Meine Assistenzärzte und -ärztinnen waren sauer auf mich und schrieben mir einen Brief – normalerweise reden wir miteinander, jetzt aber herrschte Zoff. Ich hatte ihnen in meiner Rede am Neujahrsapéro zu ihren gewerkschaftlichen Erfolgen gratuliert. Die Resultate sind ja tatsächlich eindrücklich. Es gibt jetzt Kompensation für Nacht- und Wochenenddienste, Auszahlungen für Überzeiten, bald eine 50-Stunden-Woche und bessere Gehälter. So entsteht Zeit für Soziales, Familie, Freunde und Sein. Und natürlich profitieren die Patienten von ausgeruhten Ärzten. Aber dann fügte ich noch bei, dass ich um die künftige Expertise der Ärzteschaft fürchte, schliesslich resultiere auch ärztliche Kunst aus Training und möglichst viel Erfahrung. Und sie seien jetzt auf dem besten Wege, einen einst stolzen Berufsstand in die beamtete Abhängigkeit von Politikern und Juristen zu manövrieren.
Ich musste mir daraufhin sagen lassen, einer längst entsorgten Lebensphilosophie nachzutrauern. Statt 36-Stunden-Diensten gelte jetzt die Pflege der Partnerbeziehung, der Kinder und der Katze; statt am Wochenende oder spätabends wissenschaftliche Arbeiten zu lesen und zu schreiben, gebe es Openair und Mediterranes. Man verwirkliche sich nicht mehr durch das Tun im Beruf, man verwirkliche sich durch Ganzheit. Tatsächlich haben die meisten meiner Assistenzärzte ja Recht: In ihrer Erfahrung war immer alles da, man musste nichts Besonderes für Taschengeld, Skiausrüstung, das Velo oder das Töffli tun. Die Hindernisse und Schikanen wurden und werden aus dem Weg geräumt.
Das erinnert mich an ein Schmetterlingsexperiment britischer Insektenforscher. Bekanntlich verbringen werdende Schmetterlinge vor dem Schlüpfen einige Zeit im Puppenstadium, bevor sie mit maximaler Kraftanstrengung ihre Hülle sprengen und ihre Flügel entfalten können. Nicht alle schaffen diesen ultimativen Kraftakt der Befreiung aus dem Kokon, sie sterben in ihrem Gefängnis. Die Insektenforscher nun schnitten mit feinen Instrumenten die zähen Hüllen auf, worauf sich die werdenden Schmetterlinge ohne grosse Mühe befreien konnten. Aber sie konnten nicht fliegen, die Kraft dazu fehlte ihnen, und sie starben allesamt neben ihren zerschnittenen Hüllen.
Und solche Hüllen, deren Überwindung Kraftanstrengung erfordert und Muskeln gegen die Unbill des Lebens entwickelt, werden seit Jahrzehnten durch antiautoritäre Erziehung, Wohlstand und Lehrer mit sanfter Dialektstimme und Strickjacken zerschnitten und aufgelöst. «Es kommt ja nicht drauf an», ist die Erfahrung; auch mit Null-Bock-Mentalität kommt man irgendwie durch. Aber leider nur im Mittelfeld: In Forschung und Entwicklung ist unser Land auf Platz fünf abgerutscht, die entscheidenden Arbeiten der Nobelpreisträger Zinkernagel und Wüthrich wurden vor zwanzig bis dreissig Jahren geleistet. Und von Swissair, Rentenanstalt und dergleichen wollen wir erst gar nicht reden. Nur das Imperium von Werner Spross blüht noch leidlich; und dieser steht auch jetzt in fortgeschrittenem Alter noch immer sehr früh auf und ist um sechs Uhr bei der Arbeit in seinem Büro. Ferner: Auch die Taten mancher jüngerer Mitbürger wecken Hoffnung, weil sie trotz härtestem Konkurrenzkampf zur absoluten Spitze vordringen. Bertarelli, eigentlich ein Italiener, hat eine Schweiz-Euphorie ausgelöst, die nachwirken sollte. Die Expo der mittelalterlichen Macher war allen Miesmachern zum Trotz grossartig, und Bertrand Piccard sollte eigentlich zum Nationalhelden erklärt werden. Wir können, wenn wir wollen.
Auch bei meinen Assistenzärzten orte ich Anführer und Leuchttürme: Einer hat sich trotz zeitaufwändiger, anstrengender klinischer Ausbildung dank Freizeit- und Wochenendarbeit im wissenschaftlichen Laboratorium bereits mit 35 Jahren habilitiert. Und der Nächste in der Reihe ist ebenfalls dabei.