Mark Schneider macht sich rar. Mehr als ein Jahr nach seiner Landung in Vevey wartet man in der Schweiz noch immer aufs erste grosse Interview. Im November hat der neue Konzernchef dafür im fernen Bielefeld einen Termin wahrgenommen: im Dr. Kurt Wolff Institut, Fachgeschäft für medizinische Artikel. Dem lokalen Industrie- und Handelsclub Ostwestfalen-Lippe hat Schneider noch zu seiner Zeit als Chef von Fresenius zugesagt.
Schneider redet nicht. Er macht Nägel mit Köpfen. Übernahmen im Monatstakt – von der Hipster-Kaffeekette (Blue Bottle) über Tierfutter (Terra Canis) bis zu vegetarischen Lebensmitteln (Freshly), Reorganisation des Geschäfts mit der Babynahrung – einem designierten Wachstumpfeiler – neue Partnerschaften, alte Nestlé-Fürsten, die im Off landen, Kulturwandel: Der deutsche Managerstar hat den Schweizer Supertanker innert weniger Monaten tüchtig unter Dampf gesetzt.
«Schneider macht Dampf, andere versuchen, Schritt zu halten»
Insider berichten von einem Unternehmen, das kaum mehr wieder zu erkennen sei. «Mark Schneider, Finanzchef François-Xavier Roger und Asien-Chefin Wan Ling Martello machen Tempo und die anderen versuchen, Schritt zu halten», sagt einer, der das Unternehmen gut kennt.
Mark Schneider liefert – und das nicht zu knapp. Seit kurzem macht er seinem Ruf als erfolgreicher Dealmaker auch bei den Nahrungsergänzungsmitteln alle Ehre. Noch vor Weihnachten hat er sich für 2,3 Milliarden Dollar den kanadischen Vitaminhersteller Atrium gesichert. Ein stolzer Preis für ein Unternehmen, das bis jetzt vor allem in den USA präsent ist und in Sachen online noch in den Kinderschuhen steckt. Aber vermutlich nicht überbezahlt, wenn man bedenkt, was Nestlé damit anstellen könnte, wie Jean-Philippe Bertschy, Analyst bei Vontobel meint. «Atrium hat ein paar in den USA starke Marken wie Garden of Life, die man international, vor allem auch in China, und online ausrollen kann», sagt der Vontobel-Analyst.
Doch Atrium ist nur Peanuts im Vergleich zu dem, was möglicherweise noch kommt. Ein Investor: «Ich gehe davon aus, dass Nestlé im Bereich Nahrungsergänzungsmittel eine regelrechte Produkteplattform aufbauen wird.» Mehr noch: Selbst der Aufbau eines Segments mit Medizinalprodukten, die in Drogerien oder gar Apotheken verkauft werden müssen, sei nicht ausgeschlossen.
Wieviel Pharma darfs denn sein?
Mögliches nächstes Ziel: Die OTC-Sparte des deutschen Chemie- und Pharmaunternehmens Merck KGaA – ein Deal, der dem Profil des Kitkat- und Maggi-Würfel-Produzenten schon einen deutlich anderen Anstrich geben würde, sollte er zu Stande kommen. ««Die Sparte hatte 2016 rund 860 Millionen Euro Umsatz», sagt Bertschy.
Zum Vergleich: Die «anderen Geschäftsbereiche», zu denen Nestlé Health Science, zusammen mit Nestlé Professional, Nespresso und Nestlé Skin Health gehört, machten 2016 zusammen einen Umsatz von 14,1 Milliarden Franken. Das Problem dabei: Zur Merck-Sparte, für die Nestlé gemäss Bloomberg gegen 5 Milliarden Dollar hinlegen will, gehören auch nur in der Apotheke erhältliche klassische Arzneimittel wie die Schmerzsalbe Kytta oder der Nasenspray Nasivin – ein neues Terrain für Nestlé, das nichts mehr – auch nicht entfernt – mit Ernährung zu tun hat.
Verhandlungen auch mit Pfizer?
Das gleiche gilt für die ebenfalls zur Disposition stehende OTC-Sparte von Pfizer. Eine Übernahme ginge für die Nestlé nicht nur ins Tuch. Die Amerikaner sollen für das 3,4 Milliarden Dollar schwere Geschäft, zu dem Produkte wie das Schmerzmittel Advil oder der Lippenbalsam Chapstick gehören, einen Verkaufspreis von 15 Milliarden Dollar anpeilen. Mehr noch: Die Romands, die ihr Augenheilmittelgeschäft vor ein paar Jahren erfolgreich an die Basler Novartis verkauften, würden sich auch damit wieder Pharmaprodukte ins Haus holen.
Die Frage sei in der Tat, wie weit Nestlé in Richtung Pharma gehen wolle, sagt der Investor. Denkbar wäre, dass Nestlé die Pharmaprodukte bündle und in einer eigenen Geschäftseinheit weiterführe. Doch selbst wenn Nestlé zum Schluss käme, dass Arzneimittel im engeren Sinn nicht ins Portfolio passten, «dann gibt es immer noch die Möglichkeit, die Arzneimittel wieder abzustossen». Er sei der Meinung, dass bei beiden Varianten etwas daraus werden könnte. Nestlé selbst hat allerdings immer wieder gesagt, dass Nestlé kein Pharmaunternehmen werde.
Klar ist: Am nötigen Spielgeld wird es nicht fehlen. Schneider könnte gegen 50 Milliarden Franken für Übernahmen locker machen – die Veräusserung des Anteils von 23,3 Prozent am französischen Kosmetikkonzern L'Oréal inbegriffen.
Zu Gute kommt dem M&A-Virtuosen Schneider nicht nur traditionell konservative Buchführung seiner Vorgänger, die ihm ein Unternehmen mit tiefer Verschuldung hinterliessen. Stephan Vollert, Analyst bei der Neuen Helvetischen Bank geht davon aus, dass sich Nestlé netto bis 2020 mit 33 Milliarden Franken verschulden kann, ohne sein Best-Rating zu gefährden.
2,9 Milliarden Dollar für Süsses
Dazu kommen die Erlöse aus der Portfolio-Bereinigung, die mit dem erfolgreichen Verkauf des US-Süsswarengeschäfts für satte 2,9 Milliarden Dollar an die italienischen Maestri Cioccolatieri von Ferrero eben erst los gegangen sind.
Schneiders Glück: Die Konstellation, wonach sich ein Konkurrent als Käufer finden liess, der dank der Übernahme zu einem weltweit führenden Hersteller aufrücken konnte, könnte sich bei anderen Geschäftsfeldern wiederholen. Etwa bei Froneri, Nestlés Joint Venture mit dem britischen Glacé-Produzenten R&R.
Bleibt die zur Zeit mit rund 28 Milliarden Franken bewertete Beteiligung am Konsmetikkonzern L'Oréal. Gegen einen Verkauf spricht, dass Nestlé mit den Franzosen in den letzten 40 Jahren gut gefahren ist – und damit einen ständigen Cashzufluss hatte. Doch bei Mark Schneider ist nicht auszuschliessen, dass auch dieses Tabu fällt. Wenn er denn eine lukrativeres Schnäppchen aufgespürt hat.