Bislang war Boris Collardi eher nicht dafür bekannt, am Rand zu stehen. Als gerade 24-jähriger CS-Banker in Singapur imponierte er dem damaligen Private-Banking-Chef Oswald Grübel so stark, dass ihn der spätere Bankchef gleich zu seinem Assistenten machte. Nach dem Selbstmord seines Förderers Alex Widmer bei Julius Bär trat er im noch immer zarten Alter von 34 Jahren bei seiner CEO-Kandidatur so raumfüllend auf, dass alle anderen Anwärter chancenlos waren. Und an der Spitze der Zürcher Vermögensverwaltungsbank zog er seine Akquisitionen mit einer derartigen Rasanz durch, dass ihn der Verwaltungsrat am Ende sogar bremsen musste.
Jetzt ist alles anders. «Ich stelle mich an den Rand», flötet der 44-Jährige, seit zehn Monaten Teilhaber der Genfer Privatbank Pictet. Erst zum zweiten Mal in der 215-jährigen Geschichte öffnet sich das Geldhaus gegenüber einem Journalisten – das letzte Mal war vor genau 20 Jahren, ebenfalls in BILANZ. Damals posierten die acht Teilhaber eigens auf einer Theaterbühne für den Fotografen (siehe Bild unten).
Dieses Mal findet das Shooting im Besprechungszimmer im vierten Stock des Genfer Hauptsitzes statt, das die Herren «Salon» nennen. Acht Männer (ja, nur Männer, und alle weiss und mit Krawatte) posieren für den Fotografen. Die Hackordnung ist klar: In der Mitte Nicolas Pictet, als «Associé senior» der Senior Partner und eine Art Gruppenleiter, daneben sein Nachfolger Renaud de Planta, der im September übernehmen wird – sie waren als Einzige schon vor 20 Jahren dabei. Und oben links am Rand der Mann, der als Einziger lacht – im Gegensatz zu den Kollegen ist er Fototermine gewohnt: Boris Collardi.
Goldstandard
Der Ex-Bär-Frontmann bei Pictet: Das klingt fast nach Revolution. Die Schweiz ist weltweit noch immer die unangefochtene Nummer eins bei der globalen Reichen-Betreuung, und wem die Grossbank-Fabriken von UBS und CS zu unpersönlich sind, für den ist Pictet der Goldstandard in diesem sehr speziellen Geschäft: Die erfolgreichste Privatbank der Welt (was die Teilhaber allerdings nie aussprechen würden, zumindest nicht öffentlich). Die höchsten verwalteten Vermögen (496 Milliarden Franken), die reichsten Kunden (mehr als 60 Prozent mit mehr als 100 Millionen Franken, Einsteiger dürfen sich ab 2 Millionen melden), die stärkste Kultur (nur organisches Wachstum). Aufgebaut um die drei Familienstämme Pictet, Demole und de Saussure, gegründet im fernen Jahr 1805, als sich ein gewisser Napoleon gerade zum Kaiser Frankreichs gekrönt hatte und auch über Genf herrschte. Protestantischer Geldadel in Reinkultur – und bis heute eine Ansammlung distinguierter Herren mit feinsten Studien und Manieren.
Dagegen Collardi: Sohn eines Einwanderers aus Süditalien, Katholik, ohne Hochschulabschluss und in der frühen Phase eher kein Vertreter calvinistischer Bescheidenheit – seinen Ferrari stellte er in jungen Jahren stolz zur Schau (später stieg er dann, schon sehr anpassungsfähig, auf einen Fiat 500 um, den er heute noch fährt.) Vor 20 Jahren waren die Zürcher Konkurrenten Bär und Vontobel noch wie Pictet stark von den Familien dominiert, doch der damalige Senior Partner Charles Pictet warnte schon vor den bösen bindungslosen Bankmanagern: «Was ist in der nächsten Generation, wenn professionelle Manager das Sagen haben?» Jetzt hat ausgerechnet Pictet den erfolgreichsten – und manche sagen: ruchlosesten – dieser professionellen Manager vom grössten Konkurrenten abgeworben.
