José Luis Duran hat gut reden. Der Carrefour-Chef will in den kommenden Jahren eine konsequente Auslandstrategie verfolgen. Die Nummer eins im europäischen Detailhandel und Nummer zwei weltweit will in den Auslandmärkten, wo sie präsent ist, mindestens an dritter Stelle rangieren. «Ansonsten», sagt Duran, «ziehen wir uns wieder zurück.» Wie weiland in der Slowakei und Tschechien geschehen, wo Duran die eigenen Läden wegen fehlender Rentabilität an Tesco abtrat und dafür die Tesco-Standorte in Taiwan übernahm.
Carrefour war bis vor kurzem selbst nicht so gut im Strumpf. Im letzten Sommer rankten sich Übernahmegerüchte um den grossen Franzosen. Der noch grössere US-Detailhändler Wal-Mart, so hiess es, habe es auf ihn abgesehen. Duran dementierte damals – mit gutem Grund, wie sich später herausstellte. Carrefour steht nämlich auf der Liste jener gallischen Firmen, über die der französische Staatspräsident persönlich seinen Schutzschild gespannt hat: unverkäuflich.
Eine so komfortable Lage wie Carrefour haben andere Detailhändler beileibe nicht. In der Branche brodelt es. «Fusionen und Übernahmen werden den Handel auch in Zukunft durchrütteln», sagt Gerhard Hausruckinger, zuständig für den Detailhandel im deutschsprachigen Raum bei der Beratungsfirma Accenture. Auch Thomas Hochreutener vom Marktforscher IHA-GfK in Hergiswil sieht strube Zeiten auf die Branche zukommen: «Der Konzentrationsprozess wird sich in allen Ländern bei Herstellern und Händlern verschärfen.»
Schon 2005 ist es im Retailgeschäft zu einigen überraschenden Übernahmen gekommen. In den USA wurde die Warenhausgruppe Neiman Marcus für 5,1 Milliarden Dollar von Private-Equity-Firmen akquiriert. Das gleiche Schicksal ereilte Circuit City und Toys’R’Us. Im US-Detailhandel wurde die Supermarktkette Albertsons filettiert und unter diversen Interessenten aufgeteilt. In Japan hat sich Seven & I den inländischen Konkurrenten Millennium Retailing einverleibt und wurde damit zu Asiens grösstem Einzelhändler.
Nicht nur in Übersee haben die M&A-Spezialisten der Banken und Beratungsfirmen Arbeit in Hülle und Fülle – in Europa schwappt die Übernahmewelle erst recht hoch. Die holländische Ahold hat in Tschechien die Supermärkte des österreichischen Detailhändlers Meinl gekauft. Die deutsche Edeka übernahm per Anfang 2005 von der ITM Intermarché die Supermärkte von Spar sowie den Discounter Netto und katapultierte sich so zum Marktführer in Deutschland hoch. Und Carrefour übernahm Mitte Jahr von Rewe die Penny-Discountmärkte in Frankreich.
Flurbereinigung war in der jüngsten Vergangenheit auch im Schweizer Detailhandel das Thema Nummer eins. Dies hat indes weniger mit den internationalen Expansionsgelüsten der Schweizer zu tun als mit der permanenten Drohung ausländischer Eindringlinge. Nach Carrefour, Casino, Metro und Rewe bekundeten auch die deutschen Discounter Aldi und Lidl Lust auf den lukrativen helvetischen Markt. Aldi hat den Sprung über die Grenze mittlerweile geschafft, Lidl zögert noch.
Die Serie von Übernahmen hat jüngst zu einer Neuordnung im Schweizer Detailhandel geführt. Discounter Denner hat sich durch den Erwerb von Pick Pay zur Nummer drei im hiesigen Retailgeschäft aufgeschwungen. Coop kaufte mit der Übernahme von Waro und EPA massiv Umsatz zu, und Migros konnte sich mit der Übernahme der edlen Globus-Warenhäuser Markenartikel-Kompetenz einverleiben.
Der fast hysterisch anmutenden Aufgeregtheit im Schweizer Detailhandel zum Trotz: Europaweit haben die Schweizer nichts zu berichten. Unter den weltweit 250 grössten Detailhändlern sind Migros und Coop, die über 70 Prozent des inländischen Marktes beherrschen, nicht in den vorderen Rängen platziert. Unter den 20 Grössten mischen zuvorderst die US-Amerikaner, die Deutschen und Franzosen mit. Migros findet sich auf Platz 50 und Coop abgeschlagen auf Rang 67. Wal-Mart, der US-Gigant, ist fast 20-mal grösser als die Migros.
