James Bond ist tot. Zersiebt von unzähligen Kugeln aus den Maschinengewehren seiner Widersacher, doch ein paar Sekunden später steht er schon wieder im Einsatz. Den gleichen Fehler macht er nicht noch einmal, dafür vielleicht einen anderen. Im Vergleich zum übermenschlichen Kinohelden ist der Bond aus dem Videospiel «007: Everything or Nothing» nur so gut wie der Spieler, der ihn führt.
Hinter dem einzigen James-Bond-Abenteuer dieses Jahres steckt der grösste unabhängige Videospielhersteller Electronic Arts. Das Aushängeschild der noch jungen Branche wurde 1982 gegründet. Die inzwischen mit 15 Milliarden Dollar kapitalisierte Firma setzte im vergangenen Jahr fast drei Milliarden Dollar um; dank guten Verkäufen und Einsparungen um 82 Prozent erhöhte sie den Gewinn auf 577 Millionen Dollar. Dahinter stecken erfolgreiche Eigenprodukte wie die Bestseller «The Sims» und die «Need for Speed»-Serie, aber auch eine konsequent verfolgte Akquisitionsstrategie von Produktionsstudios und erstklassigen Lizenzen aus Sport und Unterhaltung wie Fifa, Harry Potter oder eben James Bond.
Seit über zwanzig Jahren verbindet Hollywood und die Videogame-Industrie eine mehr oder minder innige Beziehung. Anfangs betrachteten die Studiobosse den interaktiven kleinen Bruder als Ergänzung zum mit Puppen, Tassen und Käppis ausgereizten Merchandise-Markt. «Das Spiel zum Film» erschien erstmals 1982 zu Walt Disneys Sciencefiction-Märchen «Tron». Es bot die unglaubliche Möglichkeit, in die Haut des Helden zu schlüpfen und die Abenteuer aus dem Film eigenhändig nachzuspielen. Die Kinofans liebten es.
Die Euphorie war von kurzer Dauer. Noch 1983 meinte Game-Entwickler Atari, dass er mit den Rechten zu Steven Spielbergs familienfreundlicher Ausserirdischen-Fiktion «E.T.» die Lizenz zum Gelddrucken erworben habe. Zuversichtlich produzierte Atari sechs Millionen Einheiten des interaktiven Abenteuers. «Die einzige Fliege in der Suppe: Das Spiel war grauenhaft», sagt Videospiel-Kolumnist Steven Poole. Die «E.T.»-Kassetten wurden lastwagenweise in einer Wüste Neu-Mexikos verscharrt und mit ihnen fast auch die Videospielbranche, die einen immensen Imageschaden erlitt.
Heute sind sich Hollywood und die Game-Industrie so nah wie nie zuvor. Die meisten Videospielentwickler führen Filmlizenz-Auswertungen in ihrem Portefeuille, so auch Activision, mit einem Umsatz von 947 Millionen Dollar und einem Reingewinn von 77 Millionen Dollar der zweitgrösste Player auf dem interaktiven Markt. Activision verfügt über ein Abkommen mit den DreamWorks-Studios, aus dem dieses Jahr vier Titel hervorgehen werden, darunter das Game zum Animations-Hit «Shrek 2». Dank einer Vereinbarung mit der Marvel Comics Group kommt nach zwei Jahren Produktionszeit «Spider-Man 2» plangerecht zum Kinostart des gleichnamigen Blockbusters in die Läden. Die Rechte zu «Spider-Man 3» sind ebenfalls bereits gesichert.
«Die Filmindustrie hat gemerkt, dass Videospiele mehr als nur Merchandise-Artikel sind», beschreibt Gerhard Florin, Europa-Chef von Electronic Arts, das heutige Verhältnis zwischen Hollywood und der Videospielindustrie. Vor ein paar Jahren überholte der weltweite Umsatz der Game-Branche die von Hollywood gemachten Einnahmen an den Kinokassen. 2003 lieferten sich die ungleichen Unterhaltungsbrüder in den USA mit jeweils zehn Milliarden Dollar Umsatz ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Jetzt schlagen Electronic Arts, Konami und Co. ihre Lager nur einen Steinwurf entfernt von den Filmstudios auf und werden mit offenen Armen empfangen.