Die bei Pictet so gepriesene Loyalität hat Collardi bei seinem Ex-Arbeitgeber vermissen lassen: Dort türmen sich die Probleme, die Finma führt ein Enforcement-Verfahren, der Kurs ist seit Collardis Abgang um 30 Prozent eingebrochen. «Sich einfach so aus dem Staub zu machen – das spricht nicht gerade für grosse Treue gegenüber einer Bank, der er seinen Aufstieg verdankt», ätzt ein Genfer Mitbewerber.
Dass Pictet jüngst zudem kühne Wachstumspläne ankündigte – 300 neue Mitarbeiter allein in diesem Jahr –, befeuert den Unmut: Die Zeichen stehen überall auf Abbau – wenn dann ein so renommiertes Haus wie Pictet die Türen für Top-Leute öffnet, steigt in vielen Geschäftsleitungen zu Recht der Blutdruck. Dass bereits zwei Teams von Bär – Nahost und Lateinamerika, mehr als 30 Mitarbeiter – zu Pictet wechselten, treibt gerade bei seinem alten Arbeitgeber die Emotionen in die Höhe – und sorgt in den Medien für Aufregung in diesem bislang eher ereignisschwachen Bankenjahr. Eine Aufmerksamkeit, die die Pictet-Edelmänner nicht wirklich brauchen. Da stellt sich die Frage: Warum haben sie gerade ihn geholt?
Kein Streit mit Bär
«Er hat sich hervorragend integriert», schwelgt Senior Partner Nicolas Pictet beim Frühstück in einem der Speiseräume im fünften Stock des Gebäudes, das die Bank vor elf Jahren bezogen hat. Hier im Genfer Stadtteil Acacias sind die Aufgeregtheiten aus Zürich weit weg, und der sandfarbene Spannteppich verschluckt alle übersteuerten Geräusche. «Wir wollen keinen Streit mit Julius Bär», betont Pictet und rührt in seinem Tee. Die Hyperventilationen aus Zürich langweilen ihn, so viel ist offensichtlich.
Der Gast wird mit dem Rücken zum Fenster platziert: Der Blick auf das Industriequartier Acacias ist nur mässig charmant. Zwar thront das Rolex-Hochhaus mit seiner goldfarbenen Krone über dem Stadtteil. Doch direkt gegenüber der Pictet-Zentrale breitet sich eine grossflächige Lagerhalle mit begrenztem Industriecharme aus, und daneben liegt eine Filiale des Elektro-Discounters Mediamarkt, die als Retro-Chic eher wohlwollend beschrieben ist. Immerhin gibt es eine eigene Tramhaltestelle namens Pictet-Thellusson (Letzterer auch ein Privatbankier), vom Genfer Hauptbahnhof sind es gerade acht Stationen.
Doch die Teilhaber kommen ohnehin nicht mit dem Tram. Im Innenhof warten grosse BMW-Limousinen, die die Pictet-Verantwortlichen auf der Umgehungsautobahn direkt zum Flughafen chauffieren. «Da sind wir schnell», lachen sie. Dass die Lage im alten Gebäude an der Plaine de Plainpalais am Rande der Genfer Innenstadt aus Kundensicht besser war, würden sie wohl kaum bestreiten. Doch der alte Sitz wurde zu klein.
Saint-Emilion Grand Cru
Dafür lebt im Inneren umso mehr der Charme der alten Genfer Privatbankiers. Mittags kocht ein Sterne-Koch, den die Bank vom noblen «Hotel des Bergues» abgeworben hat, und während sich in Zürich die Auswahl in den Kundensalons meist nur noch auf verschiedene Fruchtsäfte beschränkt, wird ungefragt ein Saint-Emilion Grand Cru serviert. Das führt bei Besuchen von amerikanischen Grossanlegern zuweilen zu interessanten kulturellen Annäherungen: Viele von ihnen dürfen aus Compliance-Gründen die teuren Weine nicht verköstigen, doch nach eingehendem Studium des Etiketts lässt sich ein Glas dann doch nicht immer abwehren. Und dann werden es auch mal zwei.