Im binneneuropäischen Vergleich sieht es für die beiden Schweizer Marktführer etwas rosiger aus – vorne mit dabei sind sie dennoch nicht. Migros ist die Nummer 25, und Coop liegt auf Platz 32. Eine Expansion ins Ausland ist für Coop-Chef Hansueli Loosli kein Thema. Coop versteht sich als rein inländischer Detaillist. Dagegen könnte sich die Migros, die mit fünf Läden im grenznahen Ausland präsent ist, eine weitere Expansion «in den süddeutschen Raum» vorstellen, wie Migros-Chef Herbert Bolliger jüngst in einem Interview sagte. «Das ist», meint ein Detailhandelsexperte, «mit Verlaub, keine Auslandstrategie.»
Schon heute steht fest: Der europäische Detailhandelsmarkt wird unter den multinationalen Retailern, vorab den Deutschen und Franzosen, aufgeteilt. Von den anderen grossen auf dem Kontinent agierenden Handelskonzernen mischen nur die britische Tesco, die Ahold und Wal-Mart mit. Die anderen grossen US-Detailhändler sind rein nationale Gesellschaften geblieben.
Der europäische Retailmarkt ist äusserst lukrativ: Sein Volumen beträgt laut «Lebensmittel Zeitung» 1174 Milliarden Euro. Allein an Nahrungsmitteln werden jährlich rund 860 Milliarden Euro umgesetzt. Die grössten Märkte sind Grossbritannien vor Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Die fünf grössten Länder absorbieren rund 800 Milliarden Euro – fast 70 Prozent des gesamteuropäischen Marktvolumens. Gegen 700 Millionen Kunden wollen europaweit versorgt sein, davon rund 300 Millionen in den stark wachsenden mittel- und osteuropäischen Konsumlandschaften. Allein Russland und die Ukraine haben eine Bevölkerung von 181 Millionen.
Zwar beherrschen Giganten das Feld im europäischen Lebensmittelhandel. Dennoch ist der Markt auf dem alten Kontinent stark fragmentiert. «Die Top 10 der Branche bringen es nur auf einen Marktanteil von 37,3 Prozent», schreibt die «Lebensmittel Zeitung» in der Broschüre «Der Lebensmittelhandel in Europa 2005». Keiner der international agierenden Retailer kommt auf einen Anteil von mehr als sieben Prozent. Carrefour steht mit 6,5 Prozent an der Spitze, die deutsche Metro hat sich mit 5,2 Prozent nahe an den Franzosen herangeschoben, während Tesco mit 4,2 Prozent starkes Aufholpotenzial hat.
Der Blick in die einzelnen Länder ergibt ein etwas anderes Bild. In den meisten westeuropäischen Märkten ausser in Italien besetzen die Top Five Marktanteile, die zwischen 65 und 90 Prozent liegen. Spitzenreiter sind die nordischen Länder mit weit über 80 Prozent. Anders Osteuropa: In Russland haben die grössten fünf keine 10 Prozent Marktanteil, in Polen sind es 24 und in der Ukraine 25 Prozent. Der reifste Markt in Mitteleuropa ist Ungarn mit 60 Prozent Anteil der fünf Spitzenreiter. In der Slowakei, in Tschechien und Ungarn besetzen die Westeuropäer die Plätze eins bis fünf. Im Osten, so die Schlussfolgerung, ist der Retailmarkt weitgehend unter den westeuropäischen Konzernen aufgeteilt – selbstredend unter Ausschluss der Schweizer Detailhändler.
Der Konsummotor brummt im Osten weit stärker als in westlichen Gefilden. Der Detailhandelsmarkt wächst im Schnitt um sechs bis sieben Prozent, in einzelnen Ländern gar zweistellig. In Westeuropa sind 1,5 bis 2 Prozent Zunahme pro Jahr schon ein gutes Resultat. Die Wirtschaften dieser Länder boomen, die Kaufkraft der Bevölkerung nimmt rapide zu, während sie in Westeuropa eher stagniert. Welches Potenzial in Osteuropa schlummert, zeigt sich gemäss «Lebensmittel Zeitung» beim privaten Verbrauch: «Liegt er hier zu Lande bei 15 655 Euro pro Kopf, so sind es in Russland 1580 und in der Ukraine 580 Euro pro Kopf.» Steigt der Konsum in den beiden Ländern nur um 100 Euro pro Nase, so wachsen die Detailhandelsumsätze in den beiden Ländern um 18 Milliarden Euro.