«Die Kreativen, die Regisseure und Drehbuchautoren sehen ein weiteres Arbeitsfeld für ihre Ideen. Die Studios erkennen das Potenzial des Zusammenwachsens von linearer und nonlinearer Unterhaltung», sagt John Batter, Group General Manager von Electronic Arts Los Angeles, einem eindrücklichen Campus im küstennahen Stadtteil Playa Vista, den BILANZ exklusiv vor dessen offizieller Eröffnung besuchen konnte. 400 Leute arbeiten hier an filmverwandten Spielen wie «Lord of the Rings: The Battle for Middle Earth», aber auch an eigenen Marken wie der von Steven Spielbergs DreamWorks-Studios ins Leben gerufenen Zweite-Weltkrieg-Kampfsimulation «Medal of Honor».
In den letzten Monaten hat Electronic Arts damit begonnen, gezielt Talente aus dem Filmbusiness anzuwerben, zum Beispiel Oscar-Gewinner Mark Lasoff, der bei aufwändigen Œuvres wie «Titanic» und «Apollo 13» mitgewirkt hatte. «Das Team unseres ‹Lord of the Rings›Strategiespiels besteht zu 15 Prozent aus ehemaligen Hollywood-Mitarbeitern», sagt Mark Skaggs, ausführender Produzent von «The Battle for Middle Earth». «Früher arbeiteten hier nur Gamer und Computerfreaks. Jetzt sind es vor allem Leute, die Videospiele lieben, aber auch über ein Know-how von zwanzig Jahren aus dem Filmunterhaltungsbusiness verfügen.» Sie bringen cineastische Perspektiven, Kamerafahrten und anderes mehr ins Spiel. «Die Konsumenten unterscheiden je länger, je weniger zwischen dem, was sie auf der grossen Leinwand, und dem, was sie am Fernseher sehen», ist Skaggs überzeugt. «Auf visueller Ebene kommen sich Games und Filme immer näher.»
Auch auf der technischen Seite finden sich die beiden Medien – die fortschreitende Digitalisierung des Kinos macht es möglich. Für Videospiele müssen ähnlich wie bei Trickfilmen dreidimensionale Modelle der verschiedenen Figuren gefertigt werden, die dann vom Computer eingelesen und anschliessend animiert werden. Bei einer Lizenzproduktion wie den «Lord of the Rings»-Games kann auf die Unterstützung des Filmstudios gezählt werden. «Wir erhielten die dreidimensionalen Computermodelle direkt aus dem Film», sagt Skaggs, dessen neustes Werk sich im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen kann. Bei «The Battle for Middle Earth» verschmilzt erstmals die fantastische Welt des epischen Kinos mit der interaktiven Attraktivität eines Echtzeit-Strategiespiels.
Es ist wahrlich verblüffend, was sich in den letzten Jahren getan hat. Bereits im Sommer 2000 wies Andrew Kennedy, einst leitender Produzent der Sony Computer Entertainment Studios in Cambridge, bei einem Vortrag im Gottlieb Duttweiler Institut auf den anstehenden Trend hin. «Near to Hollywood» nannte er seine Ausführungen, in denen er aufkommende Parallelen zwischen Spielfilmproduktion und der Entwicklung von Videospielen sowie deren Problematik aufzeigte: Vermochten in den Anfangszeiten der interaktiven Medien, ein bis zwei engagierte Programmierer im Alleingang ein Spiel auf die Beine zu stellen, sind inzwischen die Produktionsteams für die aktuelle Spielegeneration auf über fünfzig Mann angewachsen, und die Budgets steigen Jahr für Jahr.
Während technologischer Fortschritt in der Regel eine kostengünstigere Produktion mit sich bringt, bildet die Videospielindustrie die Ausnahme. Mit jeder neuen Gerätegeneration vergrössert sich die grafische Auflösung: Sonys Playstation 1 bot bei 32 Bit Rechenleistung 180 000 Polygone, die Playstation 2 mit 128 Bit setzt auf 66 Millionen Polygone, und Microsofts Videospielsystem Xbox, das rund ein Jahr auf die PS 2 folgte, unterstützt mit 128 Bit schon 116 Millionen Polygone. Diese gewaltige Grafik muss programmiert werden, was sich in wachsenden Produktionsteams und somit Kosten niederschlägt. Erforderte ein durchschnittliches Playstation-1-Spiel ein Budget von 700 000 Dollar, liegen die Budgets der aktuellen 128-Bit-Generation eher bei 5 Millionen Dollar. Ausreisser gegen oben gibt es schon heute. So soll «Enter the Matrix», das Videospiel zur Sciencefiction-Trilogie «The Matrix», 20 Millionen Dollar verschlungen haben.