«Wir denken langfristig», betont der 62-jährige Nicolas Pictet, der nach dem Jurastudium vor 35 Jahren einstieg und seit 28 Jahren Teilhaber ist – damit liegt er sogar über dem Schnitt der durchschnittlichen Partnerschaft von 21 Jahren. Das Renommee des eigenen Berufsstandes ist spätestens seit der Finanzkrise vielerorts auf Junk-Status abgerutscht, und da wirkt der abtretende Senior Partner wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten: Der Bankier als Ehrenmann.
Seit drei Jahren führt er die Bank als Primus inter Pares in administrativen Fragen und vertritt sie in den wichtigen Gremien nach aussen. Doch von einem klassischen CEO ist er weit entfernt – die Teilhaber diskutieren so lange, bis sie sich einig sind. Dreimal die Woche treffen sie sich um 9 Uhr morgens, jeden ersten Montag im Monat ist der gesamte Tag für die gemeinsame Sitzung reserviert. Die Sprache ist Französisch, die Muttersprache von allen Teilhabern, auch wenn die Teammeetings längst auf Englisch stattfinden. «Wir sind wie eine mexikanische statt einer ägyptischen Pyramide», betont Rémy Best, der zusammen mit Collardi das Wealth Management leitet und den damaligen Bär-Chef im Herbst 2017 ansprach. «Oben flach und nicht spitz.»
Vier zentrale Prinzipien
Natürlich dauert es im Gespräch mit Nicolas Pictet nicht lange, bis auch er das Mantra eines jeden Teilhabers bemüht: «Wir haben nur ein Ziel: Unsere Bank der nächsten Generation besser zu hinterlassen, als wir sie übernommen haben.» Doch jeder Frontmann bringt seine eigene Klangfarbe ein, und bei ihm ist es das Buch «The Puritan Gift» des US-Historikers Kenneth Hopper – durchaus mit einer religiösen Komponente: Die Bank als Geldorden.
Das Buch zeichnet den Erfolg der europäischen Einwanderer in die USA nach und nennt vier zentrale Prinzipien, die laut Pictet auch für seine Bank gelten: Die Arbeit gut machen. Partnerschaftlich führen. Verantwortung übernehmen. Unternehmerisch handeln. Und man könnte als fünften Pfeiler hinzufügen: Enorm anpassungsfähig bleiben. Vor 20 Jahren, bei der ersten BILANZ-Story, nannten die Vormänner Charles und Ivan Pictet als wichtigste Stärke noch: Die unbeschränkte Haftung der Teilhaber – sollte die Bank jemals in Schieflage geraten, würden die Partner mit ihrem Vermögen bis zum letzten Rappen haften, und das schaffe grosses Vertrauen bei den Kunden. Begleitet wurde die Fama von einer Geheimniskrämerei der Sonderklasse: Die Höhe der verwalteten Vermögen bleibe fest versiegeltes Geheimnis, und wer den Genfern irgendwelche Kennzahlen entlocken wollte – Eigenkapital, Ertrag oder gar Gewinn –, erntete nicht einmal ein süffisantes Lächeln.
Permanentes Buyout
Doch dann drängten die Regulatoren auf mehr Kapital, auch war die unbeschränkte Haftung für die heraufziehenden Rechtsfälle wohl doch etwas zu bedrohlich. Kurzerhand wurde die Rechtsform vor fünf Jahren in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, und weil Pictet immer der Pionier in Genf war, folgten Lombard Odier und Mirabaud auch gleich. Doch auch daraus machten die Banker einen Vorteil: Einmal bei der Transparenz. Heute veröffentlicht die Bank deutlich mehr, als sie müsste: Neben dem Jahresbericht gibt es sogar Halbjahreszahlen, und Gewinn, Eigenkapital und verwaltete Vermögen sind sauber aufgelistet. Pictet ist die Nummer eins vor Julius Bär, und das mit dem ausgewogensten Mix (siehe Tabelle unten). Gerade mit den grossen institutionellen Kunden lässt sich ohne testierte Zahlen und eine gewisse Grösse kein Geschäft mehr machen.
