Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, stand mein 18-jähriger Vater am ehrwürdigen Gymnasium Stella Matutina in Feldkirch kurz vor der Matura. Als potenzieller Soldat konnte er sofort eine Notprüfung ablegen und war dann reif, freiwillig und mit Begeisterung für Gott, Kaiser und Vaterland in die Schlacht zu ziehen. Diese focht er vier Jahre lang mit Lungendurchschuss, Beinverletzung, Gefangenschaft und erfolgreicher Flucht bis zum bittersten Ende. Vier Jahre einer Heldenjugend in Schlamm, Schützengräben, Kälte und Blut. Der Bruder, der Schwager und weitere 10 Millionen blieben auf der Strecke, 20 Millionen wurden verstümmelt oder verletzt. Man wusste zwar nicht so recht, warum die teilweise miteinander verwandten Herrscher dieses Inferno entfacht hatten, sicher aber wird es einem höheren Zweck gedient haben. 1944 durfte mein Vater als letzte Reserve noch einmal das Ehrenkleid der Nation – diesmal einer ungeliebten – tragen. In diesem Krieg verschwand mein Onkel mütterlicherseits in Russland, und weitere 55 293 500 Menschen starben direkt oder indirekt an den Folgen des Wahnsinns eines Einzigen und seines Gefolges.

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Das alles erfuhr ich als Kind beim Besuch der Grabsteine und beim trauernden Warten der Grossmutter auf den Sohn. Darum meinte ich, es wäre doch viel einfacher, ein Mädchen zu sein, die Buben müssten ja alle in den Krieg und würden totgeschossen.

Später kam die Angst vor dem nuklearen Winter, an dessen Ende nur noch mutierte Nager überleben würden. Dann aber machten Reagan und Gorbatschow einen Anfang zur Beendigung des Spuks, und unlängst haben 25 Staats- und Regierungschefs in Rom auch per Verfassung den immer währenden europäischen Frieden erklärt.

Wir dürfen also getrost davon ausgehen, dass wenigstens in unserer Weltgegend das Gemetzel vorbei ist. Die jungen Europäer dürfen aufs Heldentum verzichten, soweit sie nicht doch noch in den Irak abkommandiert werden. Und auch wir hier zu Lande werden wohl kaum noch einmal von gepanzerten Ritterheeren unserer österreichischen Nachbarn angegriffen.

Darum ist es mir schlicht unverständlich, dass zum Ende des jahrtausendlangen gegenseitigen Gemetzels und Ausrottens mit Steinen, Lanzen, Morgensternen, Stricken, Gas und Bomben kein Riesenfest gefeiert wurde.

Der europäische Friede ist selbstverständlich geworden, und Krieg wird nur noch auf dem Fussballfeld und auf den Rängen darum herum geführt. Auch bei uns orte ich keine Begeisterung über die Pax Europea – zu sehr hat der immer währende Friede satt gemacht. Und zudem sind wir ja nicht dabei, die 25 EU-Staatschefs in Rom posierten ohne die Schweiz. Obgleich über die charakterlichen Qualifikationen einiger dieser ehrenwerten Männer Zweifel angebracht sind, stört mich das mehr und mehr.

Vor Jahren, in Engelberg, an einem Symposium über Naturkatastrophen im Anschluss an den Lawinenwinter, war ich zwar innert dreier Minuten zum überzeugten EU-Gegner geworden, als nämlich ein strammer deutscher EU-Kommissar aus Brüssel erklärte, wie er von dort aus das schweizerisch-österreichische Lawinenproblem lösen würde. Nämlich mit sehr viel Beton. Auch war ich skeptisch, als meine österreichische Heimat in die EU eintrat. Wenn ich aber heute mit österreichischen Freunden spreche, so bedauert mit Ausnahme einiger kärntnerischer Auslaufmodelle kaum mehr jemand diesen Schritt. Die Wiener Börse «boomt», den Bauern geht es gut, und die Touristen kommen nicht nur wegen der freundlichen Tiroler Burschen und der Kärntner Mädel, sondern weil man, wo früher Grenzen waren, durchfahren kann und weil das Geld, das man hat, überall gilt. Nur nicht in der Schweiz. Versuchen Sie einmal, im Gadmertal mit Euros zu bezahlen.

Wir stehen also weiterhin abseits. Friedensschliessung findet ohne uns statt. Der Sonderfall ist zum Sonderling geworden, ein seltsames Land in der Mitte. Und wenn man mir mangelnden Patriotismus und mangelnde Dankbarkeit für die Einbürgerung vorwirft, so muss ich damit leben. Ich meine aber, dass wir, sollten wir einmal unsere Haltung ändern, dem Brüsseler Beton schon mit unseren Steinen Einhalt gebieten könnten – so wie den Österreichern 1386 bei Näfels.