Lange bevor Wolfgang Reitzle im März 2012 als Verwaltungsrat zum Zementriesen Holcim mit Sitz in Rapperswil-Jona stiess, pflegte er schon engen Kontakt zur Schweiz – rein privat. Zu Hause im Münchner Nobelviertel Bogenhausen lebt er mit einem äusserst aktiven und dickköpfigen Innerschweizer zusammen. Mit Lupo, dem Entlebucher Sennenhund seiner zweiten Frau Nina Ruge. Die prominente Journalistin und Moderatorin ist seit 2001 Reitzles Ehefrau.
Ausserhalb der eigenen vier Wände aber tastet sich der 64-jährige Reitzle nur zaghaft ans Land seiner künftig wichtigsten Tätigkeit heran. Neben den Verwaltungsratssitzungen als designierter Holcim-Präsident trat er im vergangenen September am «Symposium für Leader der nächsten Generation» im schaffhausischen Stein am Rhein auf und sprach zusammen mit ETH-Professor Lino Guzzella zum Thema «Energie und Nachhaltigkeit». Erst vor einer guten Woche erlebte er seine Feuertaufe auf dem gesellschaftlichen Parkett der Schweizer Wirtschaftswelt – sinnigerweise als Gastredner an der Generalversammlung der wichtigen Handelskammer Deutschland–Schweiz. Mit seinen strategischen Überlegungen für das Überleben von Industriefirmen in Europa in Zeiten globaler Konkurrenz und dominanter Finanzmärkte hatte Reitzle das hochkarätige Publikum schnell auf seiner Seite.
Immerhin ist Reitzles Unternehmen Linde, das er noch bis nächsten Frühling als Konzernchef leitet, seit Jahren mit der Schweiz verbunden. Der von Reitzle geformte Weltmarktführer für Industriegase ist die Muttergesellschaft der im luzernischen Dagmarsellen beheimateten Pangas. Auch ausserhalb des industriellen Hauptgeschäfts ist dieses Unternehmen bekannt – für seine Propangasflaschen zum Grillieren. Daneben gehören Bertrams Heatec aus Pratteln BL und Linde Kryotechnik aus Pfungen ZH zum deutschen Konzern. Diese hat für das Cern in Genf diverse Helium-Kälteanlagen für den supraleitenden Teilchenbeschleuniger geliefert.
Als Reitzle 2003 die Führung bei Linde übernahm, war das Unternehmen ein wenig beachteter und nur mittelmässig erfolgreicher Mischkonzern. Neben dem Geschäft mit Gasen entstanden unter dem Firmendach Gabelstapler, Kühltruhen und selbst Schneekanonen. Regelmässig schlichen Finanzinvestoren am damaligen Firmensitz in Wiesbaden herum, interessiert an der Zerschlagung des Konzerns und an der Verwertung seiner Einzelteile. Kaum im Amt, erkannte Reitzle, dass es so nicht weitergehen konnte, dass er Fundamentales verändern musste. Er entwickelte den Plan Phoenix, benannt nach dem mythischen Vogel der Antike, der im Feuer verbrennt, um aus seiner eigenen Asche in neuer Stärke aufzuerstehen. Die Strategie sah vor, dass sich Linde zu einem reinen Gaskonzern entwickeln sollte. Auf seinem Weg ging Reitzle behutsam vor und involvierte nicht nur seine Führungskräfte, sondern auch die Vertreter des Personals. So gelang ihm das Kunststück, auch für Firmenverkäufe Rückendeckung vom Aufsichtsrat bis zum Arbeiter zu bekommen.
Volles Risiko, voller Erfolg
Manager Reitzle ging aber auf volles Risiko, setzte alles auf eine Karte. Ob sie gewinnen würde, war damals nicht abzuschätzen, höchstens zu hoffen. Integraler Bestandteil von Reitzles Totalumbau war die Übernahme des ungleich grösseren britischen Konkurrenten BOC. Das Problem dabei: Die deutsche BASF warb 2005 und 2006 gleichzeitig um die Gunst der Briten und konnte viel mehr finanzielles Gewicht und globale Potenz in die Waagschale legen. Wäre der Chemieriese tatsächlich zum Zug gekommen, hätte sich Reitzles eigene Strategie in Luft aufgelöst. Linde wäre seiner Zukunftsperspektive beraubt worden und wohl selbst die Beute eines Rivalen geworden. Doch es kam anders. Während BASF in Grossbritannien abblitzte, punktete Reitzle bei seinem Amtskollegen von BOC, Tony Isaac. Es heisst, die zwei Manager hätten auch deshalb innerhalb von Wochen zueinander gefunden, weil sie beide talentierte Golfer mit einstelligem Handicap sind. 11 Milliarden Euro legte Reitzle für die Übernahme bei Isaac auf den Tisch. Zusammen konnten es die beiden Unternehmen mit dem lange unangefochtenen Weltmarktführer Air Liquide aus Frankreich aufnehmen und sich als Zulieferer unterschiedlichster Branchen unentbehrlich machen. Im September 2006 wurde die Megafusion verkündet und Reitzle konnte vor der versammelten Weltpresse von «einem historischen Tag für Linde» sprechen. Sein damaliger Chef sprach von einem «begnadeten Vorstandsvorsitzenden».
