Ein Schild vor dem Zuchthaus warnt: «Überfüllt!» Die Irrenanstalt meldet: «Besetzt.» Eine Mutter bettelt mit ihrem Säugling im Arm vor einem verrammelten Laden, ein Mann erschiesst einen anderen auf offener Strasse, eine Frau stürzt sich von der Brücke in den Fluss. «Frühlingsblüthen» heisst die Zeichnung – und nur die Orthografie verrät, dass es sich nicht um ein aktuelles Werk handelt.
Als die Zeichnung 1882 im «Nebelspalter» erschien, fühlten sich die Eidgenossen gleich wie heute, sorgten sich in der Gegenwart und fürchteten sich vor der Zukunft. «Wir Schweizer und mehr oder weniger alle Bewohner Europas leben in einer solchen sozialen Krisis, wie kaum je zuvor», klagte eine pädagogische Zeitschrift 1883. «Solide, blühende Industriezweige sind morgen von der Konkurrenz überholt und genöthigt, sich anders einzurichten oder sie stürzen auch wohl zusammen und hunderte von Arbeitern werden an die Luft gesetzt.» Die Maschinen würden zu «Tyrannen im Dienste weniger Kapitalisten», dem Handwerk und vor allem der Landwirtschaft, die unter dem Import von günstigem Getreide aus Russland und Amerika litt, drohe der Untergang.
Doch schon zwei Jahre nach diesen düsteren Betrachtungen setzte ein kräftiger Aufschwung ein. «Die letzten 25 Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs», schrieb der Ökonom Wilhelm Bickel 1973, «sind eine Periode raschesten Wirtschaftswachstums, wie es bis dahin unbekannt war und in der Folge nur von der Hochkonjunktur der letzten zwei Jahrzehnte übertroffen wurde.»
Gibt es also Hoffnung, dass das Land auch jetzt aus seiner Trübsal herausfindet, ja sogar – entgegen allen Erwartungen – wieder eine Zeit starken Wachstums erlebt? Wer sich Mut machen will, indem er mit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts vergleicht, der sieht zwei überraschende Parallelen. Die eine ist die Landesausstellung, die 1883 in Zürich stattfand. Zuvor heftig umstritten und kühl aufgenommen, bildete sie für Thomas Widmer, der seine Dissertation über die Wachstumskrise der 1880er-Jahre geschrieben hat, «einen Markstein im Restabilisierungsprozess»: «Die Zeitgenossen waren sich erstaunlich rasch einig, dass die Landesausstellung einen grossen, unerwarteten Erfolg darstellte, einen Sieg über den Pessimismus, die Selbstzweifel und die Desintegrations-tendenz in allen Lebensbereichen.»
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Die Landesausstellung wirkte allerdings nur so, «weil sie auf eine untergründige Wendebereitschaft stiess». Denn gleichzeitig begann der zweite, wichtigere Prozess: der Einbezug einer Opposition in die Bundesregierung, die zuvor Widerstand geleistet hatte und auch an der Landesausstellung kaum beteiligt war. Die Katholiken, im Sonderbundskrieg von 1847 besiegt und im radikal-liberalen Bundesrat seit 1848 nicht vertreten, lehnten im Kulturkampf der Siebziger- und Achtzigerjahre konsequent alle Vorlagen ab, die aus dem zentralistischen Bern kamen. Auf Grund einer vorsichtigen Annäherung bekamen sie aber nach dem (aus Gründen der Staatsräson erfundenen) Jubiläum von 1891 ihren ersten Bundesrat: Joseph Zemp.
Der Krämersohn und promovierte Anwalt aus dem Entlebuch ist eine der Schlüsselfiguren in der Geschichte des Bundesstaates. Als Nationalrat spielte er eine gewichtige Rolle in den «konservativen Referendumsstürmen, die zwischen 1875 und 1884 zuweilen obstruktionistische Züge gegen die Bundespolitik des Freisinns annahmen», wie sein Biograf Urs Altermatt feststellt, und er dachte Anfang der Achtzigerjahre auch über die Gründung einer landesweiten katholischen Partei nach. 1884 forderte er mit einer Motion eine grundlegende Revision der Bundesverfassung, aber er rief, als erster Katholik zum Vizepräsidenten des Nationalrats gewählt, 1885 auch eine «neue Ära» konfessioneller und sozialer Verständigung aus.