Diese wenig erfreuliche Kostenentwicklung bringt es mit sich, dass kleinere Studios von grösseren Verlagen wie Electronic Arts oder Activision aufgekauft werden oder einfach schliessen müssen. «Mit dem Aussterben von unabhängigen Studios bleibt auch die Innovation auf der Strecke», sagt Jason Della Rocca, Programmdirektor der International Game Developers Association. «Beim Film haben Independent-Filmemacher oft frische Ideen, die schliesslich in den Kino-Mainstream fliessen und diesen nähren.»
In Anbetracht der steigenden Kosten suchen die Produzenten auf Software-Seite das Kostenrisiko mit sicheren Titeln zu minimieren, und dazu zählen breitenwirksame Lizenzproduktionen aus Sport und Unterhaltung. Einen Haken bei der Auswertung beliebter Filmrechte bilden die unterschiedlichen Produktionszeiten. «Ein Film nimmt in der Regel sechs bis zwölf Monate Produktionszeit in Anspruch, ein AAA-Videospiel dagegen oft drei bis vier Jahre. Damit aber von der Werbewirkung profitiert werden kann, muss das Spiel beim Kinostart bereitstehen», erklärt Gerhard Florin von Electronic Arts die Krux. Diese Differenz führt nicht selten zu unbefriedigenden Games, die in Rekordzeit aus dem Boden gestampft werden müssen, um auf der Multi-Millionen-Marketingwelle Hollywoods mitreiten zu können.
Doch die Wechselwirkungen zwischen Hollywood und der Game-Industrie beschränken sich nicht nur auf lukrative Lizenzauswertungen. Laufend nehmen Schauspieler die Herausforderung an und wirken mit, wie etwa der französische Star Jean Reno im Samurai-Spiel «Onimusha 3». Sie leihen ihre Stimmen, aber auch – wie im Falle des Franzosen – ihr Antlitz. «Noch haben wir es mit unterschiedlichen Kulturen zu tun», meint Larry Shapiro von der Agentur Creative Artists Agency, die Grössen wie Julia Roberts und Tom Cruise vertritt. «Man muss Wegbereiter finden, die einen Brückenschlag ermöglichen.» Er ist zuversichtlich, dass durch eine verstärkte Zusammenarbeit der beiden Industrien auf einer kreativen Ebene letztlich alle gewinnen werden.
«Es gibt Dinge, die man nur in einem Game machen kann», ist dagegen Hideo Kojima, Star-Spieldesigner des japanischen Traditionshauses Konami, überzeugt. Seine Spionageserie «Metal Gear Solid» spielt stark mit filmischen Elementen bis hin zur James-Bond-Parodie. Selbstverständlich wurde er schon verschiedentlich darauf angesprochen, seinen beliebten Helden Snake auf die grosse Leinwand zu bringen, doch Kojima, der vom Nachrichtenmagazin «Newsweek» zu einer der zehn prägendsten Persönlichkeiten 2002 gewählt wurde, winkt ab: «Linear wie im Kino erzählte Geschichten sind objektiv. Videospiele bieten auf Grund ihrer Interaktivität eine Freiheit und sind von daher subjektiv. Die beiden Formen wirklich zu vereinen, dürfte schwierig sein», sagt Kojima.
Trotz verschiedenen Versuchen hat auch Hollywood bis dato noch keinen Weg gefunden, das unvergleichliche Erlebnis der Interaktivität von Videospielen adäquat auf die grosse Leinwand zu übertragen. So dürfte es in Zukunft weniger zu einer Verschmelzung der beiden Medien kommen als eher zu einem – hoffentlich – inspirierenden Nebeneinander. Profitiert heute primär die junge Game-Industrie von der Erfahrung des älteren Bruders Film, so sieht sich dieser Jahr für Jahr mehr dem Einfluss der schnell wachsenden Videogame-Gemeinde ausgesetzt. Die heutige Generation von Regisseuren, die hinter Hits wie «The Matrix» oder «X-Men» steckt, ist mit der interaktiven Unterhaltung aufgewachsen. Filmemacher Gore Verbinski, dessen «Pirates of the Caribbean» über 650 Millionen Dollar eingespielte, erklärt gegenüber BILANZ: «Videospiele sind heute Teil des Filmschaffens, und ich liebe sie. Aber so süchtig machend sie sind, die Leute werden auf passive Unterhaltung nicht verzichten wollen. Menschen lieben es, Geschichten erzählt zu bekommen.» Der Kino-James-Bond ist also keineswegs tot. Im Gegenteil: Er hat einen interaktiven Zwillingsbruder bekommen.