585, Gaomuqiao Road, Sungiao Pudong, 201203 Shanghai, P.R. China. Eine Adresse, die für den steilen Aufstieg Chinas steht. Pudong Xin Qu, neuer Stadtbezirk östlich des Huangpu-Flusses. Pudong gilt als aufstrebendes Finanz- und Hightech-Viertel von Shanghai. Tausende von Banken, Finanzhäusern, Versicherungen und Industriefirmen haben sich hier niedergelassen. Wo vor 15 Jahren noch Bauern ihre Reisfelder mit Ochsengespannen gepflügt haben, drängeln sich heute die Wolkenkratzer. Hier steht das 492 Meter hohe Shanghai World Financial Center oder der mit 468 Metern Höhe nicht minder beeindruckende Fernsehturm Oriental Pearl Tower. Der Taxifahrer hat Mühe, die Adresse zu finden. Seit wir das Zentrum von Pudong hinter uns gelassen haben, sind weitere 45 Fahrminuten verstrichen. Die Gegend, obwohl noch zu Pudong gehörend, wird ländlich. Zwischen Fabriken und Kleinbetrieben ducken sich zunehmend Bauernhäuser. Walter Eglin ist es gewohnt, dass Besucher Schwierigkeiten haben, seine Fabrik zu finden. Der gebürtige Basler lebt seit 1962 in Fernost, davon 26 Jahre in Japan. Eigentlich wollte er sich mit Mitte fünfzig zur Ruhe setzen und zog mit seiner japanischen Frau nach Hawaii. «Das Nichtstun ist mir ziemlich schnell verleidet», erinnert er sich. Schliesslich hatte der Schweizer sein ganzes Leben lang hart gearbeitet, in verschiedenen Ländern acht Firmen aufgebaut und diese, sobald sie rund liefen, wieder verkauft. Mit 59 Jahren kehrten die beiden der Südseeinsel den Rücken zu und zogen nach China. Weit ausserhalb des Zentrums von Shanghai, eben am Rand Pudongs, gründete Eglin 1997 seine neunte Firma, die Prime Alloy Manufacturing. Er hat wieder bei null angefangen, all sein Geld in die Firma gesteckt. «Man muss schon etwas verrückt sein, in diesem Alter nochmals etwas völlig Neues auf die Beine zu stellen.» Es ist heiss; schon frühmorgens zeigt das Thermometer 38 Grad an, in der Fabrik ist es nur minim kühler. Es stinkt nach Schmierfett und Maschinenöl. Hier arbeiten 250 Angestellte im Schichtbetrieb, sieben Tage die Woche rund um die Uhr. Stahldraht wird in kleine Stücke geschnitten, mit Diamantstaub geschliffen und immer feiner bearbeitet. Nach mehreren Arbeitsschritten landen die Stücke im Reinheitsraum, wo nur Mitarbeiter in Schutzkleidung Zutritt haben. Nur schon ein Haar könnte das Produkt zu Ausschuss werden lassen. Das Ergebnis: hochpräzis gearbeitete, 0,4 bis 0,8 Millimeter kleine Kügelchen, die in der Spitze von Kugelschreibern eingesetzt werden. Monatlich werden 400 bis 500 Millionen Kügelchen hergestellt. Ein banales Massenprodukt? Eglin winkt heftig ab: «Zugegeben, eine Kugel ist eine Kugel. Doch die Qualitätsunterschiede zeigen sich darin, wie kleinste Toleranzen eingehalten werden, ob die Kugeln korrosionsbeständig sind und wie glatt die Oberfläche ist.» Und dann die Kontrollen: Frauen beugen sich in blauen Arbeitskitteln über Mikroskope, überprüfen in zweihundertfacher Vergrösserung Kugel um Kugel, zwei Kontrolleurinnen überprüfen die Arbeit der Kontrolleurinnen. Kein Wunder, dass 42 Prozent der Herstellungskosten alleine auf die Prüfungen entfallen. ERFOLGSFAKTOR GEDULD. Exaktheit ist das Erfolgsgeheimnis von Eglin. Im Segment der höherwertigen Kugeln hält Prime Alloy weltweit einen Marktanteil von 50 Prozent. Die Produktion geht ausnahmslos in den Export, Hauptabnehmer sind Kugelschreiberhersteller wie Parker oder Papermate. Millionen von Kügelchen werden auch ins Tessin verschickt, an Premec, den weltgrössten Produzenten von Kugelschreiberspitzen. Von diesen Spitzen geht ein Teil wieder nach China zurück und wird dort zu fertigen Kugelschreibern montiert – unter anderem in einer Firma, an der Eglin eine Minderheitsbeteiligung hält. Eglin ist nur einer von vielen «Langnasen», wie in China Ausländer genannt werden, die im Riesenreich ihr Heil suchen. Die meisten sind allerdings nur mit einem Repräsentationsbüro oder einer Verkaufsorganisation vor Ort. In eigene