Richard Asher beschrieb 1947 im «British Medical Journal» die Leiden eines Patienten, den die Ärzte zur Bettruhe verurteilt hatten: «Das Blut gerinnt in den Venen, der Kalk schwindet aus den Knochen, Stuhlklumpen verstopfen den Darm, das Fleisch fault am Hinterteil, Urin sickert aus der überdehnten Blase, und das Feuer der Seele verflüchtigt sich.»
Wie das? Ärzte, Mütter und andere Besorgte haben doch von jeher ihre kranken Anvertrauten ins Bett gesteckt und tun dies zum Teil immer noch. Sie haben damit immer nur das Beste gewollt. Die Praxis geht auf Hippokrates zurück, der meinte, dass jede Körperbewegung, die Schmerzen verursache, am besten durch Bettruhe gelindert werde. Im 19. Jahrhundert war es vor allem die englische Medizinschule, die für die meisten Krankheiten als primäre Therapie strikte Bettruhe empfahl. Dies bedeutete für viele Patienten das vorzeitige Ableben.
Asher fürchtete zahlreiche Komplikationen der Ruhigstellung. So werden die Sekrete der Lunge nicht mehr ausgehustet, Lungenentzündung ist die Folge. Das Blut zirkuliert langsamer, es entstehen Thrombosen und tödliche Lungenembolien. Die Bettunterlage verursacht Druckgeschwüre. Die nicht belastete Muskulatur wird abgebaut. Der entkalkte Knochen wird brüchig. Und schliesslich ist Bettruhe demoralisierend. Der Zürcher Internist Paul Henry Rossier bleibt mir unvergesslich, indem er betonte: «Das Bett ist der Freund der Jugend und der Feind des Alters.» Auf den Patienten, der nicht mehr aufsteht, wartet Freund Hein.
Inzwischen ist in über 40 Studien an mehr als 6000 Patienten auch wissenschaftlich nachgewiesen worden, dass Bettruhe meist mehr schadet als nützt. In keiner Studie wirkte die Bettruhe besser als Mobilisation, in zwei Dritteln war sie schlechter, so auch nach Eingriffen an der Wirbelsäule und bei Rückenschmerzen. Auch Patienten mit akutem Herzinfarkt, die früher mit vier Wochen strikter Bettruhe misshandelt wurden, profitieren von einer raschestmöglichen Mobilisation.
Eine eindrückliche Studie wurde von der US-Army bei Patienten mit infektiöser Leberentzündung in Vietnam gemacht: Die einen Patienten erhielten während vier Wochen strikte Bettruhe auferlegt, die Kontrollgruppe wurde ermuntert, möglichst aktiv zu bleiben und nach Möglichkeit Tennis zu spielen. Bei beiden Gruppen erholte sich die Leberfunktion gleich gut, die Bettruhepatienten waren am Ende der Behandlung jedoch extrem geschwächt und hatten eine lange Rekonvaleszenzzeit vor sich. Dies lernte ich als junger Assistenzarzt, nachdem mir im Studium noch die Wichtigkeit der strikten Bettruhe doziert worden war. Flexibilität und Offenheit für neue Erkenntnisse sind unabdingbare Voraussetzung für eine gute Praxis der Medizin. Oder wie Karl Popper sagte: «Gehen wir davon aus, dass das Dogma von heute die Häresie von morgen ist.» Und so formulierte es Asher: «Teach us to live that we may dread unnecessary time in bed. Get people up and we may safe our patients from an early grave.» Darum betrachte ich es als eine meiner Hauptaufgaben, bei Chefvisiten Patienten freundlich, aber bestimmt aus dem Bett zu treiben.
Wir wollen das Bett nicht gänzlich verteufeln und es nicht zu nahe ans Grab rücken, schliesslich entsteht im Bett auch neues Leben. Trotzdem gilt auch für Gesunde, dass allzu viel körperliche Ruhe übel ist. Bett, Bürostuhl und Fernsehsessel leisten einen erklecklichen Beitrag zum Wachstum der Fettgebirge in der westlichen Welt, und auch hier zu Lande sind die Dicken ja auf dem Vormarsch. Der Boom des Joggings stagniert, dafür steigt die Anzahl der Magen-Bypass-Operationen und der Fettabsaugstudios. Als Entschuldigung wird angeführt, dass keine Zeit zur körperlichen Aktivität bleibe, Belastung und Stress der Arbeitswelt seien zu gross. Dabei gibt es keine bessere Stressabbaumethode als den zweistündigen Waldspaziergang oder das Joggen mit dem Schäferhund. Und sagen Sie nicht, Sie hätten dafür keine Zeit und Sie müssten eben in Ihren Papierbergen herumsteigen: Nie ist der Geist freier und das assoziative Denken kreativer als bei einem Waldlauf, und nie sind Sie in Ihrem Büro besser, als wenn Sie am Morgen eine halbe Stunde geschwitzt haben.
Für 2005 gilt also, die Lust im Bett zu geniessen. Und dann aber zur Lust heraus, hinein in den Wald. Und laufen, laufen, laufen.