Es klingt wie gestern geschrieben: «Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird.» Aber diese Einsicht ist alt von 1848. Karl Marx hat sie verfasst, sie ist Teil des Kommunistischen Manifests.
Zeitumstände führten Marx damals die Feder: Der Schienenstrang erobert Europa in rasendem Tempo, die Dampfmaschine transportiert den Fortschritt in die entlegensten Ecken, Fabriken schicken die Ökonomie der Handarbeit aufs Abstellgleis. Selbst die seinerzeit industrieschwache Schweiz bekommt ihre erste Eisenbahnstrecke 1847, ein Jahr, bevor das kommunistische Manifest erscheint.
Eine neue Schicht in der Bevölkerung entsteht die Lohnarbeiter. Karl Marx lernt sie auf einer Studienreise nach England kennen. Sie rücken in die Fabriken ein, tagaus, tagein, und verrichten dort Arbeit, wie sie in vorindustriellen Zeiten kaum bekannt war. Maschinen bestimmen den Takt, das Tun ist auf ein paar wenige Handgriffe reduziert, viele Stunden, viele Tage.
Marx beschreibt das Elend der neuen proletarischen Klasse, analysiert die aufkommende Welt der Grossindustrien und zieht seine Schlüsse. Arbeiter sind unterbezahlt, bemerkt der Sozialökonom, sie verdienen kaum genug, um sich und ihre Familien durchzubringen.
Der Grund ist das Verhalten der Kapitalisten im beginnenden Industriezeitalter. Diese eignen sich den Ertrag der Leistung an, die Arbeiter erhalten nur einen kleinen Teil davon als Lohn ausgezahlt. «Mehrwert» nannte Marx den in den Händen des Unternehmers bleibenden Geldbetrag.
Seine zentrale These: «Weil sich die Fabrikanten den Mehrwert aneignen, entsteht Ausbeutung.» Die besitzende Klasse kann immer grössere Summen ansammeln, damit Kapital bilden und so ihre Macht vergrössern. «Eigentum ist das Grundübel des Kapitalismus», mag Marx gesagt haben: Weil der Staat das Eigentum schützt, werden die Besitzenden immer reicher. Den Arbeitern bleibt in diesem Weltbild nichts übrig ausser ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen.
Aber der Zustand ist instabil. Die Verhältnisse der Produktion werden immer besser die herrschende Klasse akkumuliert Kapital, das sie in Maschinen und Fabriken steckt. Die Produktivkräfte jedoch, also die Arbeiter, bleiben in der Armut stecken. Es entsteht ein Ungleichgewicht, das zur Revolution führen müsse, sagte Marx.
Paradiesähnliche Gesellschaft
Gemäss dem Marx'schen Fahrplan ist nach dem Umsturz die Tür offen für den Weg zur idealen Gesellschaft. Über Zwischenstadien wird der Kommunismus erreicht, eine paradiesähnliche Gesellschaft. «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen», lautet ihr Leitbild. Das unselige Privateigentum ist abgeschafft, alles gehört allen. Arbeit ist kein Mittel des Erwerbs mehr, sondern ein Bedürfnis, um sich selbst zu verwirklichen. Niemand ist mehr auf einen Beruf angewiesen. «Heute dies tun, morgen jenes, morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben, nach dem Essen kritisieren, wie ich gerade Lust habe», beschreibt Marx das Leben in der Gesellschaft im Endzustand, ohne Ungleichheit, ohne Ausbeutung.
Der Denker arbeitete unermüdlich, um Publikum für diese Ideen zu gewinnen. Über Jahre hockte er zehn Stunden am Tag an seinem Tisch im British Museum, schrieb Thesen, Bücher, Manifeste, beeinflusste Organisationen und wurde mit Friedrich Engels das geistige Zentrum des aufkommenden Kommunismus.
Seine Jünger probierten seine Lehren in der Praxis aus. Mao, Lenin, Stalin, Ulbricht und Castro halfen beim Thema Revolution nach, wenn sie nicht von selbst eintrat. «Einholen und überholen» war anschliessend das Motto; die zunächst sozialistische und dann kommunistische Gesellschaft sollte die kürzesten Arbeitstage, die höchsten Einkommen und den grössten allgemeinen Wohlstand in der Welt haben.
