Es ist ein warmer, fast sommerlicher Tag. Kein Windhauch regt sich. Kein Wölkchen am Himmel, das die Sicht trüben könnte. Und so ist der Blick von Schloss Habsburg, hoch über der A3 bei Schinznach AG gelegen, famos: nach Westen ins Aaretal, weiter südlich in die Berner Alpenlandschaft, im Osten zum schneebedeckten Säntis und zum restlichen Alpsteinmassiv. Blickt man in Richtung Norden, sieht man an klaren, sonnigen Tagen bis in den Schwarzwald. Heute ist so ein Tag.
«So, auf gehts, wir haben noch was zu tun!» Die energische Stimme von Walter Knecht lässt die Idylle zerplatzen. Schwungvoll schnappt er seine blauen Krücken, die er seit einer kürzlich erfolgten Hüftoperation benötigt, und macht sich auf den Weg. Aber der 87-Jährige benutzt die Gehhilfen nicht wirklich – eher trägt er sie mit sich herum, als dass er sich auf sie stützen würde. Und das in einer Geschwindigkeit, die manch einen seiner Enkel alt aussehen lassen könnte.
Walter Knecht ist wohl der älteste aktive Unternehmer der Schweiz, aber man merkt ihm seine 87 Jahre nicht an. Und mit ähnlichem Elan, wie er ihn beim Abmarsch von der Habsburg an den Tag legt, leitet der rüstige Senior eines der grössten Reise- und Transportunternehmen dieses Landes: die Knecht-Gruppe mit geschätzten 220 Millionen Franken Umsatz und rund 600 Mitarbeitern. Es ist, wie der Name schon erahnen lässt, ein Familienunternehmen, und Walter Knecht führt es zusammen mit seinen Kindern. Der bekannteste seiner Sprösslinge: Thomas Knecht, lange Jahre Leiter der Schweizer Niederlassung von McKinsey und heute noch dort aktiv als Berater im Range eines Seniorpartners tätig.
Auf einem zwei Hektar grossen Firmengelände im aargauischen Windisch, inmitten von Gemüse- und Kornfeldern, hat der Knecht-Clan seinen Sitz. Zwischen Cars, Baggern und Lastern, zwischen Benzindämpfen und dem Stallgeruch der nahe gelegenen landwirtschaftlichen Betriebe hat auch Thomas Knecht seine Jugend verbracht. Fast jeden Job hat der Mann, der später einer der wichtigsten Schweizer Wirtschaftsführer werden sollte, in Freizeit und Ferien zusammen mit seinen Geschwistern hier im Familienunternehmen gemacht: Reisen verkauft, Krankenwagen und Lkw gefahren, gezügelt, sogar Bagger gesteuert. «Es war eine sehr bewegte Kindheit», sagt er. «Und eine sehr gute Schulung darin, früh unternehmerisch denken zu lernen.»
Das Asketisch-Zähe, die Chrampfer-Mentalität, den unbedingten Leistungswillen, kurz: jene Eigenschaften, für die er als späterer McKinsey-Chef bekannt wurde, hat er dabei aufgelesen. Vorgelebt von seinem Vater, der ihm gleicht und doch anders ist: «Dienen geht vor Verdienen» ist das Motto von Walter Knecht, und er hat es eisern durch sein Leben hindurchgezogen, durch jene Jahrzehnte, in denen er selber überall Hand angelegt und so die Knecht-Gruppe vom kleinen Familienunternehmen mit einem Dutzend Mitarbeitern zum Grossunternehmen aufgebaut hat. Walter Knecht ist kein Mann von Welt. Sondern ein bodenständiger, heimatverbundener Patron alter Schule. Jahrelang war er nie in den Ferien. «Die Kunden auf einer Carfahrt als Buschauffeur nach Apulien zu begleiten, war schöner als jeder Urlaub, auch wenn man vor Ort selten mehr als ein paar Stunden freihatte», erinnert sich der Senior.
