Was Karl-Erivan Haub einmal beschrieb, klingt heute wie ein böses Omen: «Die Luft wird halt verdammt dünn da oben, da ist wenig Sauerstoff drin.» Im Hochgebirge sei man fast nur noch mit sich selber und dem Vorwärtskommen beschäftigt. «Da wird man sehr konzentriert auf seinen Kern.» Haub war überzeugt: «Menschen, die sich quälen können, erweitern auf jeden Fall ihre Möglichkeiten.»

Haub ist verschwunden. Am Samstag vor zehn Tagen wurde er zuletzt gesehen – auf 3883 Meter Höhe. Bilder einer Überwachungskamera zeigen den Milliarden-Erben und Chef von mehr als 215'000 Mitarbeitern der Tengelmann-Gruppe beim Ausstieg aus der Seilbahn zum Matterhorn.

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Dort oben wollte er für die legendäre Patroille de Glaciers trainieren, einen der härtesten Wettkämpfe für Ski-Bergsteiger der Welt. Bergretter suchten tagelang. Vergeblich. Man habe die Hoffnung aufgegeben, Haub noch lebend zu finden, teilte seine Familie am Freitag Nachmittag mit.

Grenzüberschreitung als «befreiendes Gefühl»

Höher, weiter, schneller. Viele Top-Manager streben heute auch in der Freizeit nach Heldentaten. Sie erklimmen höchste Gipfel, stählen ihre Körper für den Iron Man oder durchkreuzen die Weltmeere am Lenkdrachen auf dem Surfbrett. Ihr Leben besteht aus Selbstoptimierung, Drill und vermeintlich kalkulierten Risiken. Motto: No risk, no fun.

Doch warum bloss setzen sich Menschen, die im Beruf so grosse Verantwortung tragen, solch grossen Risiken aus? Warum zieht es ausgerechnet Top-Manager und Unternehmer auch im Sport zu den Extremen? Für Jochen Schweizer hat das auch mit Zwängen zu tun und mit dem Wunsch, sie abzuschütteln. «Wenn wir über unsere Grenzen gehen, unsere Komfortzone verlassen, ist dies oftmals ein unglaublich befreiendes Gefühl», schwärmt er.

Schweizer war einst Stuntman und Pionier unter Deutschlands Extremsportlern. Dann machte er das kalkulierte Risiko zu seinem Kerngeschäft. Die von ihm gegründete Unternehmensgruppe, die heute mehrheitlich zu ProSiebenSat.1 gehört, bietet Hunderte von unterschiedlichen Erlebnissen an – vom Flug am Drahtseil ins Alpental über Fahrten mit dem Rennbob bis zur Höhlenexpedition.

Heute arbeitet Schweizer auch als Motivationscoach und sagt Sätze wie: «Grenzen und Ängste existieren oft nur in unseren Köpfen.» Viele Top-Manager haben in Schweizers Augen Charaktereigenschaften, die sie für die exzessive Ausübung von Sport besonders qualifizieren: «Mit der gleichen Konsequenz, mit der sie Unternehmen führen, führen viele auch sich selbst.»

«Sensation Seeker» brauchen den Dopamin-Kick

Hartes Training, Drill und Disziplin sind das eine. Die Lust an Erregung ist das andere. Die trieb den Gründer von Virgin Records, Sir Richard Branson, noch im Alter von 61 Jahren. 2012 überquerte er als ältester Mensch den Ärmelkanal per Kite-Surfing.

Sie stachelt Manager wie Georges Kern, Urs Lehman oder den verstorbenen Carsten Schloter an (siehe Bildergalerie). Und sie gibt dem Top-Berater der Boston Consulting Group, Hubertus Meinecke, den letzten Kick, wenn er bei brütender Hitze zu einem Ultramarathon in der Sahara startet.

«Sensation Seeker» nennen Psychologen Menschen, die im Leben ständig nach neuen Reizen suchen, um glücklich zu sein. Sie lassen sich von Neugierde und Aufbruchslust zu immer neuen Orten und Menschen treiben – oder sie suchen im riskanten Sport das Abenteuer.

