Erinnern Sie sich an das letzte WM-Halbfinale, als Deutschland die brasilianischen Ballkünstler mit 7:1 vom Platz fegten? Der Kantersieg war auch ein Erfolg deutscher Ingenieurskunst: Deutschlands WM-Kader 2014 war die erste durch und durch digitalisierte Nationalmannschaft. Seit 2013 arbeitet der Deutsche Fussball-Bund (DFB) mit dem deutschen Softwarekonzern SAP zusammen – um mit Big Data den Fussball auf ein neues Niveau zu heben.
SAP-Mitgründer Hasso Plattner sprach kürzlich an einer Konferenz des Konzerns in den USA über das legendäre Halbfinalspiel: «Jeder deutsche Spieler wusste im Voraus genau, wie der Gegner wahrscheinlich reagiert: geht er eher links oder eher rechts vorbei.» Anders gesagt: Die deutsche Nationalelf kam aufs Feld mit mehr Wissen über sich und die Gegner als jede andere Mannschaft. Künstliche Intelligenz drängt den Zufall mehr und mehr in den Hintergrund.
Tablets für Echtzeit-Analysen
Das war vor vier Jahren. Heute steht den Deutschen eine noch ausgefeiltere und cloud-basierte Sportplattform bereit. Die Fifa erlaubt nun erstmals, dass Trainer am Spielfeldrand Tablets nutzen für Echtzeit-Analysen. Und so rüsten die Mannschaften digital auf. Doch kaum ein Team dürfte das derart konsequent und elaboriert tun, wie die Deutschen.
Nur: Ein Sieg ist deshalb nicht garantiert, wie das Mexiko-Spiel zeigte – Deutschland verlor gegen den Aussenseiter mit 0:1. Dennoch bleibt der Titelverteidiger ein Favorit, der im Achtelfinal möglicherweise auf die Schweiz trifft. Womit konkret muss das schweizerische Team also rechnen?
Analysen direkt auf dem Smartphone
Neu hat SAP zusammen mit dem DFB ein Video Cockpit und ein Player Dashboard entwickelt. Im Video Cockpit werden Video-Daten von Mannschaftsspielen sowie Match- und Trainings-Informationen aus diversen Quellen zusammengeführt und aufbereitet. Spielanalysten und Trainerstab fallen so Muster und taktische Ausrichtungen umgehend ins Auge. Sie können gezielt auf die Schwachstellen des Gegners hin Spielstrategien entwickeln.
Um die Info des Trainerstabs an die Spieler zu übermitteln, ist das Players Dashboard zuständig. Spieler greifen von ihren mobilen Geräten auf das Tool zu und erhalten so auf sie individuell zugeschnittenen Informationen und Videos. «Bei der deutschen Nationalmannschaft haben wir eine unglaubliche Datenmenge, die wir verarbeiten und am besten in Echtzeit an die Trainer, die Spieler und auch die Analysten weitergeben müssen», sagt Oliver Bierhoff, Manager der deutschen Fussball-Nationalmannschaft. «Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen spielen auch im Fussball eine grosse Rolle und geben in der Analysearbeit eine enorm wichtige Hilfestellung.»
Die Technologie weiss alles über die Gegner
Bereits seit 2016 verwenden die Deutschen eine spezielle SAP-App, um Penalties zu analysieren. Der Torhüter erhält dazu sämtliche Informationen über das gegnerische Team: Er sieht, welche Spieler am häufigsten zu Penalties antreten, in welche Ecke sie vor dem Schuss blickten, in welche Torgegend sie zielen, mit welcher Technik sie schiessen, wie oft sie treffen und wie stark sie je nach Spielverlauf unter Druck standen. Der Torhüter kann alle Daten abrufen und entsprechende Videosequenzen anschauen.
Eine andere App hilft, sich auf die Gegner vorzubereiten. Neben Infos zur allgemeinen Aufstellung, Taktik, Stärken und Schwächen einer Mannschaft liefert die App alles Wissenswerte über die einzelnen Spieler: physische Daten, Spielcharakteristiken, Ballverhalten, taktische Ausrichtung. Auch hier erhält der Nutzer entsprechende Videobeispiele.
Was unternimmt die Schweiz?
Treffen also die Deutschen auf die Schweiz, wissen sie alles über das Team von Nationaltrainer Vladimir Petkovic. Doch was weiss die Schweiz über den nördlichen Nachbarn? Der Schweizerische Fussballverband (SFV) möchte über die digitalen Tools nicht detailliert Auskunft geben. «Wir setzen ähnliche Analysetools ein wie der DFB und viele andere Nationen», sagt SFV-Sprecher Marco von Ah. Die Tools seien wichtig, da sie die Auswertungen von Leistungen des eigenen und der gegnerischen Teams unterstützten. «Aber das Wesentliche passiert noch immer auf dem Platz bei der Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse durch die Spieler.»
Sollte die Schweiz also auf Deutschland treffen, ist das nicht nur ein Duell zwischen 22 Fussballspielern, sondern auch eines zwischen der jeweiligen Technologie. Gedanken über ein mögliches Aufeinandertreffen mit Deutschland macht sich die Schweiz jedoch nicht. «Wir halten an unserer Politik der kleinen Schritte fest, nehmen Spiel für Spiel, wie in der Qualifikation für diese WM», sagt von Ah. So heisse die Zukunft nicht Achtelfinal gegen Deutschland, sondern Gruppenspiel gegen Costa Rica.