Die Stunde von Joseph Zemp und damit der Katholisch-Konservativen schlug 1891. Als das Volk die Vorlage für den Rückkauf der Zentralbahnaktien deutlich verwarf, brach eine Regierungskrise aus. Der freisinnige Post- und Eisenbahnminister Emil Welti trat überraschend zurück. Zu seinem Nachfolger wählte die Bundesversammlung den Kopf der katholischen Opposition: Joseph Zemp, als Gegner der Vorlage, musste das Departement des ausgeschiedenen Bundesrates übernehmen – und er wurde als Kämpfer für die Verstaatlichung zum Vater der SBB. «Er hat seine ganze Vergangenheit vergessen und ist mit Sack und Pack in das radikale Lager hinübergezogen», warfen ihm deshalb Kritiker vor. «Herr Zemp wurde gegen seinen Willen zu einem Instrument der Zersetzung im katholischen Lager, an dessen Spitze er noch kurz zuvor gestanden hatte.»
Die eidgenössische Geschichte wiederholte sich ein halbes Jahrhundert später. Nicht mehr die Katholiken, seit 1920 durch zwei Bundesräte vertreten, bekämpften in der Depression der Dreissigerjahre die Politik der Landesregierung, sondern die Linken. Die Sozialdemokraten und die Kommunisten erzielten mehr als ein Drittel der Stimmen; allein die SPS verdoppelte 1919 nach der Einführung der Proporzwahl ihre Sitzzahl im Nationalrat von 20 auf 41. Doch die Bürgerlichen dachten nicht daran, die Partei in den Bundesrat einzubeziehen. 1929 scheiterte so auch die Kandidatur des Zürcher Stadtpräsidenten Emil Klöti, 1935 verlor die Linke dafür nur knapp die Volksabstimmung über die Kriseninitiative, die eine weit gehende Verstaatlichung der Banken und damit der Investitionsentscheide verlangte.
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Die Annäherung begann mit dem Friedensabkommen in der Maschinen-industrie von 1937, und sie setzte sich an der Landi von 1939 fort. Als sich 1943 der Sieg der Alliierten abzeichnete und die Linke – auch ohne die verbotene Kommunistische Partei – ihren grössten Wahlerfolg feierte, erkor das Parlament deshalb Ernst Nobs zum ersten sozialdemokratischen Bundesrat. Der aus einer armen Grindelwaldner Familie stammende Stadtpräsident von Zürich, einst als Rädelsführer des Generalstreiks von 1918 zu vier Wochen Gefängnis verurteilt, wandelte und wendete sich als Magistrat. «Vom Bürgerschreck zum Bundesrat» – wie die Biografie von Tobias Kästli heisst – geläutert, kämpfte er unter anderem dafür, dass die Schweiz nicht alles Raubgold zurückgeben musste. Und während der Abstimmungsschlacht um die Bundesfinanzordnung von 1950 lag er als zuständiger Bundesrat, wohl innerlich zerrissen, wochenlang im Spital. «Ein Arbeiterführer», höhnte ein linker Kritiker, «sollte seine antikapitalistische und revolutionäre Vergangenheit etwas weniger verleugnen, als Herr Nobs es in Wort und Tat zu tun für nötig hält.»
Auf den Einbezug der Sozialdemokratie folgte nach Kriegsende nicht, wie auf Grund der Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg befürchtet, ein Einbruch, sondern ein Aufschwung der Konjunktur. Und eine noch wundersamere Wirkung schien von der Zauberformel auszugehen: Nachdem die SPS seit 1953 keine Vertretung mehr im Bundesrat gehabt hatte, weil Finanzminister Max Weber nach einer verlorenen Abstimmung zurückgetreten war, wählte die Bundesversammlung 1959 zwei Sozialdemokraten und entschied sich damit für die Zusammensetzung der Landesregierung, die bis heute überdauert hat. Im gleichen Jahr setzte, wie Wilhelm Bickel schreibt, «eine dritte grosse Konjunkturwelle ein, die bis Mitte der Sechzigerjahre anhielt». Diese Expansion, die «stürmischer vor sich ging als je zuvor», liess sich erst 1964 mit Konjunkturdämpfungsmassnahmen bremsen – ein Begriff, der heute anmutet wie aus einer längst vergessenen Zeit.