Wenn das Herz schneller schlägt, die körperliche Anspannung steigt, ein Sensation Seeker empfindet das als angenehm. Sein Körper schüttet dann vermehrt Dopamin aus, der Botenstoff verleiht ihm ein Glücksgefühl. Nur etwa jeder fünfte Mensch ist so gestrickt, dass er sein Erregungsniveau gerne hoch hält, haben Forscher herausgefunden. Wer zu dieser Minderheit gehört, entscheiden vor allem die Gene.

Antje Heimsoeth coacht Menschen, die den Nervenkitzel lieben. Sie hat einen Manager beraten, der zum Race Across America (RAAM) angetreten ist, das ultralange Radrennen von Amerikas West- zur Ostküste. Ihre Klienten laufen neben dem Job Marathon oder besteigen den Mount Everest. Sie tun das aus vielen Gründen. «Es geht um Wettbewerb, Leistung und Sieg über eigene Ängste», hat Heimsoeth beobachtet. Aber auch darum, sich selbst wieder zu spüren.

Viele Manager hätten durch Dauerstress und fortwährende Jetlags die Verbindung zu ihrem Körper verloren. Der Sport bringt die zurück. Und er schafft Bilder im Kopf, die auch im Geschäft helfen: «Bilder vom Zieleinlauf, von den letzten Metern bis zum Gipfel – dafür lohnt es sich, an seine Grenzen zu gehen.»

Selbst Versicherungsmanager suchen die Gefahr

Reinhold Messner hat viele solche Bilder im Kopf: Er auf dem Gipfel des Mount Everest – als erster Mensch ohne Sauerstoffgerät. Er in der Antarktis, nach 2700 Kilometern Fußmarsch angelangt an dem Schild, das den geografischen Südpol markiert. Er auf dem Gipfel des Nanga Prabat. Alle 14 Achttausender auf der Welt hat der Jahrhundert-Bergsteiger bezwungen, immer den Tod im Blick: «Jeder lockere Stein könnte mich dort oben potenziell erschlagen oder eine Lawine auslösen, die mich unter sich begräbt», erinnert er sich. «Das ist die Auseinandersetzung, die mich fasziniert: Der Mensch, der sich in der Natur behauptet.» So manches Mal habe er «dem Tod ein Schnippchen geschlagen». So nennt Messner das.

Basejumper springt in Lauterbrunnen BE in die Tiefe. Keine Risikosportart fordert mehr Todesopfer.

Das allerdings gelingt nicht allen Extremsportlern. Carsten von Birckhahn stürzte im vergangenen Sommer in den italienischen Alpen mit seinem Gleitschirm ab. Er war Brand Manager beim Bergsport-Ausstatter Edelried. Der Gründer des Onlineshops für Trauringe «123Gold», Alexander Ferch, starb wenige Monate später beim Kite-Surfen.

Freunde des sogenannten Basejumps führen auf einer Webseite eine eigene, makabere Todesliste. Laut derer sind bis zum Februar dieses Jahres 335 Menschen dabei ums Leben gekommen, sich in speziellen Anzügen wie Flughörnchen in die Tiefe zu stürzen.

Selbst Vorständen deutscher Dax-Konzerne wäre solch ein riskantes Hobby übrigens nicht verboten. Anders als bei Profi-Fußballern ist in der Regel keine Freizeitbeschäftigung vertraglich ausgeschlossen. Selbst im Versicherungskonzern Allianz steht für die eigenen Vorstände kein noch so gefährliches Hobby auf dem Index.

Eine Vorschrift soll allerdings ein sogenanntes Kumulrisiko ausschließen. Sie verbietet es, dass mehr als drei Vorstände im gleichen Flugzeug reisen.

Karl-Erivan Haub war allein unterwegs. Ausgerüstet nur mit dünner Jacke und einem Tagesrucksack stieg er auf dem Matterhorn aus der Gondel. Am Samstag, dem 7. April, um 9.10 Uhr. Danach verliert sich seine Spur.

Dieser Artikel ist unter dem Titel «Warum viele Topmanager den lebensgefährlichen Kick suchen» erst in der «Welt» erschienen.