Gegen fünf Uhr nachmittags fahren die Limousinen vor; Herren, allesamt um die 60 Jahre alt, entsteigen den Wagen und verschwinden in der Zentrale des Chemiekonzerns Clariant. Ausserordentliche Verwaltungsratssitzung, einer der ersten Frühlingstage Mitte März.

Der Firma geht es nicht gut.

In der Bilanz 2002 prangt ein Verlust von 648 Millionen Franken. Schuld ist eine Sonderabschreibung von 790 Millionen Franken. Clariant hat vor drei Jahren die britische Firma BTP für teure 2,8 Milliarden Franken gekauft und später festgestellt, dass sie ihr Geld nicht wert ist. Schon 2001 wurden 1,2 Milliarden Franken dafür abgeschrieben.

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Das Management hat sich zerstritten. Es kommt das Gerücht in die Welt, man plane eine Kapitalerhöhung, und zwar nicht zu knapp: mindestens 600 Millionen Franken. Das Gerücht bleibt einige Tage im Raum, unbestätigt, unklar, wer es wem eingeflüstert hat. Eine Kapitalerhöhung in einer Zeit, in welcher der Aktienkurs auf dem tiefsten Stand seit dem Börsengang 1995 steht.

Konzernchef Reinhard Handte verzettelt sich auf der Bilanz-Pressekonferenz: Er halte es für sinnvoll, das Kapital zu erhöhen. Geschrieben steht das nirgends, bestätigen mag es niemand, Verwirrung herrscht. Die Alternative: Firmenteile verkaufen. Endlich das leidige BTP-Geschäft wieder loswerden.

Es hagelt Kritik: Handte sei unfähig, der Verwaltungsrat verschlafen, man fahre auf Schlingerkurs. Der Kurs der Aktie sackt abermals um 13 Prozent ab.

Dann trifft sich der Verwaltungsrat. Nach fünf Stunden ist klar: Handte geht, auf eigenen Wunsch, heisst es offiziell. Das Kapital wird nicht erhöht.

Eine unglückliche Mixtur aus unternehmerischen Fehlentscheiden, schlechter Personalwahl und schwacher Konjunktur hat dazu geführt, dass es so weit kommen konnte. Einen muss das besonders schmerzen: Rolf W. Schweizer. Schweizer ist der Mann, der Clariant die britische Firma BTP einbrockte; er installierte Konzernchef Handte, dessen Agieren Clariants Schieflage verschlimmerte. Schweizer war von Beginn an bis Mitte 2002 Verwaltungsratspräsident, von 1999 bis 2001 ausserdem Konzernchef. Die Firma ist sein Baby.

Eher unsanft stellt 1995 die Basler Sandoz ihr Chemiegeschäft auf eigene Beine. Rolf W. Schweizer gilt bis dahin als Kronprinz des Sandoz-Präsidenten Marc Moret. Doch dann gibt Moret Daniel Vasella den Vorzug und macht Schweizer zum Verwaltungsratspräsidenten des ehemaligen Chemiegeschäfts, der neuen Clariant. Schweizer, 65-jährig und auf eine Karriere als Rädchen eines grossen Unternehmens zurückblickend, muss sehen, wie er allein klarkommt.

Moret stattet Clariant alles andere als üppig aus. Er gönnt der neuen Firma nur das Nötigste an Gebäuden, eine knappe Kasse, 8400 Mitarbeiter, 2,15 Milliarden Franken Umsatz. Auf der Bilanz lasten Schulden von 750 Millionen Franken. Noch bevor es losgeht, ist klar: Als Erstes muss restrukturiert werden, die Kosten müssen weiter runter. Obendrein gibt Moret den Clariant-Mitarbeitern das Gefühl mit auf den Weg, verstossen worden zu sein. Mageres Rüstzeug.