Denn die Schweiz leidet – wie in den Achtzigerjahren des 19. und den Dreis-sigerjahren des 20. Jahrhunderts – seit einem Jahrzehnt an hartnäckiger Wachstumsschwäche. Wirtschaftskrise und Stimmungstief, eine obstruktive Opposition und sogar eine Landesausstellung, die sich nach Kontroversen als Erfolg erwiesen hat: Die Parallelen der heutigen Situation mit den Jahren vor den bisherigen Umgestaltungen der Landesregierung verblüffen. Wiederholt sich die Wirtschaftsgeschichte nochmals? Bricht nach einer Wahl von Bundesrat Christoph Blocher für die Schweiz wieder ein goldenes Zeitalter an?
Wie es zu derartigen Umschwüngen kommen kann und welche Wechselwirkungen zwischen Stimmungslage und Wirtschaftsentwicklung sich nachweisen lassen: Über diese Fragen denkt der Zürcher Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler schon sein ganzes akademisches Leben lang nach. Sein Fazit: Politische und soziale Instabilität schlägt aufs Investitionsverhalten der Unternehmer durch. Kaum jemand bildet sich weiter, baut ein Haus oder gründet ein Geschäft, wenn in Orientierungskrisen die Zukunft ungewiss erscheint. Und umgekehrt ermöglichen nur stabile Grundlagen ein schnelles Wirtschaftswachstum. «Die 1880er-Jahre bewiesen die Fähigkeit der schweizerischen Gesellschaft, brüchig gewordene Strukturen auch unter grossem wirtschaftlichem Druck zu regenerieren und kreativ zu erneuern», schreibt Thomas Widmer in seiner Dissertation. Die Schweiz dürfe deshalb als «eine Wachstumsgesellschaft par excellence» gelten.
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Beweist sie das auch diesmal, dank Christoph Blocher im Bundesrat? Hansjörg Siegenthaler glaubt nicht daran. Der Wirtschaftshistoriker sieht tiefe Konflikte, die bisher durch den Einbezug der Opposition in die Regierung produktiv überwunden wurden: Vor 1891 tobte der Streit um die Quelle der Wahrheit, für die Liberalen das Volk mit seinen Entscheiden, für die Katholiken letztlich der Papst; vor 1943 kämpften Kapitalisten und Sozialisten um die Verfügungsmacht über die Produktionsmittel. Einen solchen grundsätzlichen Konflikt sucht Hansjörg Siegenthaler vergebens – die Probleme mit der Staatsquote, dem Gesundheitswesen oder der Altersvorsorge erklären für ihn den herrschenden Alarmismus nicht. «Es ist für eine so revolutionäre Partei wie die SVP furchtbar schwierig, in der Schweiz Politik zu machen, denn der Reformbedarf ist gar nicht so gross», mokiert sich der emeritierte Professor. «Was soll es denn bringen, Blocher in den Bundesrat zu wählen? Man weiss ja gar nicht, warum.» Und darum gibt er noch eins drauf: «Die SVP soll aus dem Bundesrat rausgehen, bis sie klarer sagen kann, was sie überhaupt ändern will.»
Denn ausgerechnet die Schweizerische Volkspartei, die sich immer auf Volk und Vaterland beruft, beherzigt für Hansjörg Siegenthaler mit ihrer «Rüpelhaftigkeit» nicht, was gemäss seinen historischen Einsichten den Erfolg der Schweiz ausmacht: dem Gegner zuhören, seine Meinung achten, von seiner Weltsicht lernen. Anfang Jahr bezeichnete er die Partei deshalb in einem Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger» als «eine äusserst effiziente Organisation zur systematischen Behinderung aller Lernfähigkeit unseres Landes». Jetzt sagt er, Blochers Modell der Wahrheitsfindung vertrage sich nicht mit dem Verständnis, dass es etwas bringe, wenn man miteinander rede: «Er sitzt an seinem Schreibtisch und schaut über den Zürichsee, als einsamer Denker, der erfahren hat, dass seine Ideen richtig sind.»
Der Analytiker sieht deshalb nicht, dass Bundesrat Blocher die Wende bringen könnte. Aber er bestätigt, dass die gegenwärtige Situation in der Schweiz denjenigen vor 1891 und 1943 gleicht. Denn er weist auf tiefe Konflikte hin, die das Land allerdings – anders als jene über die Quelle der Wahrheit oder die Verfügung über die Produktionsmittel – kaum offen austrägt: einerseits der Widerstand gegen die Feminisierung der Politik, der beispielsweise dazu geführt hat, dass sich in der Zürcher Abordnung im Bundeshaus, mit wenigen Ausnahmen, rechte ältere Männer und linke jüngere Frauen gegenüberstehen – und anderseits der Klassenkampf gegen die «New Class».