Werke investiert haben dagegen lediglich 300 Schweizer Unternehmen, schätzt Susan Horváth von der Swiss-Chinese Chamber of Commerce; dazu kommen nochmals zwei- bis dreihundert Schweizer Firmen in Hongkong. Das Interesse westlicher Unternehmer an China ist gross – ebenso die Angst, sich in der fremden Region nicht zurechtzufinden. Eine berechtigte Sorge. «Oft kommt es vor, dass ein Unternehmen sich nicht genügend gut vorbereitet und dann in einem schwierigen Markt wie China Schiffbruch erleidet», sagt Daniel Küng, CEO der Osec, des offiziellen Aussenwirtschaftsförderers der Schweiz. Denn China, und dies geht im Westen schnell vergessen, ist nicht ein Einzelmarkt, sondern setzt sich zusammen aus vielen Märkten, nur schon bedingt durch die enorme Ausdehnung des Landes, durch die unterschiedlichen Kulturen, die Bevölkerung oder die verschiedenen Sprachen. Einer der klassischen Fehler: China-Novizen erwarten rasche Erfolge. Beat Bürgi, Leiter des in Peking ansässigen Swiss Business Hub China, gibt Schweizer Interessenten meist den Ratschlag: «Verdoppeln Sie den Zeitrahmen für den Markteintritt, verdoppeln oder, besser noch, verdreifachen Sie das Investitionsbudget.» China als vermeintliches Kosteneldorado weist auch sonst viele Tücken auf. Mancher Unternehmer setzt wegen der Tiefstlöhne zum grossen Sprung an. Und ist dann völlig verdattert, wenn er die Realität erkennt: Im Land mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern steigen die Löhne, ja generell die Kosten steil an, mancherorts um 30 bis 50 Prozent über die letzten drei Jahre. Der vermeintlich unerschöpfliche Arbeitsmarkt ist ausgetrocknet, an Spezialisten herrscht Mangel. «In Südchina ist der Markt an Facharbeitern und Ingenieuren leergefegt», weiss Ivo Hahn, CEO der Firma Greater China in Hongkong, die zum Headhunter Stanton Chase gehört. Auch an ungelernten Arbeitern herrscht in vielen Provinzen Mangel. Insbesondere im Süden Chinas haben über die letzten Jahre Zehntausende neuer Werke ihre Pforten geöffnet. Alleine im Grenzgebiet zu Hongkong fehlen etwa zwei Millionen Arbeiter. Und die Regierung unternimmt alles, damit China nicht mehr als Billigfabrikant der westlichen Welt herhalten muss. Anfang 2008 wurde ein neues Arbeitsrecht eingeführt, das sich am deutschen orientiert, in vielen Punkten gar noch strenger ist. Dies verstärkt den Lohndruck zusätzlich. So erhofft sich die Zentralregierung in Peking, dass die Produktion von Massengütern in Länder mit tieferen Löhnen, wie Vietnam oder Indien, verlagert wird. Dafür sollen vermehrt Firmen angelockt werden, die in China für höhere Wertschöpfung sorgen. Die Massnahmen scheinen zu fruchten, bei westlichen Unternehmern findet ein Umdenken statt. Stanton Chase hat im vergangenen Jahr 175 multinationale Firmen gefragt, weshalb sie in China produzieren. Nicht Lohnaspekte standen im Vordergrund – zwei Drittel führten als Hauptgrund an, sie wollten damit einen besseren Marktzugang erreichen. 30 PROZENT FLUKTUATION. Eher aus Zufall nach China beziehungsweise Hongkong verschlagen hat es Gérard Dubois vor zwanzig Jahren. Der Bäcker und Konditor reiste in Diensten der Hotelkette Hilton um die Welt, arbeitete in London, Tokio, Guam, Seoul, Kuala Lumpur, Jakarta, Singapur, Shanghai und schliesslich in Hongkong. Dort machte sich der gebürtige Walliser 1991 selbständig und eröffnete in einem Einkaufszentrum ein Tearoom namens La Rose Noire. Schnell schuf er sich mit seiner Patisserie einen süssen Ruf, die Produktion wurde laufend erweitert, zuerst in Hongkong, später folgten Betriebe in Shanghai und Dongguan. Der 46-Jährige steht zwar immer noch selber am Backofen, doch meist ist er als Manager seiner Grossbäckerei mit 530 Beschäftigten unterwegs. Gegen 500 verschiedene Produkte an Feingebäck und Patisserie werden an internationale Hotels, an Starbucks China oder an 18 eigene Läden in Hongkong geliefert. Seit drei Jahren exportiert Dubois seine Backwaren auch nach