Seinen ersten Börsencrash erlebte Reto Francioni 1987 während einer Vorlesung über Absicherungsgeschäfte in der New-Yorker Filiale der Credit Suisse. Zuerst glaubte der MBA-Absolvent aus dem Aargau noch an einen Computerfehler. Als ihm bewusst wurde, dass die Bruchlandung des Dow real war («Unser Lehrer rannte plötzlich kreidebleich davon»), war er nur noch froh, dass er keine Aktien besessen hatte. Es sollte nicht das letzte Mal sein.

An diesem Tag zog ihn die Börse in ihren Bann. Fortan bestimmten Kurse, Regelwerke und Systeme die berufliche Laufbahn des gelernten Juristen, die ihn schliesslich an die Spitze der Schweizer Börse bringen sollte. 1988 trat er der Elektronischen Börse Schweiz (EBS) bei, wo er sich zusammen mit dem bekannten Aktienrechtler Peter Forstmoser mit komplexen Fragen der Gewährleistung und der Haftung bei Softwarelieferungen herumschlug («Das war damals juristisches Neuland»). Dann wechselte er für ein Jahr «an die Front», in die Finanzabteilung des Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche, wo er hauptsächlich damit beschäftigt war, Geld für die lateinamerikanischen Pharmatöchter aufzutreiben. 1993 holte ihn die Deutsche Börse nach Frankfurt, wo er das elektronische Handelssystem Xetra aufbaute.

Francioni ist eloquent, umgänglich, begeisterungsfreudig, ehrgeizig und immer piekfein eingekleidet – und er ist Schweizer. Das kam an bei den Deutschen. Zudem war er nicht allein: Drei Monate nach ihm gelangte mit Werner Seifert ein Landsmann an die Spitze der Deutschen Börse. Seifert und Francioni ergänzten sich ideal. «Francioni ist Watte auf die scharfen Kanten von Seifert», schrieb die amerikanische «Business Week». Gab es zwischen den beiden ungleichen Persönlichkeiten Streit, konnte Francioni jeweils auf die Rückendeckung durch Rolf Breuer, den Chef der Deutschen Bank, zählen. Über die Jahre entstand so etwas wie Freundschaft zwischen Seifert und Francioni, die ihre Freizeit im Frankfurter Exil jeweils im Schweizer Heimatclub SHC verbrachten.

Mitte der Neunzigerjahre übertrug Seifert Francioni die anspruchsvolle Aufgabe, eine Technologiebörse analog zur amerikanischen Nasdaq aufzubauen, 1999 machte er ihn zu seinem Stellvertreter.

Am 10. März 1997 präsentierte Francioni den Neuen Markt, der das deutsche Kleinanlegertum revolutionieren sollte. Seine Promo-Touren für die deutsche Venture-Börse waren unermüdlich. An der Seite prominenter Persönlichkeiten wie des Jenoptik-Chefs und Spitzenpolitikers Lothar Späth, des Bundesfinanzministers Hans Eichel und des Venture-Kapitalisten Peter Friedli referierte er an Hochschulseminaren und Technologiekonferenzen, gab Zeitungsinterviews und griff zuweilen sogar selbst in die medialen Tasten. Sein alljährlich wiederkehrender «Aktionstag Börse» für die deutschen Kleinanleger war jeweils ein Publikumsrenner. Kein Zweifel: Francioni hatte Erfolg. Der Neue Markt erhielt sowohl von den Emittenten als auch von den Anlegern regen Zuspruch, Francionis Ansehen wuchs quasi im Gleichschritt mit dem Stand des Nemax All-Share Index. «Wir nehmen die Anleger ernst», liess er Deutschland wissen.