«Eine Expansion in einen oder mehrere dieser rasch wachsenden Märkte ist für europäische Einzelhandelsunternehmen aus strategischer Sicht unerlässlich», sagt William Wright, Leiter Detailhandel bei PricewaterhouseCoopers (PwC) Schweiz. Das Verdikt des PwC-Experten ist eindeutig: Migros und Coop haben den Vorstoss in den Osten verpasst, es sind nur die ganz grossen Retailer, die mithalten können. Sie erfüllen zwei Voraussetzungen, die den Schweizern fehlen – Carrefour, Metro, Tesco, Aldi oder Lidl verfügen über grosse Heimmärkte, die stabile Erträge garantieren. Tesco hält zu Hause fast ein Drittel Marktanteil, Carrefour kommt auf rund ein Fünftel.
Zugleich sind sie über die Jahre hinweg stark gewachsen. Carrefour hat von 1999 bis 2004 jährlich um 6,7 Prozent zugelegt, Auchan um 6,4, Aldi brachte es auf 5,4 und Metro auf 5,3 Prozent. Als die besten Detailhändler erweisen sich derzeit dagegen diejenigen von Tesco, die um 12,6 Prozent zugelegt hat, und diejenigen der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) mit 16,2 Prozent – ein atemberaubendes Wachstum. Die Schlusslichter sind wiederum die Schweizer: Migros brachte es im betrachteten Zeitraum pro Jahr nur auf ein Umsatzplus von 1,2 Prozent. Die Coop-Gruppe steht mit 2,5 Prozent Umsatzzunahme etwas besser da, ist jedoch nicht in erster Linie organisch gewachsen, sondern durch Zukäufe. Die Schweizer Retailer sitzen in einer doppelten Falle: Sie verfügen zwar über hohe Marktanteile in ihrem Heimmarkt, der aber nur sieben Millionen Konsumenten zählt und zudem stagniert.
«Die Grossen werden grösser, und ihre Marktanteile steigen rund um den Globus», schreibt die Beratungsfirma Deloitte im Bericht «2006 Global Powers of Retailing». 2004 haben die weltweit 250 grössten Detailhändler ihre Verkäufe um neun Prozent steigern können. Die zehn Spitzenreiter setzten 817 Milliarden Dollar um oder 28,8 Prozent der Top-250-Verkäufe – 2003 waren es noch 28,4 Prozent gewesen. «Der Wettbewerb unter den Hauptkonkurrenten», schreibt Deloitte, «hat einen bedeutenden makroökonomischen Effekt.» Der Preisdruck im internationalen Retailgeschäft halte an, weil die grossen Händler die Effizienzgewinne an die Konsumenten weitergäben. Ihre Grössenvorteile brächten zugleich die Lieferanten in Zugzwang, ihrerseits die Kosten zu senken und den Konsolidierungsprozess weiterzutreiben.
Schiere Grösse hat im Detailhandel nicht nur Vorteile. Zum einen sind laut Deloitte-Bericht die global am schnellsten wachsenden Retailer relativ kleine, spezialisierte Firmen. Drogerien und Apotheken wie die kanadische Katz Group, Internetretailer wie Amazon sowie Convenience Stores wie die englische Morrison stehen an der Wachstumsspitze. Zum anderen bekunden einige der grossen Detailhändler Mühe mit ihrer Expansion. Wal-Mart etwa – erst 1962 gegründet – kommt in Europa nicht vom Fleck. In Deutschland kommt die Firma nicht aus den roten Zahlen heraus, und in England läuft das Geschäft einigermassen, weil die Detailhandelskette Asda übernommen werden konnte. Ahold wiederum, noch 2003 in Europa die Nummer drei, verkraftete die schnellen Zukäufe nicht, produzierte einen Finanzskandal in den USA und wurde zum Sanierungsfall. In der Folge mussten die meisten Akquisitionen wieder abgestossen werden, sonst hätte die Firma nicht überlebt.
