Zumindest einer der beiden katastrophalen Abstürze des neuen Boeing-Modells 737-Max hätte womöglich verhindert werden können. Im Umfeld der Generalversammlung von Boeing in Chicago traten jetzt Informationen an die Öffentlichkeit, die sowohl den Flugzeughersteller selbst als auch die US-Luftfahrtbehörde FAA unter Druck setzen.
Danach stand bereits nach dem ersten Absturz in Indonesien Ende Oktober 2018 die Überlegung vonseiten der FAA-Inspektoren im Raum, ein Flugverbot zu erlassen. Die Führungsebene der Behörde sei damals aber noch nicht mit diesem radikalen Schritt befasst gewesen, berichtete das «Wall Street Journal». Das weltweite Flugverbot wurde erst nach dem zweiten Absturz in Äthiopien am 10. März ausgesprochen – wobei die FAA zunächst auch hier etwas zögerte. Bei den beiden Abstürzen kamen insgesamt 346 Menschen ums Leben.
Boeing-Chef Dennis Muilenburg steht seither unter grossem Druck. Die GV des Konzerns wurde von Protesten begleitet, in Aktionärskreisen kam die Forderung auf, dass Muilenburg seine Doppelrolle als CEO und Chef des Verwaltungsrates abgeben solle.
Experten bewerten es als fahrlässig, dass Boeing beim 737-Max-Modell die Daten nur aus einem Fluglagesensor (Angle of Attack, kurz AoA) in die neuartige Flugsteuerungssoftware (MCAS) einspeiste, also nicht doppelt absicherte. Der Boeing-Chef schob die Schuld indirekt der FAA zu, die dieses System genehmigt hatte.
Boeing deaktivierte beim neuen Max-Modell im Unterschied zum Vorgänger zudem eine Warnfunktion, wenn die im Flugzeug eingebauten zwei Fluglagesensoren unterschiedliche Daten lieferten – was wohl bei beiden Abstürzen der Fall gewesen ist. Angeblich wussten beispielsweise die Piloten des grössten 737-Max-Kunden, der US-Fluggesellschaft Southwest Airlines, nichts von der Deaktivierung dieser Warnfunktion. Boeing hat inzwischen zahlreiche Änderungen an der Flugsoftware verkündet, wozu auch die wieder serienmässige Warnmeldung gehört.
In Branchenkreisen sorgte auch für Aufsehen, dass sich vier noch beschäftigte oder ehemalige Boeing-Mitarbeiter bei einer abgesicherten «Flüster-Kontaktstelle» der Aufsichtsbehörde gemeldet haben, um auf Probleme bei der 737-Max aufmerksam zu machen. Im Mittelpunkt stehen dabei offensichtlich Qualitätsmängel bei der Verkabelung der Fluglagesensoren.
Der Schadenersatz für die Airlines steigt jeden Tag
Bislang steht noch nicht fest, wann die gut 370 mit einem Flugverbot belegten 737-Max-Modelle wieder abheben dürfen. Am 23. Mai soll in Washington eine entscheidende Sitzung der FAA mit den Vertretern wichtiger internationaler Luftfahrtbehörden stattfinden. Doch selbst bei einer sofortigen Freigabe würde es noch Wochen dauern, bis die teilweise auf Parkplätzen in der Wüste abgestellten Flugzeuge wieder fliegen können.
Dabei haben viele Airlines die Modelle mit ihren sparsamen Triebwerken für den Ausbau der Kapazitäten fest eingeplant, um ihre Kosten senken zu können. Die irische Billigfluglinie Ryanair beispielsweise hat eine Grossbestellung mit Boeing vereinbart.
Jeder Tag ohne Flugfreigabe oder Auslieferung erhöht die Schadenersatzsumme bei den Airlines. Bereits jetzt belaufen sich die 737-Max-Extrakosten auf über eine Milliarde Dollar, gab Boeing jüngst bekannt und kassierte dabei seine Jahresprognose – ohne neue Zielzahlen zu nennen. Wegen des 737-Max-Desasters wurde zudem die Produktion gekürzt. American Airlines hat seinen Schaden bereits auf 350 Millionen Dollar beziffert, Southwest Airlines spricht von 200 Millionen Dollar Sonderkosten, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Viele Analysten gehen davon aus, dass die 737-Max mit überarbeiteter Software etwa ab August wieder im Einsatz ist. Eine Kernfrage wird allerdings sein, ob die FAA eine Auflage erlässt, alle etwa 4400 737-Max-Piloten in einem Simulator neu zu schulen, oder ob das bisher von Boeing vorgeschlagene Verfahren via Computerbildschirm genügt.
Die betroffenen Fluggesellschaften sind unzufrieden. «Die Kommunikation mit Boeing könnte besser sein», sagte beispielsweise Scheich Ahmed ibn Said al-Maktum auf einem Kongress zum arabischen Reisemarkt in Dubai. «Wir möchten genau wissen, was passiert, die Details. Es gibt noch Bereiche, die noch nicht zu 100 Prozent beantwortet werden», kritisierte der Präsident der Zivilluftfahrtbehörde in Dubai und Vorsitzender der Fluggesellschaft Emirates. Er werde bei Boeing Schadenersatz wegen des Flugverbots der bisher schon ausgelieferten dreizehn 737-Max-Modelle für die Airline FlyDubai beantragen.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Die Welt» unter dem Titel: «Das Boeing-Desaster wird jeden Tag größer»