Es war schon alles vorbereitet für das grosse Fest am Abend. Eine Feier für alle Mitarbeiter oder mit den Worten von Carole Hübscher: für die ganze «Caran-d’Ache-Familie». Denn es gab etwas zu feiern: den 100. Geburtstag des Unternehmens, das mit seinen Farbstiften die Welt etwas bunter macht. Verwaltungsratspräsidentin Hübscher selbst sass an diesem Donnerstagvormittag des 15. Januar im «Kick-off-Meeting für das Jubiläumsjahr», schliesslich sollte 2015 ein ganz spezielles Jahr werden. Und dann traf die Meldung ein, dass die Nationalbank den Mindestkurs zum Euro aufhob. «Ich werde diesen Augenblick nie mehr vergessen», sagt sie heute. «Ein Schlag ins Gesicht.»
Das Fest fand trotzdem statt, das Jubiläumsjahr jedoch wurde «sehr kompliziert», wie Hübscher es ausdrückt. Caran d’Ache musste bei der Marge Einbussen einstecken, teilweise die Preise für den Export erhöhen und kurzfristig bei den Marktanteilen auch Verluste hinnehmen. Diese hat das Familienunternehmen in der Zwischenzeit zwar wieder zurückerobert, doch einfach war es nicht.
«Der Schaden ist angerichtet», sagt Hübscher. Und dabei spricht sie nicht nur für ihre Firma, sondern für den gesamten hiesigen Werkplatz. «Eine Fabrik, die wegzieht, kommt nie mehr zurück.» Und sie ärgert sich, dass heute niemand mehr über die Tausende von Industrie-Arbeitsplätzen spricht, die wegen des Frankenschocks aus der Schweiz abgezogen wurden.
100 Prozent Schweiz
Carole Hübscher sitzt im Sitzungszimmer im ersten Stock der Caran-d’Ache-Manufaktur. Es ist ein gesichtsloses Gebäude mitten in einer gesichtslosen Wohngegend der Genfer Vorortsgemeinde Thônex, nur ein paar hundert Meter von der Grenze entfernt. Swisscom heisst die Abonnenten per SMS schon mal «Willkommen in Frankreich» und teilt ihnen die neusten Roamingtarife mit. Dabei ist hier alles noch 100 Prozent Schweiz – die Farbstifte, die Neocolor, die Gouachen, die charakteristischen sechseckigen Plastik- und Luxuskugelschreiber, die Füllfederhalter ebenso wie die Tinten und die Minen. Alles wird unter einem einzigen Dach hergestellt, die gesamte Palette der 3400 Produkte.
Hier mischen die rund 280 Mitarbeiter Pigmente zu den 150 Farbtönen, hier verrühren sie diese mit Füllmitteln wie Kreide und Bindemitteln wie Öl oder Wachs. Hier schneiden sie das Zedernholz für Farbstifte zurecht. Und hier dekorieren sie die Gehäuse der Stifte, mit Chinalack, mit klassischen Gravuren oder mit den Mustern der Kostüme von Superman, Batman und Wonder Woman wie jüngst in Zusammenarbeit mit den Filmstudios von Warner Bros. für die Sonderedition «Justice League».
«Wir haben hier im Haus 90 unterschiedliche Berufe», betont Hübscher. «Wir sind die Einzigen, die alles selbst machen und ein derart breites Wissen haben rund ums Schreiben und ums Kreieren.» Ihre Konkurrenten stellen jeweils nur einen Teil des Angebots selbst her, Faber-Castell etwa macht nur Farben, Montblanc oder Parker wiederum beschränken sich auf Füllfederhalter und Kugelschreiber.
Weiter wachsen
Und Caran d’Ache ist die einzige Schreibwaren-Manufaktur, die unabhängig geblieben ist. Obwohl die Besitzer immer wieder Kaufangebote von internationalen Luxuskonzernen erhalten haben. Doch Hübscher will nicht verkaufen, es gebe keinen Grund dazu. Im Gegenteil: «Wir sind in den letzten Jahren gewachsen. Und wir werden das auch in Zukunft tun.»
Und das ausgerechnet im Zeitalter der Digitalisierung, in dem die Menschen im Büro an der Tastatur des Computers und in der Freizeit am Touchscreen des Handys kleben. In dem sich alles, was es zu sagen gibt, per Mausklick, E-Mail oder SMS sagen lässt. Im Zeitalter, in dem Handschriften verkümmern und Rechtschreibung und Interpunktion fast schon beliebig werden. «Schrecklich», sagt Hübscher, die diesen Trend mit einer gewissen Sorge verfolgt, weniger für ihr Unternehmen als für die Gesellschaft als Ganzes. «Wer von einer Maschine abhängig ist, nimmt sich ein Stück Freiheit.»
