Erst nach mehrmaligem Fragen finden wir das traditionelle, behutsam renovierte Steinhaus in Giornico, wo der Hausherr Corrado Bettoni dabei ist, für die erwarteten Gäste ein deliziöses Mittagessen zuzubereiten: Salami zum Auftakt, Spezzatino (Rindsragout) mit Polenta als Hauptgang und zum Ausklang gut gelagerte Bergkäse. «Wir trinken unsere Weine nicht vor dem Kaminfeuer, sondern zum Essen», erklärt Bettonis Winzerkollege Lorenzo Ostini grinsend und öffnet die erste Flasche.
Von A bis Z zwei Ausnahmeerscheinungen
Der Mathematiker Corrado Bettoni und der Agronom Lorenzo Ostini beide haben in Zürich an der ETH studiert sind in mehrerlei Hinsicht Ausnahmeerscheinungen unter den Tessiner Winzern. Dies nicht nur, weil jeder auf 1,5 ha Rebfläche nur gerade so viel Wein produziert, dass es knapp zum Überleben reicht, sondern auch, weil die beiden, unbeirrt von den gerade herrschenden Moden, konsequent ihren eigenen Weg gehen. Ein Greuel sind ihnen die «Technoweine» einiger Kollegen, die sich wegen ihrer marmeladig-üppigen Machart kaum von Übersee-Produkten unterscheiden.
«Solche Weine kann man heute dank dem tiefen Griff in die önologische Trickkiste beinahe überall herstellen. Sie sind austauschbar und ohne Herkunftscharakter», kommentiert Corrado Bettoni.
Gemeinsam ist den beiden Winzerfreunden nicht nur die Passion für den Weinbau, mit dem sie seit Kindsbeinen vertraut sind (sowohl Bettonis wie Ostinis Familie besassen Rebparzellen), sondern auch die Überzeugung, dass ihre Weine die spezifischen Charakteristiken der Lagen, der Rebsorten und des Jahrgangs zum Ausdruck bringen sollen. «Unsere Weine sind nicht zurechtdesignt», sagt Lorenzo Ostini. «Sie sollen und dürfen einen daran erinnern, dass das Tessin nicht nur eine sonnenverwöhnte, sondern zugleich auch eine raue, gebirgige Region ist.» Dies gilt insbesondere für den nördlichen Teil des Sopraceneri, wo auch die Rebparzellen der beiden liegen: Jene von Corrado Bettoni in Giornico, dem ersten Dorf in der Leventina, wo heute noch Reben kultiviert werden, und jene von Lorenzo Ostini in Arbedo bei Bellinzona und in der Südbündner Gemeinde Monticello im Misox.
«Jeder von uns beiden erzeugt zwar seine eigenen Weine, doch arbeiten wir eng zusammen und helfen uns gegenseitig», erklärt Lorenzo Ostini. Und Corrado Bettoni unterstreicht: «Alle im Rebberg und im Keller anfallenden Arbeiten erledigen wir allein, ohne fremde Hilfe.»
Chemie hat bei den beiden Leventinern nichts zu suchen
Bettoni und Ostini kommen auch ohne die «Hilfe» von chemischen Düngern, Insektiziden, Herbiziden und Mitteln gegen Fäulnis aus. Und um den Boden zu schonen, haben sie die unumgängliche Behandlung der Reben gegen Mehltau und falschen Mehltau mittels Kupfersulfat und Schwefel auf das notwendige Minimum beschränkt. Auch im Keller arbeiten die beiden gewissenhaft und mit System. Bewusst verzichten sie auf die Verwendung von Reinzuchthefen. Zudem werden die Weine weder filtriert noch geschönt. Und auch die laut DOC-Reglement erlaubte Zugabe von Weinen anderer Herkunft (erlaubt sind maximal 10%) steht für sie nicht zur Diskussion, weshalb sie darauf verzichten, ihre Gewächse als DOC-Weine zu deklarieren. «Eine Appellation, die die Herkunft des Weines nicht garantieren kann, ist ein kompletter Unsinn», ärgern sich beide.
Trotz der jährlichen Gesamtproduktion von nur gerade 10000 bis 12000 Flaschen erzeugen Bettoni und Ostini bis je zu vier verschiedene Weine. Dazu gehören auch je ein Weisswein: Der Nöda von Bettoni besteht zu 90% aus Sauvignon Blanc, der Rest entfällt auf diverse lokale Weissweinsorten. Der Gano bianco von Ostini dagegen basiert auf der aus dem Wallis stammenden Amigne (90%), der ebenfalls verschiedene lokale Sorten beigemischt werden. So unterschiedlich die Weissweine in ihrer Aromatik auch sind, gemeinsam ist ihnen die fruchtbetonte Eleganz und ihre angenehme Frische beim Jahrgang 2003 keine Selbstverständlichkeit. Neben dem obligaten Merlot, der in der Nachkriegszeit zur Tessiner Leitsorte avancierte, kultivieren Bettoni und Ostini auch Cabernet Sauvignon und Cabernet Franc. Rascana heisst das Gewächs, das Bettoni mit den roten Bordeaux-Sorten erzeugt. Der 2001er präsentiert sich vollmundig und würzig, mit einer knackigen Säure und solidem Tanningerüst.
Besondere Aufmerksamkeit schenken Bettoni und Ostini den traditionellen Varietäten, die einst im Tessin eine gewisse Verbreitung hatten und die sich im Allgemeinen durch eine erhöhte Krankheitsresistenz auszeichnen. Dazu gehört etwa die piemontesische Freisa und die heute nur noch im Sopraceneri angebaute Bondola. Bettoni füllt diesen rustikalen, nach Kirschen duftenden Wein reinsortig ab. Ostini dagegen erzeugt in guten Jahren mit den in kleinen Holzkisten angetrockneten Trauben der Sorten Bondola, Merlot und Freisa den Gano rosso (jener mit der dunkeln Etikette!), eine Art Sforzato, den er bis zu vier Jahren im Holzfass reifen lässt. Der 1998er beeindruckt mit seinem vollmundigen und geschmeidigen Körper und seiner komplexen, von warmen, würzigen Noten unterstrichenen Frucht.
Die Herzen schlagen für den Rebberg, nicht fürs Marketing
Bettoni und Ostini sind ebenso begeisterte wie unkonventionelle Winzer, deren Weine ein beachtliches Alterungs- und Entwicklungspotenzial haben. Doch sind sie wie sie selber einräumen äusserst schlechte Verkäufer. Ihre unverwechselbaren Weine, die in überzeugender Weise ein Stück weit der traditionellen Tessiner Weinbaukultur die Referenz erweisen, findet man kaum, weder in Önotheken noch auf Weinkarten von Restaurants. Den Freunden authentischer Tessiner Weine kann dies aber nur recht sein. So sind wenigstens bei den Produzenten immer einige Flaschen vorrätig. Die Weine sind deshalb gegen Voranmeldung direkt bei den Produzenten erhältlich.
Corrado Bettoni, Via Fond da Tera, 6745 Giornico. Tel. 091-864 19 57 und 078-852 14 74. Lorenzo Ostini, Alla Ganna, 6517 Arbedo, Tel. 091-829 17 75.