Schweizer und seine Leute sind getragen von dem Gedanken: Denen zeigen wir es. Die werden es noch bereuen, uns verkauft zu haben. Sparsamkeit ist man von Sandoz gewohnt. Bei Clariant schnallt Schweizer den Gürtel noch enger. Alle halten zusammen, krempeln die Ärmel hoch. «Eine tolle Zeit», sagt der damalige Finanzchef Roland Lösser. Noch kann es nur bergauf gehen.

Schweizer sei ein Macher, sagen viele, die ihn kennen. Sein Vorbild ist Moret, ein Patriarch alter Schule. Schweizer, ein hochrangiger Offizier, gilt als harter Mann. Er regiere diktatorisch, sagen Leute, die ihm weniger wohl gesonnen sind. In Verwaltungsrat und Konzernleitung schare er Leute um sich, die er leicht auf seine Linie einschwören könne. «Leute ohne Profil», sagt ein damaliger Mitarbeiter. Ein kritischer Verwaltungsrat hätte Clariant später gut getan.

Ende 1996 bietet sich die Chance, es Moret und den Sandoz-Leuten wirklich zu beweisen. Der deutsche Chemiekonzern Hoechst signalisiert, er wolle sich von der Spezialchemie trennen. Clariant sucht nach einem starken Partner.

Schweizer und sein Finanzchef Lösser reisen in die deutsche Kleinstadt Hoechst bei Frankfurt und treffen den damaligen Hoechst-Chef Jürgen Dormann zum Mittagessen ? auf dem konzerneigenen Schlösschen. Bei Hoechst gehört das Grosse, Nach-aussen-Gekehrte zur Kultur. Dormann macht dem Besuch aus der Schweiz klar, dass die Spezialchemie nur als Ganzes zu haben sei und nicht häppchenweise ? worauf Schweizer und Lösser mit ihrem kleinen Budget zählen.

Dormann schlägt vor, Clariant solle das Aktienkapital erhöhen und damit den Kauf bezahlen, Hoechst übernehme dann 45 Prozent an der erweiterten Clariant. Das kommt einer Übernahme der grossen Hoechst Spezialchemie durch die kleine Clariant gleich. Für Schweizer ein ungeheurer Coup. Auf einen Schlag präsidiert er einen der grössten Chemiekonzerne weltweit, eine Firma mit über 30 000 Mitarbeitern und fast acht Milliarden Franken Umsatz.

Die Hoechst-Leute fühlen sich von Dormann verraten ? ähnlich wie ihre Schweizer Kollegen eineinhalb Jahre zuvor von Moret. Auch hier die Einstellung: Wir werden es denen beweisen. «Wir waren besessen davon, aus den beiden verstossenen Parteien eine Firma zu machen, die Motivation war riesig», sagt ein damaliges Kadermitglied. Doch die Integration kommt schleppend voran. Clariant und Hoechst haben wenig gemein. Bei Hoechst ist man gewohnt, aus dem Vollen zu schöpfen. «Unsere spartanische Kultur wurde über den Haufen geworfen», sagt ein damaliges Kadermitglied. Das Geschäft siedelt vor allem in Deutschland, wo Stellenabbau und Restrukturierungen schwer durchzusetzen sind.

Noch während des Umbaus schaut sich Schweizer nach weiteren Chancen um. Er hasst Stillstand. «Die Hoechst-Übernahme war noch nicht abgeschlossen, als man sich schon auf die nächste Expansion gestürzt hat», sagt ein ehemaliges Kadermitglied. Wenn sich Schweizer mit Hoechst begnügt hätte, wären die Dinge weniger aus dem Ruder gelaufen. Doch er hat grössere Pläne.