Caran d’Ache wurde 1915 als «Fabrique Genevoise de Crayons» gegründet. 1924 übernahm Arnold Schweitzer die «Genfer Bleistiftfabrik» und taufte sie um in Caran d’Ache. 1930 erwirbt die ursprünglich aus Schaffhausen stammende Familie Hübscher eine Beteiligung. Im Juni 2012 übergab der Inhaber Jacques Hübscher die Leitung an seine Tochter Carole. Heute gehört die Firma den drei Familien Hübscher, Christin, einem Familienzweig der Hübschers, und Reiser.
Schreiben fürs Gehirn
Das Schreiben von Hand sei wichtig für die Entwicklung der Kinder, für die Bildung der eigenen Identität, für das Erinnerungsvermögen und die Reflexion, ergänzt sie und verweist auf Studien und Gespräche mit Forschern, die im Rahmen des «Human Brain Project» unweit von Caran d’Ache, im Campus Biotech in Genf, dem ehemaligen Hauptsitz von Merck Serono, das Gehirn und seine Funktionsweise erforschen.
Und nur wenn etwas von Hand unterschrieben ist, hat es einen gewissen Wert, eine gewisse Verbindlichkeit. Zur Anschauung hat das Unternehmen viele Geschichten auf Lager, wie etwa jene aus dem Jahr 1985, als Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Genf mit einem Füllfederhalter von Caran d’Ache das Ende des Kalten Kriegs einleiteten.
Hübscher selbst schreibt oft von Hand, und sie ist überzeugt, dass «das Pendel zurückschlägt». So wie die Leute wieder mehr selber kochen, statt Fertiggerichte zu konsumieren. Zurück zur Natur, zur Scholle, zum Hausgemachten, zum Persönlichen, zum Authentischen. «Man wird in Zukunft dank der Digitalisierung mehr Zeit haben, und diese können wir fürs Kreieren nutzen statt fürs Konsumieren.» So viel Zweckoptimismus muss sein.
Neue Fabrik
Die Schweiz bleibt der wichtigste Markt, doch mittlerweile exportiert das Unternehmen seine Stifte in über 90 Länder. Um den Kundenstamm zu erweitern, hat Caran d’Ache zudem in den letzten Jahren 23 eigene Boutiquen eröffnet, etwa in Zürich, Berlin oder Seoul. 15 davon sind sogenannte «Art Centers» in China, eine Art erweiterte Läden, in denen man nicht nur Schreibutensilien kaufen, sondern auch Workshops besuchen kann. Für Hübscher ein sehr interessanter Markt, nicht nur weil China ein Land mit einer wachsenden Mittelschicht ist, sondern vor allem auch ein Land mit einer ausgeprägten Tradition für Schrift und Zeichnung.
Carole Hübscher jedenfalls denkt nicht ans Aufgeben. Im Gegenteil: Sie will nochmals neu starten, mit einer neuen Fabrik. Die Entwürfe sind fixfertig, die Absichtserklärung für den Kauf des Landes in der Genfer Gemeinde Bernex nahe der Autobahn ist bereits unterschrieben. Denn in Thônex, wohin ihr Vater Jacques die Fabrik 1974 von der Stadtmitte aus verlegt hatte, ist alles zu eng geworden – die Labors für die Farbtüftler, die Produktionsräumlichkeiten und vor allem die Zugänge. Rund zwanzig Lastwagen fahren täglich zur Manufaktur und wieder weg und müssen sich dabei nicht nur durchs Wohnquartier schlängeln, sondern oft auch durch das verstopfte Genfer Stadtzentrum.
Land zu Geld machen
Doch so schnell wie erhofft kann der Umzug nicht vollzogen werden. Denn damit Caran d’Ache das notwendige Kapital hat für den Bau der neuen Fabrik, muss Hübscher zuerst das Land in Thônex zu Geld machen – und dafür muss es von Gewerbe- in Wohnland umgezont werden. Das vor rund zweieinhalb Jahren gestartete Prozedere kam arg ins Stocken, es wurde gefeilscht um die Anzahl Wohnungen, die dort entstehen sollen, über die Höhe der Wohnblöcke und ob das Terrain mit Auflagen für günstigeren Wohnraum belegt werden sollte.