Die Bescheidenheit drückt sich auch äusserlich aus: Sein Unternehmen dürfte 150 bis 200 Millionen Franken wert sein, aber statt einer Rolex trägt Walter Knecht eine Plastikuhr, statt feinen Tuchs Allerweltszwirn. Das Unprätentiöse hat er seinem Sohn weitergegeben: «Mehr Sein als Schein», nennt Thomas einen seiner wichtigsten Werte, «irgendwie schweizerisch» sei das. Was es nicht in die Gene geschafft hat, sind die Gelassenheit und die umgängliche Art des Vaters. Denn Thomas Knecht ist kein Charmeur, kein Menschenfänger. Die Perzeption seines Gegenübers schwankt zwischen musternd und misstrauisch, Smalltalk fällt ihm schwer, die Konversation bleibt immer hundertprozentig humorfrei. Selbst der Vater wäre froh, «wenn der Thomas manchmal etwas weniger ernsthaft wäre», wie er vor Jahren einmal zu Protokoll gab.
Walters Vater Johann, ein Förster im nahe gelegenen Döttingen AG, hatte das Unternehmen 1909 als Fuhrhalterei gegründet, um das Holz in die Sägerei zu transportieren – morgens um zwei, wenn die Bremen die Pferde noch nicht stachen. (Walters Bürotag beginnt normalerweise um viertel vor sechs, auch wenn er sich inzwischen, altersbedingt, gelegentlich etwas mehr Schlaf gönnt. Sohn Thomas steht um 4.30 Uhr auf zum Joggen auf die Habsburg und zurück. «Das Frühaufstehen scheint vererbt zu sein», schmunzelt er.) 1919 kaufte Johann aus der Liquidation der deutschen Armee den ersten Lkw. «Das Geld trug er bar auf sich; damit es ihm im Gästezimmer nicht gestohlen werden konnte, übernachtete er auf einer Bank.» Walter Knecht erzählt die fast ein Jahrhundert zurückliegende Historie, als wäre es gestern gewesen.
1948, als es dem Vater nicht mehr gut ging, übernahm Walter zusammen mit seinen Brüdern Hans und Paul das Unternehmen – auf Drängen der Mutter. Dass die Frauen über all die Jahre selber mitarbeiteten, ist «ein Grund, warum das Unternehmen noch besteht», sagt Walter Knecht. Andere von den Eltern vermittelte Werte: «ehrlich verhandeln, den Partner nicht über den Tisch ziehen», «sparsam leben», «stets investieren, das Geld nicht für private Vergnügen ausgeben», «seriöse, reelle Arbeit leisten zu verantwortbaren Entschädigungen» – die Erfolgsrezepte, die Walter Knecht zitiert, klingen wie aus einer anderen, längst vergangenen Zeit. Sie sind im Unternehmen bis heute gültig.
Die boomenden fünfziger und sechziger Jahre boten dem Unternehmen Wachstumschancen. Um sie zu nutzen, gingen die Knechts bisweilen grosse Risiken ein. Für den ersten Occasionscar musste Walter Knecht nach dem Krieg seine Lebensversicherung verpfänden. Auf der Suche nach Marktlücken im Transportgewerbe führte er zahlreiche technische Neuerungen in der Schweiz ein: die erste Caterpillar-Planierraupe 1952, den ersten Setra-Bus ein Jahr später, den ersten Pneukran 1964. Die gewagten Anschaffungen waren Schlüsselstellen der Firmenhistorie, und sie führten immer zum Erfolg. Glück oder Können? «Beides», sagt Walter Knecht.
Nahe liegend, dass eines seiner fünf Kinder das Unternehmen weiterführen sollte. Der älteste Sohn, Armin, erfüllte ihm den Wunsch nicht. Er studierte Jus und ist heute Präsident des Handelsgerichtes Aarau. Sohn Daniel hat der Familie vor neun Jahren das Baugeschäft abgekauft und sich damit selbständig gemacht. Tochter Ruth ist immerhin im Unternehmen tätig: Bei der Eurobus-Gruppe ist sie für Leserreisen und für Kommunikation zuständig, für die Holding löst sie Spezialaufgaben. Heinz Knecht, Walters Neffe und langjähriger Stellvertreter, sitzt im Verwaltungsrat. Doch die Führung liegt immer noch bei Walter Knecht und den von ihm eingesetzten Direktoren Roger Geissberger, Andreas Meier, Urs Geissmann sowie dem Finanzchef Marcel Wüst.
