Es ist ein Experiment. Zwei Dutzend europäische und chinesische Filmemacher treffen sich Anfang August drei Tage lang zum gemeinsamen Schreiben auf dem geschichtsträchtigen Monte Verità, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Künstlerkolonie nach alternativen Lebensformen und Utopien suchte. Jetzt geht es nebst dem kulturellen Austausch auch um handfeste Interessen: Es sollen anhand von zehn konkreten Filmprojekten Geschichten entwickelt werden, die das Publikum beider Weltregionen interessieren.
Die Europäer wollen jetzt in Locarno vor allem lernen, Drehbücher zu entwickeln, die den chinesischen Geschmack treffen. Nachhilfeunterricht erhalten sie zum Beispiel von Shu Huan, dem Drehbuchautor der Komödie «Lost in Thailand», die in China nicht weniger als 200 Millionen Dollar eingespielt hat. Und sie wollen erfahren, wie man die Zensur umschiffen kann.
Gewaltiges Potenzial
Denn China, das ist der Kinomarkt, der die Filmbranche derzeit weltweit in helle Aufregung versetzt. «Der Markt ist riesig und vielversprechend, aber er macht auch vielen Angst», sagt Sophie Bourdon, die Präsidentin des Vereins Bridging the Dragon, die das Schreibatelier organisiert. Angst, die sich oft in Zurückhaltung manifestiert. Das Filmfestival Locarno hingegen hatte keine Berührungsängste – und lud Bourdon und ihre Mitstreiter prompt an den Lago Maggiore ein. «Es gehört zu den Zielen eines Filmfestivals, die Entstehung von Co-Produktionen zu unterstützen», betont der künstlerische Direktor Carlo Chatrian. Zudem sei China ein interessantes Land, dessen Filmgeschichte noch zu entdecken sei.
Die Wahl von Locarno hat auch etwas mit der jüngeren Geschichte des Festivals zu tun. In den neunziger Jahren zeigte der damalige künstlerische Direktor Marco Müller, der in den siebziger Jahren in China studiert hatte und Mandarin spricht, in Locarno immer wieder chinesische Filme, die der heimischen Zensur zum Opfer fielen. Müller soll sogar höchstpersönlich im Koffer Filmrollen aus China geschmuggelt haben, so jedenfalls geht die Legende. Später leitete Marco Müller die Filmfestivals von Venedig und Rom, heute ist er Chefberater des erst fünfjährigen Beijing International Film Festivals.
Ein zweites Tor zu China öffnet Locarnos Festivalpräsident Marco Solari heuer dank einer neuen Partnerschaft mit Swatch. Nebst dem First Feature Award für den besten Débutfilm offeriert die Uhrenmarke als zweiten Preis den Swatch Art Peace Hotel Award. Dieser umfasst einen drei- bis sechsmonatigen Aufenthalt in einem der 18 Künstlerateliers im legendären Hotelgebäude an Shanghais Uferpromenade Bund, das heute dem Schweizer Uhrenkonzern gehört. «Wir wollen Künstler aus aller Welt zusammenführen und einen Ort für sie schaffen, wo sie in Freiheit arbeiten können», sagt Swatch-Kreativdirektor Carlo Giordanetti.
Kunst und Kommerz
Im Gegenzug wird ein Videokünstler aus der Residenz in Shanghai nach Locarno an die Summer Academy eingeladen. «Wir glauben an den Austausch», betont Giordanetti, «aber der muss zwingend immer in beide Richtungen gehen.»
China ist aus künstlerischen Gründen interessant – aber mindestens ebenso auch aus kommerziellen. Landesweit über 25'000 Leinwände locken das chinesische Publikum ins Kino. Im Wochentakt kommen 100 neue hinzu. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Sollte China einst die gleiche Kinosaaldichte ausweisen wie die USA heute, dann dürften es letztlich rund 150'000 sein. Während in den USA die Einnahmen an der Kinokasse stagnieren oder gar schrumpfen, geht es in China nur aufwärts, um rund 30 Prozent pro Jahr. Im Vorjahr kletterten die Einnahmen auf 4,8 Milliarden Dollar, allein fürs erste Halbjahr 2015 belaufen sie sich schon auf 3,26 Milliarden Dollar. Bereits 2018 dürfte China die USA als grössten Kinomarkt übertrumpfen.
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