Bevor wir um sieben Uhr morgens in unseren Felspfeiler einstiegen, mass ich im Schatten eines Felsvorsprungs die Temperatur. Das Thermometer zeigte 34 Grad. Den mit Sicherheit jungfräulich unberührten Pfeiler hatte ich ein Jahr zuvor von einem wackligen Fischerboot aus entdeckt; er ragte in der Fjordlandschaft von Musandam im wilden Osten von Oman 450 Meter hoch in den vor Hitze flirrenden Himmel. Uns hatte am Tag vorher ein iranisches Schmugglerschiff am auch von Allah verlassenen Strand abgesetzt.

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Nun kletterten wir in die Felsen dieses Pfeilers, dessen Foto ich ein Jahr lang in meinem Büro immer wieder begierig betrachtet hatte. Wir führten Seile, Sicherungsgeräte und einen Liter Wasser mit uns. Mit der Sonne stieg auch die Temperatur, und wenn ich den Kopf nach vorne neigte, tröpfelte aus meinem Steinschlaghelm ein Schweissrinnsal über Stirn und Nase. Gelegentlich, wenn ein Kamin Schatten versprach, wichen wir von der geraden Ideallinie ab.

Als wir nach zehn Stunden auf einer kargen Hochfläche ausstiegen, war die Wasserflasche schon längst leer. Unsere Kehlen waren so trocken, dass wir nur noch krächzen konnten. Die Hoffnung, schnell über die Route abzuseilen, hatte sich zerschlagen – zu brüchig und zu steinschlaggefährlich wäre ein solches Unterfangen gewesen. So blieben uns ein Abstieg über staubige Geröllhalden in der gnadenlosen Sonne und ein endloser Weg um den ganzen Berg herum. Schliesslich konnten wir nicht einmal mehr krächzen. Delirien von vollen Bierkrügen, ja selbst von Cola zogen durchs Gehirn. Noch nie hatte ich so intensiv Durst gehabt.

Um neun Uhr abends, bei unseren Zelten, öffneten wir dann die erste Flasche, mindestens 37 Grad war das Wasser warm. Ich habe in meinem Leben schon einige Flaschen Château Lafite, Mouton Rothschild, Margaux und auch einmal Pétrus genossen: an sich recht ordentliche Getränke. Doch dies erste Magnum Omani Mountain Spring Water war das köstlichste Getränk meines bisherigen Lebens. Als «ein unbeschreiblich einfaches und grosses Glück» beschreibt Antoine de Saint-Exupéry das Wasser eines Beduinen in der Sahara, der ihn vor dem Verdursten rettet.

So relativ ist das Glück. Es kann der Genuss einer Flasche Château Pétrus sein, der Gewinn von Wimbledon oder des America’s Cup, Baden im Gold wie Onkel Dagobert oder Bill Gates, Saumagen, Kutteln, Kaviar oder Bratwurst. Oder der «Bolero», das Ende einer Kolik oder die Rückkehr der vermissten Katze.

Aber auch so wandelbar ist das Glück: Sonne kann quälen wie an unserem Pfeiler oder bis in die innerste Seele wärmen. Ich erinnere mich an einen Spätnachmittag auf 7400 Metern im April 1974 in der Makalu-Südwand. Seit Wochen hatten wir in widrigem Wetter unseren Weg nach oben gesucht und uns in Kälte und zwischen Lawinenstrichen nach oben gefroren. Jetzt sass ich da auf einer sonnenbeschienenen Granitplatte, die Wand brach 3000 Meter unter meinen Steigeisen weg, und eine milde Nachmittagssonne war alles Glück. Häufig schätzen wir es eben nicht, wenn wir das Gute und das Glück haben – Wasser, Schmerzfreiheit oder Lebensspanne. Solange wir gesund sind, erscheint uns die verbleibende Zeit fast unendlich lange.

Wenn aber die Statistik einer Krankheit die verbleibende Zeit schwinden lässt, wird diese unbarmherzig kürzer werdende Spanne plötzlich wertvoll. Gerade komme ich von einem 78-jährigen Patienten. Er wird in den nächsten Monaten, Wochen, vielleicht schon Tagen an seiner ausgedehnten Krankheit sterben. Trotzdem haben unsere Chirurgen gestern seinen Darmverschluss, an dem er gleich gestorben wäre, erfolgreich operiert. Und jetzt freut sich der alte Mann und strahlt ob der gewonnenen Zeit. Darum sind auch jene Gesundheitsökonomen und Politiker, die diese letzte Zeit aus Kostengründen beschneiden wollen, der grausamen Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit zu bezichtigen. Wenn sie besser überlegten, könnten sie wie Saint-Exupérys Beduine werden, von dem er schreibt: «Du bist der Mensch und erschienst mir mit dem Antlitz aller Menschen! Du hattest uns nie zuvor gesehen und hast uns doch erkannt! Du bist mein geliebter Bruder, und ich werde dich in allen Menschen wieder erkennen!»

Und wir alle sollten uns immer wieder des Glücks bewusst sein, dass wir Wasser haben und noch keinen Darmverschluss.