Knapp zwei Jahre nach dem Hoechst-Deal scheint sich für Schweizer die nächste Chance aufzutun: Im Herbst 1998 kündigen Clariant und Ciba Spezialitätenchemie, Nachbarn am Rhein, ihre Fusion an. Wenige Wochen nach der Bekanntgabe blasen die Unternehmen das Vorhaben wieder ab: Die Risiken seien zu gross. Hinter den Kulissen hatte Schweizer versucht, ein für Clariant besseres Austauschverhältnis durchzudrücken. Ciba-SC-Verwaltungsratspräsident Rolf A. Meyer, eigentlich ein Verfechter der Fusion, sieht seinen Rückhalt beim Management schwinden und lässt sich auf die neuen Forderungen nicht ein.
Für den 68-jährigen Schweizer zerbricht damit der Traum, sich als grosser Chemiefusionierer vom Rhein ein Denkmal zu setzen. «Er hat das als Niederlage empfunden», sagt ein enger Mitarbeiter. Auch das treibt Schweizer schliesslich in das BTP-Abenteuer: Er will sich mit einem Erfolg in den Ruhestand verabschieden. Doch daraus wird nichts.

Die Welt sieht für die Chemieindustrie Ende der Neunzigerjahre rosarot aus. Neuste Mode ist es, Agro- und Pharma- unternehmen zu beliefern, das Geschäft mit der Feinchemie. Pharma- und Agrofirmen lagern die Herstellung von Vorprodukten vermehrt aus. Die Branchen werden assoziiert mit Gewinnmargen im zweistelligen Bereich ? ein Wachstumsmarkt. Daran hoffen die Chemiehersteller anzudocken. Eine Goldgrube scheint sich aufzutun: Die Branche wächst, die Konjunktur blüht. Es hat etwas von einem Traum, einem Rausch. Jeder will dabei sein. Auch Rolf W. Schweizer.

Clariant hat ein bisschen Feinchemiegeschäft von Hoechst geerbt. Zu wenig, um zu überleben, zu viel, um ganz darauf zu verzichten. Umweht von der allgemeinen Begeisterung für das Geschäft mit Pharma und Agro, beschliesst Schweizer: Feinchemie ist strategisch wichtig für uns. Ein Entscheid, den Clariant bitter büssen sollte.

In der Firma führt man eine Liste mit Unternehmen, die man gern übernähme. Lonza steht auf Platz eins, ist aber nicht zu haben. Der britische Feinchemiehersteller BTP belegt den zweiten Rang. Die in Manchester ansässige BTP hat Werke auf der ganzen Welt, 2800 Mitarbeiter, 975 Millionen Franken Umsatz.

Rolf Schweizer will BTP. Koste es, was es wolle. Er ist in Sorge, dass ihm ein anderer das Unternehmen vor der Nase wegschnappen könnte. Es gibt, so heisst es, Mitbewerber. Man muss schnell handeln; darüber vergisst man, genau hinzuschauen. «Die Sorgfaltsprüfung ist nur sehr oberflächlich gemacht worden», sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. Hätte man genau hingeschaut, hätte sich gezeigt, dass BTP ein Sammelsurium ist: In den Jahren zuvor haben die Briten Firmen auf der ganzen Welt zusammengekauft. Von Integration keine Spur. Als Risiko wird das nicht wahrgenommen. Hinzu kommt: Man ist spät dran. Die Konkurrenz hat sich in dem Gebiet bereits einen Namen gemacht.

Aus Angst, ein anderer könne ihn ausstechen, bietet Schweizer 2,8 Milliarden Franken für BTP, das 28fache des Gewinns. Ein exorbitanter Preis. Auch aus damaliger Sicht. Die Konkurrenz lacht nur noch, besagen Gerüchte. «Es war klar, dass sich da Blinde und Lahme zusammentun», sagt ein Insider. Der Kurs der Clariant-Aktie sinkt sowohl nach den ersten Gerüchten als auch nochmals nach Bekanntgabe des Deals. Vielleicht hätte man stutzig werden können.

