Andere Länder Europas zum Sparen drängen, aber selber das Geld grosszügig ausgeben - diesem Vorwurf sah sich die deutsche Regierung in der zu Ende gehenden Wahlperiode häufiger ausgesetzt.
Die grosse Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten hat eine Reihe kostspieliger Sozialreformen umgesetzt, darunter die Rente mit 63 für langjährig Beschäftigte und eine höhere Mütterrente. Mit Blick auf die Bundestagswahl im September und die Wahlversprechen der Parteien verlangen Wirtschaftsvertreter mehr Sparsamkeit.
918 Milliarden Euro für Sozialleistungen
Nach dem jüngsten Sozialbericht der Bundesregierung hat Deutschland im vergangenen Jahr trotz Rekordbeschäftigung 918 Milliarden Euro für Sozialleistungen ausgegeben, die Billionengrenze könnte in den kommenden Jahren überschritten werden.
Für 2016 waren das 29,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), ein leichter Anstieg zum Vorjahr. Nach Einschätzung von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) steht der Umfang der Sozialleistungen aber im Einklang mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes.
Gegensätzliche Einschätzung
Das sieht das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) anders. Deutschland habe einen grossen und sehr leistungsfähigen Sozialstaat, könne sich diesen aber immer weniger leisten, sagt Präsident Marcel Fratzscher der Nachrichtenagentur dpa. Denn wegen der demografischen Entwicklung gebe es immer weniger Erwerbstätige, die die nötigen Leistungen erbringen könnten.
Schon jetzt habe das Land mit die höchsten Sozialabgaben der Welt. «Wenn sich der gegenwärtige Trend fortsetzt, dann könnten die hohen Sozialabgaben den Wirtschaftsstandort Deutschland schwächen und gute Jobs ins Ausland treiben», warnt Fratzscher.
Das Sozialbudget steigt schneller
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) kritisiert, dass das Sozialbudget auch im vergangenen Jahr deutlich schneller gestiegen sei als die Wirtschaftsleistung. «Kostensenkende Strukturreformen sind in allen Sozialversicherungszweigen unverzichtbar», sagt ein Sprecher.
Die Ausweitung der Mütterrente und die Rente mit 63 hätten den Kostendruck in dieser Legislaturperiode zusätzlich erhöht. Die Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung dürften die «rote Linie» von zusammen 40 Prozent des Bruttolohns nicht überschreiten.
«Das Stöhnen der Arbeitgeber ist ritualisiert»
«Das Stöhnen der Arbeitgeber über die Sozialausgaben ist ritualisiert», findet hingegen Annelie Buntenbach, Bundesvorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Schon jetzt zahlten die Arbeitgeber weniger als die Hälfte der Sozialbeiträge, die Arbeitnehmer entsprechend mehr.
Ausserdem gebe es einen Gegenwert, die 918 Milliarden Euro des vorigen Jahres stünden für Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung und Pflegebedürftigkeit im Alter. «Der Sozialstaat ist kein Kostenfaktor, sondern die Grundlage für Wohlstand und gesellschaftlichen Frieden in Deutschland», sagt Buntenbach der dpa.
Grundlegende Änderungen gefordert
Nach Einschätzung des Sozialverbandes VdK sind hohe Sozialleistungen bei niedriger Arbeitslosigkeit ein Hinweis darauf, dass es in Deutschland sehr viele schlecht bezahlte Jobs gibt. Geringverdiener erhalten nämlich als sogenannte «Aufstocker» staatliche Lohnzuschüsse zur Sicherung ihres Lebensunterhalts. Menschen müssten aber von ihrer Arbeit leben können, sagt VdK-Präsidentin Ulrike Mascher.
Nach Angaben des DGB arbeiten in Deutschland sieben Millionen Menschen im Niedriglohnsektor. Die nächste Bundesregierung müsse auch Probleme wie die drohende Altersarmut und die sinkende Tarifbindung angehen und mehr in Infrastruktur und Bildung investieren. «Die soziale Spaltung der Gesellschaft ist die wirkliche Bedrohung für Deutschland, nicht die Ausgaben», sagt Buntenbach.
Dagegen beklagt die BDA, der Bundestagswahlkampf befeuere «einen regelrechten Überbietungswettbewerb in Sachen Sozialleistungen.» Wer aber bei den Sozialbeiträgen immer weiter draufsattele, setzte Wachstum und Beschäftigung aufs Spiel.
Das DIW fordert «grundlegende Änderungen» in Deutschland, um einen leistungsfähigen Sozialstaat zu sichern. «Entweder müssen Menschen in Zukunft mit geringeren sozialen Leistungen auskommen, oder es muss über höhere Produktivität, mehr Zuwanderung und eine längere Lebensarbeitszeit mehr Wirtschaftsleistung geschaffen werden», sagt Fratzscher.
(sda/ccr)