Tatsächlich ist es in Zahlen ausgedrückt eindrücklich, wie Reitzles Risikostrategie Linde verändert hat. Der Börsenwert hat sich versechsfacht und der Umsatz fast verdreifacht. Das neue Unternehmen ist Weltmarktführer bei Gasen zum Schweissen, zur Konservierung von Lebensmitteln und bei der Herstellung von Sauerstoff für die Stahlindustrie. Ohne Linde-Gase würden Brennöfen schlicht nicht heiss genug. Zudem ist die Kombination Linde/BOC auch in der Medizin die weltweite Nummer zwei. Rund die Hälfte aller Spitäler beatmen Patienten mit Linde-Sauerstoff, fast ebenso viele Kliniken nutzen andere medizinische Gase des deutschen Konzerns für Narkosen und weitere Anwendungen. «Wir zerlegen Luft und verkaufen die Gase. Wir schaffen Wert aus dem Nichts. Und das lieben die Aktionäre», sagte Reitzle kürzlich der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung».
Trotz seiner Erfolge in der Gasindustrie landete der Maschinenbau-Ingenieur aus dem bayrischen Ulm eher widerwillig in dieser Branche. Eigentlich sei er ein «car guy», sagt er von sich selbst. Tatsächlich begann er nach dem Abschluss seines Zweitstudiums als Wirtschafts- und Arbeitswissenschafter bei BMW. Das war 1976. Danach wurde er fast im Jahresrhythmus befördert und sass rund zehn Jahre später bereits im Vorstand. Selbst auf dem Chefsessel bei dem Premiumhersteller aus München hätte er fast Platz genommen. Doch er war zuständig für die von seinem Chef Bernd Pischetsrieder gekaufte Rover-Gruppe. Und die produzierte für BMW nichts als Verluste. Seine Kandidatur für den Posten des Konzernchefs stand daher unter keinem guten Stern, das Rennen machte ein anderer. Reitzle ging zu Ford und blieb drei Jahre. Dann kam 2003 die Chance, doch noch einen Konzern zu führen. Und «car guy» Reitzle wechselte ins Gasfach zu Linde.
Geblieben ist seine Liebe zu schnellen und teuren Autos. In seiner Zeit bei Ford fuhr Reitzle die James-Bond-Marke Aston Martin und Jaguar, bei Linde ist laut «Spiegel» ein Maserati Quattroporte sein Dienstfahrzeug. In der Schweiz kostet das Auto in der Basisversion gegen 140000 Franken. Überhaupt hat Reitzle eine Vorliebe für die schönen Dinge des Lebens. Er baut in der Toskana nahe Lucca auf einem 4 Hektaren grossen Gut Wein und Olivenöl an. Und er liebt Uhren. An seinem Handgelenk soll er eine «Radiomir» von Panerai tragen. Der mit einem Rolex-Werk ausgestattete Zeitmesser wurde für eine Kampfschwimmertruppe der italienischen Marine entwickelt.
Teil einer exklusiven Seilschaft
Doch statt in die Tiefe des Meeres zieht es Reitzle wie so viele Konzernlenker eher in die Höhe – auf die Berggipfel. Der künftige Holcim-Präsident ist dabei kein kommuner Wandervogel, sondern Teil der exklusivsten Seilschaft Deutschlands – der Similauner. Gegründet wurde der Männerbund 1992 von McKinsey-Veteran Herbert Henzler und von Reinhold Messner. Zwar führt der Alpinisten-Star die Managertruppe nach wie vor jedes Jahr auf einen Gipfel, und man spricht sich gegenseitig mit Kamerad an. Doch eigentlich sind die Similauner – unter ihnen Verleger Hubert Burda, Telekom-Chef René Obermann, Ex-Daimler-Boss Jürgen Schrempp und Lufthansa-Übervater Jürgen Weber – vor allem ein hochkarätiges Netzwerk von Wirtschaftsführern. Reitzle war ein Similauner der ersten Stunde. Gemäss Messner ist er ein «Ästhet, ein eleganter, feinfühliger, zäher Ästhet».
Holcim: Kampf gegen Korruption
Gebremstes Wachstum
Der Schweizer Zementkonzern ist mit einem schlechten Quartal ins laufende Jahr gestartet. Der Umsatz sank um über 7 Prozent auf gut 4,3 Milliarden Franken, der operative Gewinn um fast 18 Prozent auf 270 Millionen. Insbesondere die schwächere Baukonjunktur in Indien machte dem global agierenden Konzern einen Strich durch die Rechnung. Hinzu kam der strenge Winter in weiten Teilen der Nordhalbkugel, der manche Bauvorhaben verzögerte.
Compliance-Offensive
Abseits des Kerngeschäfts macht das Unternehmen nach diversen Skandalen Ernst mit dem Kampf gegen korrupte Geschäftspraktiken. Präsident Rolf Soiron hat einen Compliance-Chef engagiert und sich von bestechlichen Managern getrennt. In über 20 Ländern hat Holcim in den letzten Monaten interne Untersuchungen durchgeführt.