Auch Thomas als zweitältesten Sohn hätte Walter gerne an der Unternehmensspitze gesehen. Doch vorher sollte er noch ausserhalb des Betriebs Erfahrung sammeln, insistierte der Vater. Die Idee war gut gemeint, doch schlecht durchdacht. Denn es kam, was kommen musste: Thomas Knecht blieb hängen. Er arbeitete bei der BBC und machte gleichzeitig seinen Doktor. Anschliessend hängte er noch eine MBA-Ausbildung beim Insead in Fontainebleau an. Dort wurde er von McKinsey angesprochen – die Unternehmensberatung rekrutiert systematisch an den Eliteschulen. «Aus Neugierde und um den Horizont zu erweitern» sagte er zu, vorerst für zwei Jahre. Seither heisst sein Familienunternehmen McKinsey. 27 Jahre ist er diesem bislang treu. «Es hat mir sehr viele Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten geboten», ist seine Begründung. Von 1994 bis 2004 leitete er die Schweizer Landesgesellschaft, seit 1999 sitzt er im weltweiten Verwaltungsrat der Edelberater. Der Vater hat es akzeptiert, aber nie wirklich verstanden. «Es gab schon Momente, da er das Gefühl hatte, meine Rückkehr wäre eine Alternative zu McKinsey», drückt es Thomas Knecht diplomatisch aus.
So pendelt er zwischen zwei Welten: Ist er für seinen Hauptarbeitgeber unterwegs, ist sein Spielfeld die weite Welt, fliegt er First Class und logiert in mondänen Fünfsternehotels, entwirft er in den prunkvollen Hauptsitzen der Grosskonzerne weltumspannende Fusionen. Kommt er zurück zum Familienunternehmen, heisst das Spielfeld Windisch, trifft man sich in einem trist-grauen Industriebau aus den sechziger Jahren, geht es um den neuen Pneukran und die typischen Probleme eines Kleingewerblers. «Es ist eine andere Welt», sagt er selber. «Aber auch dort braucht es die richtige Person am richtigen Platz.»
Thomas ist nicht der einzige McKinseyaner in der Familie Knecht: Bruder Beat heuerte 1996 ebenfalls bei den Ledernacken in Zivil an. Sein damaliger Chef: Bruder Thomas, der jedoch im Rekrutierungsprozess und bei der Leistungsbeurteilung in den Ausstand trat.
Dass auch Beat nicht im Familienunternehmen blieb, lag an der Wang-Textverarbeitungsanlage, die Vater Walter in den frühen achtziger Jahren anschaffen liess. «Ein gewaltig grosser Kasten, unglaublich teuer – und wir standen händeringend davor, weil er wegen eines Softwarefehlers nicht funktionierte», erinnert sich Beat. In diesem Moment entschied er, Informatiker zu werden. Seit fünf Jahren realisiert er nun für McKinsey im Silicon Valley IT-Projekte. Für die zehn Sitzungen des Knecht-Verwaltungsrates im Jahr fliegt er aus San Francisco ein oder schaltet sich telefonisch dazu. Dann durchleuchten die beiden Berater mit scharfem Verstand und bewährten McKinsey-Methoden jeden einzelnen Unternehmensbereich. «Sind die Zahlen gut, ist alles gut», sagt der Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft. «Aber wenn nicht, geben sie nicht Ruhe, bis sie das Problem identifiziert und Lösungsvorschläge gefunden haben.»
Wie reagiert der 87-jährige Patron, wenn die Kinder im Familienunternehmen das neueste Managementwissen implementieren wollen? «Lasst mich in Ruhe mit eurem Wall-Street-Zeugs, es wird nur ausgegeben, was vorher eingenommen wurde!», wäre die nahe liegende Antwort. «Es ist ein Glück, dass die jungen Leute so mit der Zeit gehen», ist die tatsächliche.