Doch Erfolg kann zuweilen auch blind machen. So verliess ihn sein unerschütterlicher Optimismus selbst dann nicht, als sich der Nemax innerhalb eines halben Jahres auf 8374 Punkte knapp verdreifachte und es institutionellen Anlegern beim Anblick der Fahnenstange kalt den Rücken runterlief. Zwar meldete Francioni erste Zweifel an der Standfestigkeit des Neuen Marktes an, als er 1999 gegenüber der Wirtschaftszeitung «Cash» erklärte, dass einzelne Titel überhitzt seien. Doch dann tat er etwas, was sonst nur Analysten tun, was für ein Geschäftsleitungsmitglied eines Börsenkonzerns aber gemeinhin als mutig bezeichnet werden kann: Er gab Anlagetipps. «Ich empfehle nur fundamental mittel- und langfristige Strategien», gab er zu Protokoll. Langfristige Strategien am Neuen Markt? Au Backe! Auch im Sommer 2000, als der Neue Markt bereits zum Rückzug geblasen hatte, war Francioni noch guten Mutes. «Die grosse Masse der Kunden steht erst in den Startlöchern», versprach er im Internetmagazin «Stockworld». Eine kolossale Fehleinschätzung, wie sich wenig später herausstellen sollte. Denn statt des grossen Aufbruchs folgte Börsencrash Nummer zwei.

Heute, fünf Jahre nach der Gründung, liegt der Handel am Neuen Markt am Boden. Der Nemax All-Share Index hat 85 Prozent seines Werts eingebüsst, die Monatsumsätze sind von einst 20 auf 2 Milliarden Euro eingebrochen. Das Vertrauen der Anleger ist nach diversen Skandalen erschüttert. «Trauern statt feiern», titelte «Der Spiegel». «Zum Geburtstag lichten sich die Reihen», schrieb die «Wirtschaftswoche». «Rette sich, wer kann!», empfahl die «Weltwoche». Der Einpeitscher aber hüllt sich nur mehr in Schweigen. Selber investiert hat er dort sowieso nie – wie schon in New York im Crashjahr 1987 nicht.

Im Frühjahr 2000, als das von Francioni entworfene Regelwerk des Neuen Marktes zum ersten Mal nachgebessert werden musste, weil die Topmanager der jungen Wachstumsfirmen immer schamloser die offensichtlichen Lücken ausnutzten, war «der Zauberer auf dem Börsenparkett» («Cash») schon wieder ein Haus weiter. Francioni habe sich nach sieben Jahren bei der Deutschen Börse mit seinem Boss Seifert plötzlich nicht mehr verstanden, hiess es in der Presse. Der wahre Grund für seinen Wechsel lag wohl eher darin, dass Francioni, der jahrelang zusehen musste, wie die Helden des Neuen Marktes abkassierten, endlich auch mal ans grosse Geld ran wollte.

Sein brandneuer Fünfjahresvertrag beim deutschen Online-Broker Consors (Werbebotschaft: «Wir sind die, vor denen Sie Ihr Anlageberater immer gewarnt hat») stellte einen echten Aufstieg dar: Co-CEO an der Seite des Firmengründers Karl Matthäus Schmidt statt Stellvertreter des CEO, doppelter Jahreslohn in Höhe von 600 000 Euro und dazu noch 34 000 Consors-Optionen im damaligen Wert von 460 000 Euro. Wer ihm vorhielt, dass sein neuer Job punkto Grösse des Arbeitgebers einen Abstieg bedeute, wurde belehrt: «Dieses junge Unternehmen hat mittlerweile einen Börsenwert von 4,6 Milliarden Euro. Unter den Finanzinstituten sind wir damit die Nummer vier oder fünf in Deutschland.» Der frischgebackene Grossbankenchef aber wollte mehr: Consors, so der Unbescheidene, sollte einmal «Europas faszinierendste E-Finance-Company» werden.

Der junge Consors-Gründer Schmidt, damals gerade 34-jährig, hatte dazu schon mächtig Vorarbeit geleistet, Tochtergesellschaften in der Schweiz, Frankreich, Italien und Spanien gegründet und sich am Internetversicherer E-Insurance beteiligt. Im Mai 2000 – damals schon unter der Co-Regie von Francioni – erwarb Consors eine Mehrheitsbeteiligung an der Berliner Effektengesellschaft (BEG) für schätzungsweise eine viertel Milliarde Euro. Der Kauf, von den Medien später als überteuert taxiert, wurde mit Consors-Aktien und Cash bezahlt.

