Er wollte es einfach nicht wahrhaben an diesem Montagabend Anfang März. Er verdrängte die Schmerzen, den Druck auf der Brust – im Zug auf der Heimreise vom Bundeshaus nach Dübendorf, zu Hause, die ganze Nacht. «Ich habe keine Sekunde daran gedacht, dass es das Herz sein könnte», sagt Martin Bäumle heute. Erst am nächsten Morgen ging der Nationalrat und Präsident der Grünliberalen zum Hausarzt. Dieser zögerte dann nicht lange und schickte den Zürcher Politiker sofort ins Spital. Diagnose: Herzinfarkt.
Bäumle hatte Glück. Auch weil der Verlauf des Herzinfarkts atypisch langsam war. Sein Profil hingegen ist für einen Herzpatienten ziemlich typisch, bündelten sich bei ihm doch gleich mehrere Risikofaktoren: Nebst der erblichen Vorbelastung hatte er einen erhöhten Cholesterinspiegel, pflegte eine schlechte, sprich ungesunde Ernährung und bewegte sich zu wenig. «Und dann kam noch der Stress hinzu», sagt Bäumle. «Das war wohl der auslösende Faktor.» Heute achtet der 50-Jährige vermehrt auf gesundes Essen, macht mehr Sport und sagt eine Verpflichtung auch mal kurzfristig ab.
Eingriffe am Herz nehmen stark zu
Herzinfarkt ist die Todesursache Nummer eins weltweit – und auch in der Schweiz. Zwischen 16'000 und 17'000 Personen sterben hierzulande jährlich an Herzkrankheiten, gut die Hälfte davon infolge von Herzinfarkt oder anderen ischämischen Herzkrankheiten, das heisst an Erkrankungen der Herzkranzgefässe. Je 15 Prozent infolge Herzinsuffizienz oder eines zu hohen Blutdrucks.
Die gute Nachricht: Die Zahl der Todesfälle aufgrund von Herzversagen hat in der Schweiz in den letzten 30 Jahren merklich abgenommen. Im Gegenzug haben die Eingriffe am Herz aber stark zugelegt. So ist etwa die Anzahl der Herzkatheteruntersuchungen zwischen 2006 und 2013 um 27 Prozent angestiegen, von 36'817 auf 46'786, diejenige der Angioplastien (Gefässaufweitung) im gleichen Zeitraum gar um 29 Prozent, von 17'061 auf 22'030. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Anzahl der Eingriffe, mit denen verstopfte oder verengte Herzarterien mit Hilfe von Ballonen und meist auch Stents wieder durchgängig gemacht werden, gar versiebenfacht.
Das neue Herzteam
Der Siegeszug der Angioplastien ist sinnbildlich für den Wandel in der Herzmedizin: Noch vor dreissig Jahren war die Herzchirurgie die dominierende Disziplin, dann wurde sie von der Kardiologie in den Hintergrund gedrängt. «Jetzt schlägt das Pendel etwas zurück», sagt Michele Genoni, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Herz- und thorakale Gefässchirurgie. «Jetzt sind beide Disziplinen gleich wichtig, Kardiologen und Herzchirurgen arbeiten vermehrt zusammen – als Herzteam.» Der Kardiologe macht zwar die Angioplastie, der Chirurg setzt den Bypass, aber bei Herzklappenoperationen oder beim Aortenklappenersatz vereinen die beiden Spezialisten ihre Kräfte und behandeln die Patienten gemeinsam. Neue Herzzentren mit gemischten Teams werden eröffnet, die bestehenden Universitäts- und Kantonsspitäler legen die Abteilungen zusammen. Parallel dazu jagen sich Kliniken Spitzenpersonal ab. Für Aufsehen sorgte die Privatklinik Hirslanden, die letztes Jahr ein ganzes Herzteam von der Universitätsklinik Zürich abwarb.
Die Anzahl der Eingriffe am Herz wird weiter zunehmen, davon sind Ärzte wie Behörden überzeugt – und beide nennen zwei Gründe: die Alterung der Gesellschaft und der medizinische Fortschritt, das heisst die Ausweitung der Behandlungsmöglichkeiten. So sind heute Herzeingriffe und -operationen auch bei älteren Menschen oftmals problemlos möglich. Der Kanton Zürich zum Beispiel rechnet im Rahmen seiner Spitalplanung zwischen 2010 und 2020 mit einem Anstieg von 26 Prozent bei den Herzpatienten – so viel wie in keinem anderen Leistungsbereich. Beim Berner Inselspital geht man von ähnlichen Werten aus: In der Kardiologie und der Herzchirurgie dürften die Fallzahlen in den nächsten zehn Jahren je um 30 Prozent zulegen. Kritiker bezweifeln das und heben hervor, dass dank neuer, alternativer Optionen die Zahl der Eingriffe künftig weit weniger steil ansteigen werde.
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Neun von zehn Herzinfarkten und Hirnschlägen werden gemäss der Schweizerischen Herzstiftung von Faktoren beeinflusst, die sich messen und kontrollieren lassen. Ob Sie zur Risikogruppe zählen, können Sie in einem Test der Schweizerischen Herzstiftung eruieren. Hier gehts zum vollständigen Test.