Indien, Neuseeland, Thailand, Dubai und in die USA. Im Gegensatz zu vielen anderen ausländischen Unternehmern ist er mit den Rahmenbedingungen in Hongkong und China hochzufrieden. Ein Problem dagegen macht ihm zu schaffen: «Der starke Personalwechsel bereitet uns Schwierigkeiten. Während wir in Hongkong eine jährliche Fluktuation von 4 bis 5 Prozent haben, beträgt diese in den beiden Werken in China 20 Prozent.» Damit liegt Dubois sogar noch unter dem Schnitt. Denn die Personalfluktuation liegt in China durchschnittlich bei jährlich über 30 Prozent, so hoch wie nirgends sonst auf der Welt. «Nach unseren Erfahrungen bleibt der chinesische Arbeiter im Durchschnitt zweieinhalb Jahre bei einer Firma», sagt Beat Bürgi vom Swiss Business Hub China. Chinesische Manager halten es nach Beobachtungen von Ivo Hahn gar nur 15 Monate in einem Job aus. In einem harten Wettbewerb werben sich die Unternehmen gegenseitig Arbeiter ab. Firmenloyalität zählt kaum etwas, das Salär (fast) alles. Christian Schmidli, dessen Firma Proftech International Schweizer KMU beim Einstieg in Vietnam und China berät: «Der Chinese ist unglaublich pragmatisch, gerade beim Lohn. Er geht oft dahin, wo er mehr verdient.» Auch Contrinex aus Givisiez FR verzeichnete bei ihren 150 Stellen in China lange Zeit starke Wechsel. Der Produzent von Hochleistungssensoren für den Maschinenbau stellt hauptsächlich Frauen ein, weil diese bessere Fähigkeiten für die Feinarbeit zeigen als Männer. Die überwiegend aus ländlichen Gebieten stammenden Angestellten müssen von Contrinex für teures Geld ausgebildet werden. Doch kaum geschult, wurden sie von der Konkurrenz abgeworben. «Der hohe Personalwechsel hat die Funktion des Betriebs stark beeinträchtigt», erinnert sich Peter Heimlicher, Mehrheitsaktionär und CEO. Als Gegenmassnahme wurden die Arbeitsplatzbedingungen verbessert, die Fabrik klimatisiert und das Lohnniveau spürbar erhöht. Der ausschlaggebende Schritt: Contrinex liess eine einheimische Köchin einstellen. Nun können die Angestellten in der Kantine für weniger als einen Franken ein hervorragendes Menu essen. «So konnten wir die Fluktuationsrate weit unter 20 Prozent senken», freut sich der Firmenchef. Den China-Rekord hält wohl Prime Alloy. Walter Eglin reklamiert für sein Unternehmen eine Fluktuation von weniger als einem Prozent. Ein in Diensten des Bundes in China tätiger Berater bestätigt die Angaben und meint: «Das ist noch alte Schule, ein Patron par excellence. Der schaut für seine Angestellten, deshalb bleiben sie.» Eglin zahlt 14 Monatslöhne, stellt seinen Mitarbeitern Wohnungen kostengünstig zur Verfügung, sorgt für einen Gratis-Busdienst und lädt die Belegschaft auf Ausflüge ein. Weihnachten wird gemeinsam gefeiert, die Angestellten dürfen ihre Partner mitnehmen. «Wir sind eine Familienfirma, wie man sie in der Schweiz kennt. Hier ist so etwas zwar ungewohnt, kommt bei den Leuten aber gut an», sagt Walter Eglin. UNTERSCHIEDLICHE TRÄUME. Noch mehr Kopfzerbrechen bereitet den ausländischen Firmen die ungebremste Kopierfreude der Chinesen. «Wer nach China geht, muss damit rechnen, dass seine Produkte kopiert werden», sagt KMU-Berater Schmidli. Gerade europäische Hightechfirmen wollen nicht akzeptieren, dass ihre Erfindungen und Entwicklungen derart wenig respektiert werden. «Mancher Schweizer Unternehmer stellt sich deshalb die Frage, ob sich wegen der Produktpiraterie eine Expansion nach China überhaupt lohne», sagt Osec-Chef Daniel Küng. Für die Chinesen ist das Kopieren von Gütern oder Produktionsprozessen ein Kavaliersdelikt. «Sie vergleichen die Partnerschaft mit einer ausländischen Firma mit einer Ehe», so Ivo Hahn von Greater China. Und über die Ehe sagt der Chinese: Man teilt dasselbe Bett, doch man hat unterschiedliche Träume. «Der Ausländer will in China günstig produzieren, der Chinese erwartet einen Technologietransfer», erläutert Hahn. Der internationale Druck auf China wegen der Produktpiraterie