Konservative Soziologen prägten den Begriff in den USA der Siebzigerjahre für die so genannten Professionals, die auf dem Markt ihr Humankapital anbieten: Intellektuelle und Kreative, Manager, Ingenieure, Therapierende und Pädagogen aller Art. Sie gewannen, wie David Brooks in seinem Bestseller «Bobos in Paradise» schreibt, «einen völlig unverhältnismässigen Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft, indem sie die Kommandohöhen der Akademie, der Medien und der Kultur eroberten». An diese Diskussion erinnert Hansjörg Siegenthaler mit seiner Einsicht.
Tatsächlich lässt sich dieselbe Entwicklung in der Schweiz beobachten. Die Vertreter und die Vertreterinnen (!) der New Class vergrössern ihre Macht und ihren Markt, indem sie den Staat übernehmen und staatliche Interventionen anregen, die eine Nachfrage nach ihren Leistungen schaffen: Die Planer bestimmen statt der Politik die Entwicklung, die Juristen erlassen immer wilder wuchernde Gesetze, die Medienschaffenden und/oder Volkspädagogen vermitteln die richtige Weltsicht, die Sozialarbeiter finden immer neue Randgruppen und die Therapierenden immer mehr Defekte an Gesellschaft und Mensch. Sie alle leben von den Steuern der Wirtschaft und des Gewerbes – und sie schauen gleichzeitig, auf Grund ihrer eingebildeten kulturellen Überlegenheit, auf das Volk der gewöhnlichen Steuerzahler herab.
Diesen Klassenkampf tragen die Schweizer, wie Hansjörg Siegenthaler feststellt, tatsächlich nicht offen aus. Aber er schwingt immer mit, wenn Christoph Blocher über die Manager herzieht, die sich verantwortungslos nur selber bereicherten, wenn er die Agrarbürokratie bekämpft, welche die unternehmerischen Bauern ersticke, oder die Asylorganisationen angreift, die sich ihren Markt dadurch schaffte, dass die Migrationsprobleme nicht zu lösen seien. In seinem Artikel «Mitenand gaats schlächter» vom April dieses Jahres sprach er den Konflikt ausdrücklich an und beendete damit die politische Karriere des freisinnigen Osec-Chefs Balz Hösly. «Die Linken haben sich im Speckgürtel des Staates vor allem auf ‹soziale› Anliegen spezialisiert und wirken als Stiftungsräte für die Schaffung neuer Staatsstellen, die sie dann gleich auch selber bekleiden», stellte Christoph Blocher da fest. «Es gibt immer mehr Parlamentarier, die in Firmen oder Bereichen arbeiten, die fast ausschliesslich von Staatsaufträgen leben.»
Und schon zuvor sagte er in der Albisgütli-Rede 2002: «Die wahre Elite besteht nicht aus aufgeblasenen Bluffern und Privilegierten, sondern aus Personen, die dank ihrer besonderen Fähigkeit in der Lage und bereit sind, ein Unternehmen zu führen.»
Diesen unternehmerischen Wirtschaftsleuten warf die marxistische Kritik der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts vor, sie verträten in der Politik nur ihre Privatinteressen. Die letzten Wahlen zeigten jedoch, dass das Stimmvolk derzeit nur noch von ihnen das Heil erwartet, von Peter Spuhler über Otto Ineichen oder Ruedi Noser bis hin zur brillant in den Ständerat gewählten sozialdemokratischen Kleinunternehmerin Anita Fetz. Der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident und Konzernchef Lothar Späth sagte denn auch am KMU-Tag in St. Gallen: «Wir erleben einen Aufstand der unternehmerischen Leute.»
Die Unternehmer und die Gewerbler aber, die von der New Class ausgenutzt und verachtet werden (oder sich zumindest so fühlen), haben wie einst die Katholiken und die Linken einen Kopf, der ihnen im Bundesrat eine Stimme geben könnte. Auch Christoph Blocher wird sich in der Landesregierung wandeln, seiner Partei widersprechen und seine Anhänger enttäuschen müssen. Diese Parallele zur Situation von 1891 und 1943 lässt sich prognostizieren – ob ein neuer Bundesrat nur zu «Frühlingsblüthen» oder tatsächlich zu einer Blütezeit führt, muss sich weisen.
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