternehmen förmlich dazu zwinge, ihnen diese Summen zukommen zu lassen. Doch bei der Bezahlung von Managern sind eine Reihe von Voraussetzung für funktionierende und effiziente Märkte nicht gegeben, summarisch ein paar Hinweise dazu:
Wenn ein echter Unternehmer sich selbst zu hohe Löhne zahlt, er also zu viel Gewinn aus seinem Unternehmen abzieht, setzt er sein eigenes Gesamtvermögen aufs Spiel. Damit hat er wenig Anreiz, dies zu tun, bzw. einen grossen Anreiz zu weitsichtigem Wirtschaften. Manager sind keine Unternehmer, auch wenn sie Aktien des von ihnen geleiteten Unternehmens besitzen. Denn die Anreizstrukturen sind selbst dann ganz andere. Manager sind Beschäftigte einer grossen Masse von Aktionären, sie belohnen sich selbst also mit deren Geld und gehen auf deren Kosten (und Nutzen) Risiken ein.
Bei einem perfekt funktionierenden Arbeitsmarkt würden die Arbeitgeber (die besitzenden Aktionäre) ihrem Angestellten (dem Manager) den Lohn bezahlen, der seiner persönlichen Leistung für das Unternehmen entspricht. Doch hier ergeben sich gleich zwei schwerwiegende Probleme. Erstens haben die besitzenden Aktionäre individuell meist kaum Anreize, ihre Angestellten, die Manager, auch wirksam zu kontrollieren. Denn hier besteht ein «Trittbrettfahrerproblem»: Ein scharf kontrolliertes Management ist zwar im Interesse der Vielzahl an Aktionären, aber gerade darum hat kein einzelner Aktionär ein Interesse daran, persönlich die Mühen dafür auf sich zu nehmen, lieber hofft er auf einen anderen, der das tut, und profitiert dann mit. Der Manager hat zweitens in der Regel einen deutlichen Informationsvorsprung vor seinen Besitzern in allen Belangen des Unternehmens. Daher können seine Chefs, die Aktionäre, gar nicht wissen, was auf seine Leistung zurückgeht. Möglicherweise hat er einfach Glück oder Pech. Oder der Grund für den Erfolg oder Misserfolg liegt in der Leistung von anderen Beschäftigten im Unternehmen. Oder die Leistungen des Gesamtunternehmens könnten unter einem anderen Manager noch besser sein. Auf jeden Fall hat ein Manager sowohl Motive wie Möglichkeiten, seine Aktionäre über seinen wahren Einfluss auf das Unternehmensergebnis zu täuschen.
Manager werden oft in Aktien und Optionen entlöhnt. Die Begründung dafür zeigt eine besonders listige Pervertierung der Marktidee. Die Manager würden so besser an die Interessen des Unternehmens gebunden, so die Begründung. Doch haben die Manager damit vielmehr einen starken Anreiz, die Politik des Unternehmens kurzfristig am Aktienkurs auszurichten. Sowohl den kurzfristig ausgewiesenen Gewinn wie den Aktienkurs des Unternehmens selbst kann das Management relativ leicht beeinflussen, ohne dass es dem Unternehmen wirklich besser geht.
Schliesslich fehlt auch meist der Konkurrenzdruck. Dieser ist – wie erwähnt – die wichtigste Voraussetzung für einen funktionierenden Markt. Die Verwaltungsräte, die für die Lohnzumessung und Kontrolle im einen Konzern zuständig sind, sind oft selber Manager in einem anderen Konzern, wo sie wiederum durch andere Managementkollegen beaufsichtigt werden. Die Manager bilden also untereinander mehr ein Kartell als einen Konkurrenzmarkt. Weil die Leistung von Managern kaum messbar ist, kommt dank der Marktideologie ein perverser Umkehrschluss zu Stande: Wer beim Verdienst nicht entsprechend zulegt, steht bei den Spitzenmanagern unter Rechtfertigungsdruck. Das Spitzengehalt wird zum Beweis für Spitzenfähigkeiten. Wer wenig verdient, gilt als Flasche.
Die Debatte um Managerlöhne hat nicht bloss theoretische Bedeutung. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends hat sich dramatisch gezeigt, welche Fehlentwicklungen ausgelöst werden, wenn die Markttheorien naiv zum Leitfaden für die Bezahlung von Managern übernommen werden: Wer Skrupellosigkeit im Umgang mit den eigenen Beschäftigten und der Öffentlichkeit zeigte, Bilanzen polierte und ebenso spektakuläre wie gefährliche Geschäfte tätigte und dafür Unsummen kassierte, der galt als Siegertyp.
Markt, Moral und Emotionen
Marktrevolutionäre fordern kaum je die völlige Abschaffung etwa der Finanzmarktregulierungen oder jener im Gesundheitswesen. Die Forderung nach «mehr Markt» und «weniger Staat» bleibt selbst in diesen Gebieten meist abstrakt. So kann man sich fragen, ob diese Parolen hier nicht etwas zu ernst genommen werden und nicht vielmehr zum Arsenal des politischen Marketings gehören, bei dem ohnehin kaum je eine Aussage allzu wörtlich gemeint und auch nicht so zu verstehen ist.