Doch gleichzeitig behielten die Teilhaber ihren Partnerschaftsmodus bei. Neue Teilhaber müssen ihren Anteil am Gesamteigenkapital von 3 Milliarden kaufen, den Kredit dafür erhalten sie von den bestehenden Teilhabern und bezahlen ihn über die Jahre ab. Wenn das nach etwa zehn Jahren geschafft ist, läuft das Geld aufs eigene Konto. Die Teilhaber sind also Geschäftsführer, Verwaltungsräte und Aktionäre in Personalunion – und damit aller calvinistischen Bescheidenheit zum Trotz die höchstbezahlten Banker der Schweiz: Geschätzt geht bis zur Hälfte des Gewinns – zuletzt 600 Millionen – an die Eigentümer, was pro Partner eine jährliche Gage zwischen 25 und 35 Millionen bedeutet. Collardi bezog bislang bei Bär gut 6 Millionen – aber mit deutlich mehr Getöse.
Wenn sie ausscheiden, verkaufen sie ihren Anteil an die nachrückenden Partner – die Bank lebt de facto von einem permanenten Management Buyout. Dabei verzichtet jede Generation aber auch auf viel Geld: Wie die Einzahlung, so geschieht auch die Auszahlung auf Basis des Buchwerts – die Wertsteigerung wird nicht berücksichtigt. Würde sich etwa die aktuelle Generation für einen Börsengang entscheiden, dürfte der Gesamtwert der Bank bei deutlich über 20 Milliarden Franken liegen – das wären pro Partner an die 3 Milliarden. Jetzt sind es beim Ausstieg lediglich geschätzte 300 Millionen – auch nicht gänzlich uncharmant.
Bei einem Börsengang bezöge jeder Partner 3 Milliarden – stattdessen gibt es nur 300 Millionen.
Jeder muss aber weiter bei jedem grösseren Entscheid zustimmen. Neu hat man jedoch eine Schwäche des Modells ausmerzen können. Aktienprogramme oder Optionspläne gab es nicht, und so mancher Leistungsträger fühlte sich angesichts des Geldsegens für die Teilhaber nicht genügend honoriert. Heute gibt es 37 sogenannte Equity Partner, die zusammen schätzungsweise so viel halten wie ein Teilhaber. Dazu profitiert der Grossteil der 4700 Mitarbeiter – etwa 80 Prozent – von der Gewinnbeteiligung. Dazu laden die Partner die gesamte Belegschaft jeden Februar ins Genfer Palexpo ein, und dort wird der Gewinn verkündet. Das führt automatisch zu Sparsamkeit. «Wenn jemand ohne Not erste Klasse fliegt, zahlen wir alle dafür», betont ein Mitarbeiter. Ein Denken, das in Grossbanken eher rar ist.
Kein Platz für grosse Egos
Kommt hinzu, dass sich der Grossteil der etwa 300 Top-Kader seit Jahren kennt und die Dienstwege kurz sind. Wer von den börsenkotierten Banken zu Pictet wechselt, fühlt sich fast wie in einer Oase: Ränkespiele auf der Teppichetage sind rar, hier geht es wirklich um den Kunden – allerdings mit grossem Ethos: Im Handelssaal etwa tragen alle Krawatten. «Wir sind sehr traditionell und gleichzeitig sehr modern», betont dann auch der Zürcher Wealth-Management-Chef Victor Aerni. Und es gibt wohl keinen Arbeitgeber in der geschwätzigen Bankenszene, von dem selbst Ex-Mitarbeiter noch so positiv reden. Die Fluktuation ist mit weniger als fünf Prozent sehr tief, das erste Dienstgeschenk gibt es erst nach 15 Jahren – zwei Edelschreiber, natürlich von der Genfer Manufaktur Caran d’Ache. Für grosse Egos ist da kein Platz. «Ganz offen: Das ist nicht jedermanns Sache», räumt dann Collardi auch ein (siehe Infobox «Bei Pictet melden sich die Leute von allein»).