So half es dem Unternehmen, dass Thomas Knecht in den achtziger Jahren das Rechnungswesen einführte und dass sein Bruder Beat später die IT-Strategie entwarf. «Da haben mich die Jungs verwöhnt und vor Fehlern bewahrt», sagt Walter. Aus der Küche von McKinsey, die ebenfalls stark über Werte geführt wird, stammen auch die bedingungslose Kundenausrichtung und die konsequente Leistungskultur: Die Resultate von Kundenbefragungen werden bei den Knechts ebenso am schwarzen Brett veröffentlicht wie die individuellen Ergebnisse; wer den Erwartungen nicht standhält, bleibt nicht lange im Unternehmen. Alle anderen beteiligen die Knechts dafür am Gewinn, bis hinunter zum Schalterpersonal. Dass man aus wirtschaftlichen Gründen nie einen Mitarbeiter auf die Strasse stellen musste, darauf ist Walter Knecht stolz. Und der Patron kümmert sich persönlich um jeden Angestellten: «Wenn am Sonntag der Chauffeur von einer mehrtägigen Carfahrt zurückkommt und auf dem Firmengelände ist noch der Patron und fragt ihn: ‹Und, wie ist es gelaufen?›, dann ist das ein Wert, der mit Geld nicht zu beziffern ist», sagt Andreas Meier, Leiter Personentransport.
In den siebziger Jahren diversifizierte Knecht in den öffentlichen Verkehr, der regelmässige Einkünfte bringt. Mit der Stoppuhr in der Hand fuhren Walter und Thomas die Routen ab und erstellten den Fahrplan. Heute betreibt Knecht den öffentlichen Verkehr im Glattal rund um den Flughafen, in Lenzburg und in Kreuzlingen. In den neunziger Jahren sprengte das Unternehmen die regionalen Grenzen und diversifizierte – ein Schritt, den viele Mitbewerber nicht schafften, sodass sie deshalb später vom Markt verschwanden. 1992 übernahm Knecht den Konkurrenten Eurobus, ein Jahr darauf den Spediteur Welti-Furrer mit 140 Mitarbeitern. Erneut ein grosses Wagnis, das Walter Knecht mit seinen damals 74 Jahren eingegangen ist. «Es hat sich gelohnt», sagt er heute.
Bei wichtigen Entscheidungen tagt der Familienrat am Mittagstisch. «Aber es braucht stets ein Zugpferd in der Führung», sagt Walter Knecht und lässt keinen Zweifel daran, dass er damit auch mit 87 Jahren noch sich selber meint. «Sehr kontroverse Ideen lassen wir halt sein», nennt es Thomas Knecht.
Gemeinsam kämpft die Familie für ihr Unternehmen. Rund 220 Millionen Franken Umsatz macht die Knecht-Gruppe in den drei Bereichen Reisen, Personen- und Sachtransporte. In der Reisebranche dürfte Knecht der fünftgrösste Anbieter der Schweiz sein, hinter Kuoni, Hotelplan, TUI und der Travelhouse-Gruppe. Im Bereich Personentransporte ist die Firma Knecht mit ihren 40 Reisecars der Marke Eurobus und ihren 100 Linienbussen klar die Nummer eins unter den privaten Anbietern; die beiden nächsten Verfolger haben je 30 Fahrzeuge. Bei den Sachtransporten belegt Knecht zwei Nischen: zum einen das lokale Umzugsgeschäft mit der Marke Welti-Furrer, zum anderen das schwere Transportgeschäft mit Tiefladern, die beispielsweise für Alstom Turbinen zwischen Baden und Birr befördern.
Die Margen sind durchs Band hauchdünn: In guten Jahren liegen sie bei vier, vielleicht fünf Prozent. Aber 2005 war kein gutes Jahr. «Ich bin zufrieden, wir klagen nie», sagt Walter Knecht in der ihm eigenen Bescheidenheit. Und: «Man muss das langfristig sehen.»
Diese Unaufgeregtheit ist mit ein Grund, warum es die Firma Knecht immer noch gibt. In 31 Monaten wird sie 100 Jahre alt. Mehr als sechs Jahrzehnte lang, so Gott will, wird Walter Knecht sie dann geleitet haben. Aber vielleicht, vielleicht wird ja dann ein Knecht aus der vierten Generation, eines der insgesamt neun Enkelkinder von Walter, in das Familienunternehmen einsteigen. «Sie sind, wie andere motivierte Mitarbeiter, willkommen», sagt Thomas Knecht.
Gibt es zum runden Jubiläum wenigstens eine grosse Feier? «Wir neigen zum Unter- statt zum Übertreiben», sagt Walter Knecht, «deswegen glaube ich das nicht.» Und die Art, wie er es sagt, macht klar: Er glaubt es nicht, er weiss es bereits.