Diese Parolen sind ernst zu nehmen, weil sie in einem tief greifenden Sinn nicht nur das Denken zur Politik und zu wirtschaftlichen Zusammenhängen mitbestimmen, sondern weil die banalisierte und populäre Vorstellung vom Markt auch eine moralische Komponente, eine Vorstellung für «richtiges» menschliches Verhalten, enthält. Wie schon weiter oben ausgeführt, wurde Adam Smith’ Aussage, dass in freien Märkten die Gesamtheit am meisten profitiert, wenn jeder seinen eigenen Vorteil verfolgt, inzwischen ziemlich pervertiert: Wer wirtschaftlich erfolgreich ist und viel verdient, erscheint damit automatisch als Wohltäter, weil die Gesellschaft insgesamt durch seinen Einsatz reicher werde. Kühler Egoismus wird damit nicht nur zum Prinzip eines geachteten individuellen Fortkommens erkoren, sondern zudem noch zu einem moralisch höher stehenden, weil letztlich allen nützenden Verhalten.
Eine solche Sicht vernachlässigt krass, wie reale Märkte funktionieren bzw. welches die tatsächlichen Erfolgsfaktoren von wirtschaftlicher Entwicklung sind. Dass die Menschen einander vertrauen können, spielt dabei eine Schlüsselrolle, ebenso Emotionen. Was schon der Intuition entspricht, bestätigen auch ökonomische Forschungen.
Wie will ein Verkäufer seine Kunden bei der Stange halten, wenn diese in ihm einen Egoisten sehen, der sie jedes Mal übers Ohr haut, wenn er dazu Gelegenheit hat? Schon das einfachste Marktbeispiel macht klar, wie wichtig es ist, einen guten Ruf zu haben, und der wäre durch offensichtliches egoistisches Verhalten sofort zerstört. Emotionen können diesen Ruf stärken und Vertrauen wecken, gerade weil sie nicht Ausdruck einer egoistischen Strategie sind, sondern spontan, von innen kommen (sofern sie nicht geschickt vorgetäuscht werden). Vertrauen und guter Ruf sind auch für die meisten modernen Arbeitsmärkte von überragender Bedeutung, in denen kaum – wie im Modell der «vollständigen Konkurrenz» angenommen – jede Leistung einfach durch den bezahlten Lohn erklärt wird. Meist kann die Leistung durch den Arbeitgeber kaum angemessen erkannt oder gemessen werden. Die Beziehung zum Unternehmen, den Vorgesetzten und Kollegen ist für die meisten Beschäftigten wichtiger als der Lohn, auch als Motivation zu besonderer Leistung. Gnadenlose Egoisten hätten hier keine Chance. Der eigene Ruf ist ein wichtiges Vermögen, mit dem man als Unternehmen, Arbeitgeber, Arbeitnehmer oder als Verkäufer seine Chancen verbessert. Das gilt auch in globalisierten Märkten. Deshalb bemühen sich international tätige Unternehmen so sehr, die Kultur ihrer Absatzländer kennen zu lernen. Schliesslich wollen sie dort niemanden vor den Kopf stossen, das würde ihr Geschäft unmöglich machen. Auf einen eigenen möglichen Vorteil für den Moment zu verzichten – etwa indem hohe Qualität auch dann verkauft wird, wenn kaum jemand den Unterschied bemerken würde, oder durch unentgeltliche Hilfeleistungen –, kann einen guten Ruf begründen. Allzu egoistisch zu sein, schadet umgekehrt diesem Ruf und damit den nachhaltigen wirtschaftlichen Absatzchancen.
Wenn Menschen sich zurückgesetzt fühlen oder unfair behandelt, dann rächen sie sich. Das ist keine Banalpsychologie. Ökonomen und Psychologen haben dazu weltweit Untersuchungen durchgeführt. Dabei zeigte sich – in der Ökonomensprache ausgedrückt – folgendes Resultat: Menschen nehmen zuweilen hohe Kosten auf sich, nur um andere zu bestrafen, von denen sie sich unfair behandelt fühlen. Dass jemand persönliche Nachteile auf sich nimmt, nur um andere zu bestrafen, widerspricht vollkommen der klassischen Vorstellung der Ökonomen, denn mit dieser Art des Bestrafens, bestraft sich der Rächer ja auch selbst.
Was haben diese Überlegungen zu Vertrauen, Emotionen und Fairness mit der Debatte über «mehr Markt» und Reformen gemein? Fairness schafft Vertrauen, und ohne Vertrauen können Märkte kaum funktionieren und eine Gesellschaft sich wirtschaftlich nur schwer entwickeln.
Das heisst umgekehrt nicht, dass Reformen unnötig sind, dass die Pfründen der zahlreichen Sonderinteressengruppen auf Kosten der Allgemeinheit kein Problem darstellen oder dass jede Art von Umverteilung Sinn macht. In einem sich ständig verändernden Umfeld sind Anpassungen sowohl der Wirtschaftsstrukturen wie auch der Regeln immer wichtig. Die Frage ist aber, wie die Schweiz solche Anpassungsprozesse auch künftig am besten bewerkstelligen kann. Einfach nur zu drohen und die radikale Abschaffung gewachsener Institutionen zu fordern, führt in die Irre.
Markus Diem Meier
Der Autor (Jahrgang 1963) hat an der Universität Zürich Volkswirtschaftslehre und Geschichte studiert und schreibt als freischaffender Wirtschaftsjournalist für grosse Schweizer Publikationen wie BILANZ, «Weltwoche», «Facts» oder «Tages-Anzeiger». Zudem ist er als Dozent für Volkswirtschaftslehre an Fachhochschulen in Bern und Zürich tätig.
Markus Diem Meier: Was heisst hier liberal?
Warum die Untergangspropheten falsch liegen und die Schweiz zu beneiden bleibt
Verlag Rüegger, 191 Seiten, Fr. 39.–, erhältlich ab sofort im Buchhandel.