Rémy Best lotste Boris Collardi zu Pictet. Jetzt leitet er mit ihm das Wealth Management. Im Interview sprechen die beiden Wealth-Management-Chefs über ihre Aufbaustrategie in Zürich und die Expansion in Asien.
Doch der Erfolg spricht für sich: Pictet arbeitet mit 60 Prozent weniger Kapital als Bär, erzielt darauf aber eine Marge von 21,6 Prozent – Bär bringt es dagegen auf 12,8 Prozent. Selbst den grössten Anschlag auf das Geschäftsmodell, das Ende des Bankgeheimnisses, überstand die Bank erstaunlich gut. Niemals werde die Bank die Steuerkonformität ihrer Kunden überprüfen, hatten die Teilhaber noch vor acht Jahren eisern verkündet.
Heute macht die Bank das längst – und verdient damit gutes Geld: Das Attest zur Steuerkonformität wird rege als Dienstleistung nachgefragt. Schwarzgeld gibt es heute laut Pictet gar nicht mehr, und bei den Altlasten gibt man sich gelassen. Das Verfahren mit den USA läuft noch, mehr könne man dazu nicht sagen, und auch der Ärger der UBS in Frankreich sorgt nicht für Unruhe – bei Pictet gibt es keine Ex-Mitarbeiter, die gegen die eigene Bank aussagen. Auch in den schwierigen Jahren der Abkehr vom Bankgeheimnis war Pictet stets profitabel.
Warum braucht die Bank dann überhaupt jemanden wie Collardi? 42 Teilhaber zählt Pictet erst in ihrer langen Geschichte. Der letzte Partner, der wie Collardi von aussen kam, war vor 21 Jahren der baldige Senior Partner Renaud de Planta – und auch mit ihm nahm die Bank eine wichtige strategische Weichenstellung vor: Den Einstieg ins Asset Management. Denn schon damals war den Bankern die Abhängigkeit vom Bankgeheimnis bewusst, und sie suchten nach Diversifizierung in der institutionellen Vermögensverwaltung.
Profitables Asset Management
Der Ex-UBS-Mann de Planta schrieb hier eine der grössten Erfolgsgeschichten der Schweizer Finanzindustrie der letzten Jahrzehnte. Bei seinem Start lagen Anbieter wie Lombard Odier vorn, doch mit Beharrlichkeit, einem konsequenten Multi-Nischen-Ansatz und Pioniergeist – Pictet lancierte bereits im Jahr 2000 die ersten Themenfonds und ist hier heute Weltmarktführer – überholte das Asset Management zuletzt sogar das Wealth Management: Beide verwalten etwa 200 Milliarden Franken, aber die letzten zwei Jahre war das Asset Management sogar profitabler.
De Planta durfte seine Leutnants belohnen: Sein langjähriger Stellvertreter Laurent Ramsey wurde vor drei Jahren Teilhaber, mit der Kür von de Planta zum Senior Partner stieg jetzt auch Sébastien Eisinger auf, ein Franzose mit Elsässer Wurzeln. Alle drei belegen: Leistung geht vor Herkunft. Wenn Nicolas Pictet im September ausscheidet, sind nur noch zwei Vertreter der alten Familien im Teilhaber-Gremium: Marc Pictet, der die Informatik leitet, und Bertrand Demole, der den Handel und die Sparte für Alternative Anlagen führt.
Doch die beiden zentralen Geschäftsbereiche sind in der Hand von familienfremden Bankern, und das führt zu der Personalie Collardi. Der Margendruck im Wealth Management ist gross, der Schutzwall des Bankgeheimnisses eingestürzt, und die technologieaffine junge Generation lässt sich nur mit guten Weinen nicht mehr gewinnen. Der Neugeldzufluss betrug im letzten Jahr für die gesamte Gruppe spärliche ein Prozent. Besonders in der Wachstumsregion Asien ist Pictet zu schwach: Hier liegen gerade zehn Prozent der verwalteten Vermögen, Collardi hatte dagegen bei Bär den Anteil auf 25 Prozent hochgetrieben. Man könnte auch sagen: Dass Collardi zu Pictet wechselt, ist nicht überraschend – die Partnerschaft bei der edelsten Privatbank der Branche ist ein Ritterschlag, den niemand ablehnt.