wächst, und die Regierung hat reagiert. Das Resultat beschreibt Paul Thaler, Partner der auf China spezialisierten Wenfei Attorneys-at-Law in Zürich: «Heute sind die rechtlichen Grundlagen für den Schutz von geistigem Eigentum sehr gut. China hat diesbezüglich sogar mehr internationale Verträge unterschrieben als die Schweiz.» Das Gesetz ist die eine, dessen Geltendmachung die andere Seite. Thaler muss denn auch relativieren: «In der prozessualen Durchsetzung hinkt China dem Westen weit hinterher.» Und so wird schamlos weiter kopiert. Der in Bulle FR beheimatete Mischkonzern Liebherr etwa ist in China mit seiner Kühlschrankproduktion einem Piraten zum Opfer gefallen: Der damalige Joint-Venture-Partner Zhang Ruimin bediente sich nicht nur der Technik, er raubte den Liebherrs auch den in Asien bestens eingeführten Markennamen Haier. Oder ein mittelgrosser Schweizer Maschinenhersteller stellte 2006 an einer Textilmesse in China eine Maschine aus und entdeckte in derselben Ausstellung einen perfekten Doppelgänger davon; die Fälschung musste entfernt werden. Oder ein führendes Schweizer Chemieunternehmen liess in China eine neue Fabrik hochziehen. Nach der Fertigstellung wurde der Betrieb von Regierungsbeamten kontrolliert, die Baupläne wurden eingehend studiert. Wenige Monate später entstand 20 Kilometer entfernt eine Kopie des Werks – mit chinesischen Besitzern. Wenn der Staat wegsieht, müssen sich die Firmen selber gegen Kopierer wappnen. Contrinex etwa, deren Produkte immer wieder nachgemacht wurden, hat «spezifische Sensorikschalter mit der Technologie von Mikroprozessoren entworfen, die können von der chinesischen Konkurrenz gar nicht mehr kopiert werden», sagt CEO Heimlicher. Auf Innovationskraft setzt auch Eglin von Prime Alloy: «Wir sind mit unseren Innovationen der chinesischen Konkurrenz immer einige Schritte voraus. So kann sie unsere Qualität gar nicht kopieren.» Schindler wiederum, seit Jahrzehnten Zielscheibe von Kopisten, geht einen anderen Weg. «Heute haben wir das Problem besser im Griff. Das ist nicht zuletzt eine Folge davon, dass wir in China die Joint Ventures zu 100 Prozent übernommen haben», sagt Firmensprecher Riccardo Biffi. Ein anderes Problem des Aufzugs- und Fahrtreppenherstellers ist dagegen nicht aus der Welt: Inzwischen wird an völlig fremden Liften und Rolltreppen einfach das bekannte Blechschildchen von Schindler montiert. Das kann dem Konzern nicht egal sein, denn nun stellt sich die Haftungsfrage. Trotz allen Problemen kann es sich kaum eine grössere Firma heute erlauben, China links liegen zu lassen. «Denn das ist ein Markt mit enormem Potenzial», sagt Susan Horváth von der Swiss-Chinese Chamber of Commerce. Für manchen Schweizer Unternehmer, der in China eigentlich nur eine neue Produktionsstätte hochziehen wollte, ist das Land sogar zur neuen Heimat geworden. Für Gérard Dubois von der Grossbäckerei La Rose Noire beispielsweise ist eine Rückkehr ins Wallis undenkbar. Auch Walter Eglin, der Produzent von Kugelschreiberkugeln, kann sich den Umzug in die Schweiz nicht mehr vorstellen. Zwar hat er mittlerweile die Prime Alloy an ein japanisches Unternehmen verkauft, doch amtiert er weiterhin als Geschäftsführer und Präsident – und zwar auf Lebzeiten. «Das habe ich mir beim Verkauf ausbedungen», sagt der 70-Jährige und grinst dabei spitzbübisch. Von Ruhestand jedenfalls will der Baselbieter nichts wissen. «Ein chinesischer Wahrsager hat mir prophezeit, ich würde 103 Jahre alt. Da kann ich doch jetzt nicht schon aufhören zu arbeiten.» Mitarbeit: Kristina Reiss, Shanghai Schreiben Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel.
Chinas Ruf als Eldorado für kostengeplagte Westfirmen bröckelt. Der Arbeitsmarkt ist leergefegt, die Lohnkosten steigen. Die schamlose Kopierwut chinesischer Firmen gibt vielen Europäern den Rest.
Lesezeit: 10 Minuten
Von Stefan Lüscher
am 18.07.2008 - 02:00 Uhr
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