Aus Marx' Vorgabe «Die Gesellschaft regelt die allgemeine Produktion» wurden riesige Bürokratien geschaffen. Planer in Ministerien steuerten fortan die Produktion, vom Hosenknopf bis zum Düsenflugzeug wurde alles zentral verwaltet und geplant.
Das Ende dieses Weges ist bekannt. «Der Kommunismus ist keine 100 Jahre alt und er wird die 100 Jahre nie erreichen», sagte Friedrich von Hayek, Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, in seiner letzten Vorlesung im Sommer 1981. So kam es dann: Ohne dass eine Macht ihn niedergekämpft hatte, implodierte der Kommunismus. Die Gesellschaft ohne Eigentum ging an sich selbst zugrunde, weil sie ihre Versprechen nicht einlösen konnte: Es gab weder Wohlstand noch Freiheit noch ein Ende der Ausbeutung.
Auch in den letzten Labors des Kommunismus, in Nordkorea und Kuba, laufen die Dinge so schlecht, dass sie nicht als Bestätigung für Marx' Thesen herhalten können: In Korea verhungert das Volk, Kuba überlebt nur dank marktwirtschaftlicher Dollar-Inseln. Vielleicht hat der Denker es geahnt, dass seine Anwender alle scheitern werden. «Ich bin nie Marxist gewesen», soll Karl Marx gesagt haben, kurz bevor er am 14. März 1883 in London starb.
Bereits erschienen: Adam Smith, siehe «HandelsZeitung» Nr. 27, David Ricardo, Nr. 28. Lesen Sie nächste Woche: Alfred Marshall.
Zitate
Das sagt Karl Marx ...
... über die Rolle der Philosophen:
«Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.»
... zur Frage, wer die Macht hat:
«Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h., die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.»
... zur Entfremdung im Beruf:
«Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbstständigen Charakter und damit allen Reiz für den Arbeiter verloren.»
... über die Höhe des Lohns:
«In demselben Masse, in dem die Widerwärtigkeit der Arbeit wächst, nimmt daher der Lohn ab.»
... über die Zwänge der Berufstätigkeit im Kapitalismus:
«Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschliesslichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht herauskann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will.»
Karl Marx - der geistige Vater des Kommunismus
Karl Marx wird 1818 in Trier an der Mosel in eine bürgerliche Familie geboren. Seine überragende geistige Schaffenskraft zeigt sich schon in der Schule, die er 1835 als Jahrgangsbester abschliesst. Nach Studium in Bonn und Berlin promoviert Marx an der Universität Jena mit einer Arbeit zur «Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie».
Seine Hoffnung auf eine Professur in Bonn zerschlägt sich am Widerstand der preussischen Regierung. In der Folge schlägt der Denker eine Karriere in der Publizistik ein: Als Chefredaktor bringt er die «Rheinische Zeitung» auf einen präkommunistischen Kurs, prompt wird das Blatt verboten. Ähnliche Projekte in Paris und Brüssel scheitern oder werden ebenfalls von den Machthabern vereitelt.
Ab 1846 treibt Marx seine Ideen auch in kommunistischen Organisationen voran, die er, teilweise gemeinsam mit Friedrich Engels, gründet oder auf seine Thesen einschwört. Ziel: Seine Ideen in Europa ausbreiten und in der Politik umsetzen. Im Revolutionsjahr 1848 erscheint das von ihm verfasste Kommunistische Manifest.
Aus Paris, Brüssel und Köln wird er wegen seiner Ansichten hinausgeworfen, 1849 findet er mit seiner Familie Heimat in London und lebt als Journalist und Vordenker des Kommunismus in ärmsten Verhältnissen. Er publiziert und agitiert weiter, wird einer der Führer der kommunistischen Internationale. Sein Hauptwerk «Das Kapital» kann wegen der hohen Arbeitsbelastung erst 1867 mit einem ersten Band erscheinen. Zwei weitere Werke werden von Friedrich Engels erst nach Marx' Tod 1883 herausgebracht. Marx überlebte seine Frau Jenny um zwei Jahre und hinterliess drei Töchter. Sein Geburtshaus in Trier ist heute noch Ziel für Touristen aus aller Welt.