Pictet braucht Collardi
Aber eben: Auch Pictet braucht Collardi. Kein Schweizer Banker verfügt über ein derartiges Netzwerk in Asien, und der jahrelange Börsendruck verleiht ihm eine Stressresistenz, die seine Kollegen nicht mitbringen. Dazu verfügt er über eine aussergewöhnliche kulturelle Geschmeidigkeit: Ob Frankreich, Italien, Deutschland oder eben Asien – Collardis Anpassungsfähigkeit ist seine grösste Stärke. Portier, Gründer oder die Kollegen im erlauchtesten Partnergremium der Bankenwelt: Collardi findet immer den passenden Ton. Und neben Asien liefert er auch noch die lange geplante Expansion in Zürich gleich mit.
Seit vier Jahren vertrat der Veteran Rémy Best das Wealth Management im Teilhaber-Gremium allein, er hatte zwar mit Christian Gellerstad einen CEO eingesetzt, doch für den Aufbau in Asien genügte diese Aufstellung nicht. Die Partner schlossen die Lücke – mit Collardi. Nach seiner Ankunft ging Gellerstad, und dass er jetzt in den CS-Verwaltungsrat einzieht, ist auch ein Beweis für die starke Reputation Pictets. Ersetzt wurde er nicht. Jetzt ist ja Collardi da.
Allerdings: Er will in Asien nicht die Scheckbuch-Strategie von Bär wiederholen. Die Devise lautet: Langfristiges Wachstum und kontinuierliches Rekrutieren statt Abwerben ganzer Teams oder gar Akquisitionen. Auch will er keinesfalls über die Vergabe von Krediten die verwalteten Vermögen pushen, wie das die meisten Player machen, inklusive Bär. «In Asien wachsen viele Häuser über die Kreditvergabe. Das wollen wir nicht», betont Collardi. Hier taucht sogar ein leichter Riss in der sonst so geeinten Front der Partner auf. De Planta hatte im Herbst der «NZZ» mitgeteilt, dass er im Wealth Management in Asien «Zukäufe nicht ausschliesse». Das hörten die Bereichsleiter Best und Collardi gar nicht gern. Denn Pictet wuchs immer organisch, und dabei soll es auch bleiben.
Turm mit 20 Stockwerken
Es gilt die Devise: Die Werte bewahren und sich dennoch weiterentwickeln. «Wir mögen wie ein stolzer Schwan wirken, der über den Genfersee gleitet. Aber unten wird gestrampelt», betont de Planta. Sogar eine Frau im Teilhaber-Gremium will er nicht kategorisch ausschliessen, und vielleicht kommt auch einmal jemand, dessen Muttersprache nicht Französisch ist. Vieles ist möglich, bloss kein Dogma. Sicher ist nur eines: Die Bank wächst und wächst – obwohl das gar nicht das primäre Ziel ist. «Das Wichtigste ist, dass wir unsere Arbeit gut machen. Wachstum ist eine Folge davon», betont Nicolas Pictet.
In Zürich ist der Einzug in den Leuenhof, den Ex-Sitz der Bank Leu, das Signal für die Expansion. Ende nächsten Jahres soll der Umbau an der Bahnhofstrasse fertig sein, 300 Mitarbeiter finden hier Platz. Doch aus Genfer Sicht ist das nur eine Petitesse. Vor 20 Jahren zählte die Bank noch 1100 Mitarbeiter, heute sind es 4700. Das heisst: Im Schnitt kamen jeden Monat 15 neue Mitarbeiter hinzu. So soll es weitergehen – mindestens. Die Zentrale in Genf mit ihren 1700 Mitarbeitern ist schon wieder zu klein. Direkt nebenan plant die Bank bereits den neuen Hauptsitz – einen Turm mit mehr als 20 Stockwerken.
Dieser Artikel erschien in der Mai-Ausgabe 05/2019 der BILANZ.