Das amerikanische Biotechunternehmen Gilead macht einen bemerkenswerten Rückzieher. Das Unternehmen verzichtet darauf, den Covid-19-Hoffnungsträger Remdesivir von der Zulassungsbehörde FDA im Rahmen des privilegierten Zulassungsstatus für seltene Krankheiten behandeln zu lassen.
Der Orphan Disease Status geht über den üblichen Patentschutz hinaus und garantiert Markt-Exklusivität, also ein faktisches Monopol, während sieben Jahren. Der Status dient dazu, Anreize zur Forschung und Entwicklung an Medikamenten für seltene Krankheiten zu schaffen.
«Wir sind schockiert»
Gilead-CEO Daniel O’Day reagiert damit auf eine Welle der Kritik, welches das Vorgehen ausgelöst hatte. «Covid 19 ist alles andere als eine seltene Krankheit», schrieben Dutzende von Nichtregierungsorganisationen, darunter auch die Schweizer Public Eye, in einem Brief an den CEO und ehemaligen Pharmachef von Roche.
«Wir sind schockiert», heisst es in dem Brief, der persönlich an Gilead-CEO Daniel O’Day adressiert ist: «Das ist ein skrupelloser Missbrauch». Den Status als seltene Krankheit zu beantragen sei umso empörender, als dass die Öffentlichkeit bereits 60 Millionen Dollar an die Entwicklung von Remdesivir bezahlt habe. Zudem hätten verschiedene Universitäts-Wissenschaftler zur Entwicklung von Remdesivir beigetragen.
Zudem werfen die Unterzeichner Gilead vor, den Zulassungsantrag beschleunigt zu haben, um ihn einreichen zu können, bevor die Zahl der Infektionen in den USA die Marke von 200'000 Fällen überstieg – die Obergrenze für eine seltene Krankheit in den USA. Stand Donnerstag waren in den USA laut der Johns Hopkins University 86'000 Personen positiv auf das neue Coronavirus Sars-CoV-2 getestet worden.
Gegen Ebola gezielt, aber gescheitert
Remdesivir wurde gegen Ebola entwickelt, aber nicht zugelassen. Es handelt sich dabei um ein breit wirksames antivirales Medikament, das die Polymerase hemmt, also die biochemische Maschinerie in der menschlichen Zelle, welche der Virus nutzt, um sich zu vermehren.
Derzeit wird das Medikament in drei klinischen Studien-Sets getestet oder ein Studienstart steht kurz bevor: In zwei chinesischen Studien an 453 Patienten mit einem schweren und an 308 Patienten mit einem milden bis moderaten Krankheitsverlauf, in dem USA an 394 hospitalisierten Patienten. Zudem wird Gilead das Medikament ab März in zwei Studien mit 1000 Patienten überprüfen, einer ersten mit 400 Patienten mit schweren klinischen Syptomen und an 600 mit leichten bis moderatem Krankheitsverlauf.
Mit einem Umsatz von 22,5 Milliarden Dollar gehört Gilead zu den grössten Biotechuneternehmen. Die Perspektive eines Covid-19-Therapie hatte im März dazu geführt, dass der Aktienkurz ein Zwei-Jahres-Hoch erreichte.
Mit dieser Aktion hat der ehemalige Roche-Pharmachef Daniel O'Day weder seinem Unternehmen noch der Industrie einen Gefallen getan. Ein Zulassungsprogramm für seltene Krankheiten für ein mögliches Medikament gegen eine Infektionskrankheit zu beanspruchen, an der über die nächsten ein bis zwei Jahren zwischen 30 und 70 Prozent der Menschen – die Schätzungen variieren – erkranken werden, ist absurd. Zumal es sich bei Remdesivir nicht um ein Medikament handelt, das – sollte es sich als wirksam erweisen – nur bei der kleinen Minderheit von Patienten eingesetzt werden wird, die einen besonders schweren Kranheitsverlauf haben und ein akutes Atemnotsyndrom (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) entwickeln, sondern auch bei solchen mit mildem oder moderatem Krankheitsverlauf.
Der Vorgang zeigt das Spannungsfeld, in dem sich die Chefs der Pharmaindustrie in einer akuten Gesundheitskrise wie der um Covid-19 bewegen. Zum einen ist die Krise eine Möglichkeit, die eigene Notwendigkeit unter Beweis zu stellen und die Reputation einer Industrie zu verbessern, deren Ansehen in den vergangenen Jahren wegen Skandalen um horrende Preiserhöhungen, Preisabsprachen und aggressives Marketing gelitten hat.
Zum anderen gilt es, dem Druck einer Öffentlichkeit stand zu halten, die in Momenten wie diesen gerne vergisst, dass die Pharmaindustrie nicht nur die Covid-19-Patienten im Auge behalten muss, sondern auch die Interessen aller anderen Patienten sowie diejenigen ihrer Aktionäre.
Roche-Konzernchef Severin Schwan hat mit seinem Entscheid, den Massentest für Sars-CoV-2 zum üblichen Preis abzugeben, die richtige Balance gefunden. Sein ehemaliger Pharmachef hat es aber am nötigen Augenmass fehlen lassen.