Die BEG, in deren Aufsichtsrat Francioni sass, sollte das Kernstück des neuen virtuellen Konzerns werden. Weil sie über die Hälfte der Aufträge der Berliner Börse abwickelte, so die Idee, habe Consors mit der BEG auch gleich die Berliner Börse im Sack. Aus der BEG-Tochter Berliner Effektenbank wurde die Consors Capital Bank, ein Brutkasten für künftige IPO-Firmen. Das hauseigene Perpetuum mobile Consors–IPO–Börse–Consors riss die Medien zu Begeisterungsstürmen hin. «Eine kleine Revolution», jubelte das «Handelsblatt», «Brillant!», lobte die FAZ.

Wie schon beim Neuen Markt legte sich «der geübte Selbstdarsteller» Francioni bei Consors mächtig ins Zeug. Schon zwei Monate nach seinem Eintritt versprach er «besseren Service und mehr Transparenz». Das Auslandsgeschäft sollte weiter ausgebaut, der Personalbestand noch im gleichen Jahr um rund die Hälfte auf 1200 Leute aufgestockt werden. Den nötigen Sprit würden Milliarden an privaten Alterssparkapitalien liefern, die künftig in die Börsen flössen – «ein uferloser Markt», schwärmte der Fiebrige. Selbst als die Geschäfte von Consors ins Stocken gerieten, weil die Börsenkurse abschmierten, schwebte Francioni noch auf Wolke sieben. «Consors ist noch lange nicht an ihren Grenzen! Im Gegenteil! Die Geschichte hat erst begonnen!», warb der Ehrgeizige an der Hauptversammlung im Frühsommer 2001.

Doch schon wieder lag er falsch. Denn jetzt folgte Crash Nummer drei.

Vieles lief bei Consors nicht so, wie man es sich vorgestellt hatte. Zuerst verweigerte die Berliner Börse die exklusive Zusammenarbeit, dann brach das Ergebnis des Online-Brokers wegen des Börsencrashs ein. Viele der kleinen Internetbeteiligungen entpuppten sich als Pleitefirmen und mussten abgeschrieben werden. Ende 2001 klaffte bei den Auslandtöchtern ein Loch von 60 Millionen Euro. Als fatal entpuppte sich die Strategie, Akquisitionen mit eigenen Aktien zu berappen. Als die Consors-Papiere ihren Sinkflug einleiteten, rissen sie die Töchter mit in den Abgrund. 2001 musste Consors auf ihren Beteiligungen 67 Millionen Euro abschreiben, was den Gesamtverlust auf horrende 212,8 Millionen Euro hochtrieb. Im Cockpit von Consors wuchs die Nervosität.

Francioni, dessen Optionen nun wertlos waren, sollte das Budget um 40 Prozent kürzen. Das machte dem Daueroptimisten allerdings weniger Spass. Im Geheimen bereitete er bereits seinen Absprung vor.

Als die Consors-Hauptaktionärin Schmidt- Bank den Online-Broker im Mai 2002 für 485 Millionen Euro an die Banque National de Paris verkaufen musste, weil sie finanziell am Ende war – sozusagen Francionis unverschuldeter Crash Nummer vier –, hatte er seinen neuen Arbeitsvertrag mit der Schweizer Börse SWX schon in der Tasche. Ähnlich wie beim Absturz des Neuen Markts hat der Spätzykliker, der in seiner Funktion als Präsident der deutsch-schweizerischen Optionenbörse Eurex nunmehr über seinem ehemaligen Chef Werner Seifert steht, somit auch diesen Niedergang heil überstanden. Die SWX-Anleger hoffen jetzt, dass es Francionis letzter Crash war.
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