Nach langen Verhandlungen hat sie sich mit dem zuständigen Regierungsrat Antonio Hodgers doch noch einigen können, und auch das Kantonsparlament hat den Deal mittlerweile abgesegnet. «Wenn alles gut läuft, sollten wir die neue Fabrik 2023 eröffnen können» – nach über acht Jahren Planung. Zwischendurch befürchtete Hübscher, sie müsse zwar nicht die Schweiz, aber den Kanton Genf verlassen, sollte es zu keiner Einigung kommen.
Genf gehört zur DNA
Etwas, das ihr gar nicht leichtgefallen wäre. Gehört doch Genf zur DNA von Caran d’Ache und war auch Teil des ersten Namens des Unternehmens, das 1915 als «Fabrique Genevoise de Crayons» gegründet wurde. 1924 übernahm Arnold Schweitzer die «Genfer Bleistiftfabrik» und taufte sie um in Caran d’Ache – als Hommage an den französischen Karikaturisten Emmanuel Poiré, der seine Zeichnungen mit ebendieser Transliteration des russischen Worts «Karandasch» signierte, was Bleistift bedeutet.
1930 stieg Carole Hübschers Urgrossvater ein – zuerst als stiller, dann als aktiver Teilhaber. Seitdem bestimmt die Familie die Geschicke der Fabrik. Die Hübschers stammen ursprünglich aus dem Kanton Schaffhausen, genauer: aus Thayngen, der Heimat der Knorr-Suppen. Später beteiligte sich auch Joseph Reiser, ein Vertrauensmann der Hübschers, finanziell an Caran d’Ache.
Sehr verschwiegen
Heute gehört die Firma den drei Familien Hübscher, Christin, einem Familienzweig der Hübschers, und Reiser. Wer wie viel hält, gibt Caran d’Ache nicht bekannt, so wie die Firma grundsätzlich keine Zahlen herausrückt. Ab und zu dringt dennoch etwas nach draussen: So weiss man, dass der Umsatz im schwierigen Frankenschock- und Jubiläumsjahr 2015 bei rund 60 Millionen Franken lag. Die Marge dürfte heute im tiefen einstelligen Bereich liegen.
Diese rudimentären Informationen stammen wohl von Aktionären ausserhalb der Familie. Denn auch solche gibt es, schliesslich sind 3000 Namenaktien an der ausserbörslichen Handelsplattform OTC-X der Berner Kantonalbank gelistet. Die Wertpapiere werden kaum gehandelt und gehören mit einem stolzen Preis von über 15 000 Franken zu den teuersten Aktien der Schweiz. Letztlich sind es eher Liebhaberwertpapiere als Publikumsaktien.
Die 51-jährige Hübscher führt das Unternehmen – gemeinsam mit dem operativen Chef Jean-François de Saussure – in vierter Generation. «Weil ich diese Verantwortung wollte», wie sie betont. «Und weil ich vorher andernorts bewiesen habe, dass ich es kann.» Nach einem Abschluss an der Hotelfachschule in Genf arbeitete sie zuerst für Caran d’Ache in New York und Genf, bevor sie zur Swatch Group ging als Marketingmanagerin für Calvin Klein.
Gegen Frauenquoten
Seit 2002 sitzt sie im Verwaltungsrat von Caran d’Ache, 2012 löste sie als Präsidentin ihren Vater ab. Sie ist die erste Frau an der Spitze der Firma und eine von nur wenigen in der hiesigen Industrie- und Wirtschaftswelt. «Leider», sagt sie. «Diversität in jeder Hinsicht ist wichtig und gut für die Unternehmen.» Und sie ärgert sich, dass bei der Diskussion rund um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer die Frauen in der Pflicht stünden. «Wieso müssen immer sie zu Hause bleiben?»
Sie jedenfalls bringt alles unter einen Hut: die Karriere, das Vollzeitpräsidium fürs Familienunternehmen, die Verwaltungsratsmandate bei der Mobiliar und dem Edelmetallspezialisten Cendres + Métaux und die Zeit für ihren ebenfalls berufstätigen Mann und ihre drei Kinder im Alter zwischen 10 und 15 Jahren.
Doch obwohl sich Carole Hübscher auch persönlich dafür engagiert, dass mehr Frauen in die Chefetagen einziehen, spricht sie sich explizit gegen Quoten aus. Der Staat mische sich ohnehin schon zu viel in die Unternehmenswelt ein. «Wir haben genug Bürokratie.» Bereits heute verbrächten zu viele Mitarbeiter ihre Zeit damit, zu viele Formulare auszufüllen. Sie hat ihre Kritik auch schon bei Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann deponiert, als dieser ihre Fabrik besuchte. Viel hat sich seitdem nicht getan. Dabei hatte sie ihre Kritikpunkte zur Vorbereitung notiert, von Hand natürlich.