Bald nach dem Kauf von BTP macht sich Schweizer auf die Suche nach Nachfolgern als Konzernchef und als Verwaltungsratspräsident. Für den Posten des CEO drängen sich zwei Personen auf: Reinhard Handte, Chief Operating Officer, und Roland Lösser, Chief Financial Officer. Schweizers Wahl fällt auf Handte, den Mann, der ihn beim BTP-Kauf beraten hat. Ein Fan der Feinchemie. Lösser dagegen hat Schweizer oft heftig kritisiert. Der Finanzchef wehrt sich gegen den BTP-Kauf zu solch hohem Preis. Kurze Zeit später schmeisst er sein Amt hin und zieht sich in den Verwaltungsrat zurück. Eine versteckte Warnung? Für Handte spricht ausserdem, dass er als Chemiker die Branche aus dem Effeff kennt. Lösser ist Ökonom und hat fast sein ganzes Berufsleben bei Sandoz verbracht. Handte ist ein alter Hoechst-Mann, und Clariant besteht überwiegend aus alter Hoechst.

Eine unglückliche Wahl. Schweizer hinterlässt Handte mit BTP ein schweres Erbe. Diesem misslingt es, sich rechtzeitig einzugestehen, dass man sich verrannt hat. Die Heftigkeit, mit der das Feinchemiegeschäft bald abstürzt, überrascht jedoch alle. Pharma und Agro florieren nicht wie erhofft, die Ausgliederung der Vorproduktherstellung wird gestoppt. In Indien und China wächst ernst zu nehmende Konkurrenz heran. Die Zulassungsbehörden für Medikamente wie die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) fahren eine restriktivere Politik: Medikamente werden später oder gar nicht zugelassen, die entsprechenden Vorprodukte nicht gebraucht. Clariant ist es nicht gelungen, sich in der Branche einen Namen zu machen, die Basler bekommen den Einbruch stärker zu spüren als andere.

Bereits 2001 schreibt Clariant 1,2 Milliarden Franken ab. Das Unternehmen hat sich ? im Gegensatz zu Konkurrenten wie Ciba oder Lonza ? wenig für schlechte Zeiten gewappnet: «Man hat unterschätzt, dass BTP nicht integriert ist», sagt ein damaliger Mitarbeiter. «Das Szenario der schlechten Konjunktur ist nicht durchgespielt worden.» Handte hält noch im November 2002 öffentlich am so genannten Life-Sciences-Geschäft fest. «Wahrscheinlich hat man so lange gewartet, weil man bis zuletzt auf den Aufschwung gehofft hat», sagt Bernd Pomrehn, Analyst bei der Zürcher Kantonalbank.

Zu Fall bringt Handte letztlich seine ungeschickte Kommunikation. Anstatt Fehler zu benennen und Lösungen zu präsentieren, versteigt er sich in schwammige Äusserungen. Wie es um das Unternehmen steht, sickert schon vor der offiziellen Bekanntgabe durch. Handte muss sich im Unternehmen Feinde gemacht haben. Beliebt ist er bei seinen Mitarbeitern nicht: Der Champagner steht schon kalt, bevor endgültig entschieden ist, ob er Clariant verlässt.

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet der Mann wird die Suppe auslöffeln, der vor drei Jahren den Kauf von BTP kritisiert hat: Roland Lösser. Nach Handtes Rauswurf bittet man ihn, die Geschäfte bei Clariant zu führen. «Wir bauen auf unsere traditionellen Tugenden: Marktorientierung, schlanke Strukturen, kurze Entscheidungswege», sagt Lösser. Der alte Sandoz-Geist. Die Sparte Life-Sciences bleibt nicht länger im strategischen Fokus und steht sogar, sofern sich zahlungskräftige Käufer finden, ebenso wie die Elektronikchemikalien und Master-Batches zum Verkauf. Lösser setzt auf das angestammte Geschäft: Pigmente und Additive, Textil-, Papier-, Leder- und Funktionschemikalien.

Schweizers Zeit bei Clariant ist endgültig vorbei. «Er wird versuchen, noch Einfluss geltend zu machen», sagt ein früherer enger Mitarbeiter. Ihn plage ein schlechtes Gewissen. Fast 73-jährig, wohnt er als Ehrenpräsident den Verwaltungsratssitzungen bei. Er hat noch ein Büro bei Clariant, lässt sich aber nur noch selten blicken. Die Fäden ziehen heute andere. Vor Bekannten hat sich Schweizer beklagt, dass man ihn nicht mehr um Rat frage.