Mit Problemen zu kämpfen hatte auch die deutsche Rewe. Als Genossenschaft war sie offenbar nicht agil genug, die schnellen Übernahmen in Frankreich und der Schweiz zu absorbieren. Auch sie musste abspecken, was sich nicht zuletzt in einem schwachen Wachstum von jährlich 2,5 Prozent über die letzten fünf Jahre niederschlägt. Auch im Osten musste Rewe zurückbuchstabieren. Schon 2001 verkaufte sie ihre Billa-Supermärkte in Polen an die französische Auchan. Rewe war erst fünf Jahre zuvor in den polnischen Markt eingedrungen. Beobachter des osteuropäischen Retailmarkts gehen davon aus, dass der Konsolidierungsprozess bei weitem noch nicht abgeschlossen ist. Kürzlich erklärte beispielsweise der neue Ahold-Chef Anders Moberg in einem Interview mit der «Finanz und Wirtschaft»: «Wir wollen in allen Regionen, in denen wir tätig sind, die Nummer eins oder zwei sein.» Ein ambitiöses Unterfangen. Ahold gehört mit einem Wachstum von 4,3 Prozent nicht zu den besten unter Europas Retailern.
Anders die deutsche Schwarz-Gruppe. Sie wächst zwar unter den zwanzig global grössten Detailhändlern am schnellsten. Doch ist nach wie vor England das Mekka des Detailhandels und Tesco der Vorbeter. «Tesco ist die Benchmark nicht nur für die Grossverteiler in der Schweiz, sondern für den ganzen europäischen Detailhandel», sagt Martin Hotz von Fuhrer & Hotz Excellence in Retailing in Baar ZG. Tesco zeichne sich durch eine konsequent auf den Kunden orientierte Strategie aus. Die Briten sind die Erfinder der Kundenkarte als Instrument der Kundenbindung. «Aber», so sagt Accenture-Berater Gerhard Hausruckinger, «die tun auch etwas Vernünftiges damit.» Sie benutzen sie, um die Bedürfnisse der Kunden noch besser kennen zu lernen.
Tesco hat sämtliche modernen Marketingstrategien im Detailhandel vorweggenommen. Etwa das High-Performance-Retail-Konzept in relativ kleinen Läden von 100 bis 500 Quadratmetern. Die Briten gingen zurück in die Stadtquartiere und damit weg vom üblichen Einheitssortiment in den Convenience Stores. Sie passten die Sortimentsstruktur in jedem einzelnen Laden den individuellen Bedürfnissen der Kundschaft an. Tesco hatte gemerkt, dass die alte Multiformatstrategie nicht mehr griff. «Hypermärkte und Convenience laufen gut», sagt Hotz, der jüngst wieder einen Augenschein in England nahm, «der Rest bleibt stehen.»
Bei den Hypermärkten auf der grünen Wiese verfolgt Tesco, aber auch die Schwarz-Gruppe mit ihren Kaufland-Kaufhäusern, eine One-Stop-Shop-Strategie, die ursprünglich von Wal-Mart entwickelt worden ist. Der Kunde soll möglichst alle Konsumbedürfnisse befriedigen können – von Nahrungsmitteln über Babywäsche und Audioanlagen bis zur Gartenbank. Und dies zu enorm günstigen Preisen und in mindestens drei unterschiedlichen Qualitäten: Premium, Markenartikel, Eigenmarken und Value-Produkte, die Billiglinie.
In diesem Kontext werden die Markenartikler speziell gefordert. «Sie leiden unter Autoritätsverlust, weil die Private Labels des Handels oft ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis bieten», sagt Marketingspezialist Hotz. Für die Lieferanten stelle sich ernsthaft die Frage, ob sie ihre Marken in einem höheren oder einem tieferen Preissegment positionieren sollten. Den Vormarsch der Eigenmarken können sie, mit welcher Taktik auch immer, nicht aufhalten. Tatsache ist, dass die grossen Retailer ihren Druck auf die Lieferanten erhöhen werden und tiefere Preise durchsetzen dürften.
Bei den kleinen Schweizern hat Coop in diesem Spiel die besseren Karten als die Migros. Coop-Chef Loosli hat unmissverständlich klar gemacht, dass weitere zu erwartende Preisabschläge im Schweizer Lebensmittelmarkt nur mit Beteiligung der Lieferanten erfolgen werden. Zudem hat Coop zusammen mit anderen grossen Detaillisten in Europa – unter anderem Rewe – die internationale Einkaufsgemeinschaft Coopernic aus der Taufe gehoben, die den Druck auf die Lebensmittelpreise nochmals erhöhen wird.
Migros dagegen dürfte in Zukunft einer doppelten Bedrohung ausgesetzt sein. Bei ihren Produktionsbetrieben erodieren die Margen, weil der Heimatschutz in der Landwirtschaft zunehmend wegfällt. Und im Detailhandelskanal sinken die Erträge mit zunehmendem Preisdruck. Eine wahrhaft wenig komfortable Lage.
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