An ihrem ersten Arbeitstag machte Ingrid Deltenre alle Mitarbeiter zu Königen. Am Montag, dem 5. Januar 2004, lag auf jedem Pult des Schweizer Fernsehens ein Dreikönigskuchen im Kleinformat, drinnen ein Kunststoffkönig, oben ein Krönchen. Jedes Gebäck war mit einem persönlichen Brief garniert worden: «Liebe Frau Produktionsassistentin, ich freue mich auf die Zusammenarbeit, mit herzlicher Empfehlung, Ihre neue Direktorin.» Eine gute Idee, ein bisschen Geld (1000 Kuchen, Servietten und Transport zu zwei Franken), logistisches Geschick, und schon hatte die neue Chefin ihre Mitarbeiter in der Tasche.

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Am zweiten Arbeitstag gab es geistige Nahrung. In einem Studio stand Deltenre den Mitarbeitern Red und Antwort. Sie legte dar, was sie von ihnen erwartet und was diese von ihr erwarten können. Es war die Essenz aus Gesprächen mit Mitarbeitern und Geschäftspartnern, die sie zwischen September und Dezember 2003 geführt hatte. Nach ihrer Ernennung hat sie sich ausbedungen, diese Gespräche zu führen, ehe sie ins Chefbüro einziehen würde. Auf einem Organigramm wählte sie zufällig und quer durch alle Stufen Mitarbeiter aus, die sie nach ihrem Befinden und ihren Erwartungen befragte. Es waren 90 Gespräche.

Eigentlich hätte sie sich ein Jahr lang an ihrer neuen Stelle einarbeiten wollen. Doch je mehr sie zuhörte und beobachtete, desto klarer wurde ihr: Hier herrscht Handlungsbedarf. Zwischen den Abteilungen Marketing und Kommunikation etwa gab es ihrer Ansicht nach viel zu wenig Austausch. Also legte sie die beiden zusammen. «Ich führe direkter als mein Vorgänger», betont sie. Die Geschäftsleitung wurde von dreizehn auf sechs Mitglieder verkleinert. Bereits am 14. Januar 2004, nach knapp zehn Tagen im Amt, gab sie die Änderungen bekannt.

Als Ingrid Deltenre am 9. April 2004 auf ihre ersten 100 Tage im Amt zurückblickte, hatte sie schon viel bewegt. Die 43-Jährige, die sich beim Führen von ihrem «gesunden Menschenverstand» und dem «Instinkt» (Deltenre) leiten lässt, lebt eine wirksame Managerregel: Wer verhindern will, dass sich die alte Ordnung verfestigt, muss einer Organisation in den ersten 100 Tagen seinen Stempel aufdrücken.

Tipps für die ersten 100 Tage
Begeistern und Vertrauen bilden


1. Offenheit


Verschaffen Sie sich einen Überblick über das Unternehmen. Führen Sie Gespräche mit Mitarbeitern, Vorgesetzten, Kunden, Lieferanten, Gewerkschaften. Gehen Sie auf die Menschen zu.


2. Menschenkenntnis


Erkennen und entwickeln Sie Schlüsselbeziehungen. Scharen Sie Menschen
Ihres Vertrauens um sich. Vollziehen Sie Personalwechsel schnell.


3. Mut


Zeigen Sie ein gesundes Selbstvertrauen. Grüssen Sie, sagen Sie Danke. Manifestieren Sie, dass eine neue Ära begonnen hat. Vermeiden Sie arrogantes Getue.


4. Selbstkritik


Begegnen Sie Misstrauen mit Offenheit. Bleiben Sie anfassbar und spürbar. Reden Sie nicht nur über Erfolge, sondern auch über Fehler und Misserfolge. Holen Sie Feedbacks ein.


5. Klarheit


Trennen Sie Wichtiges von Unwichtigem. Bündeln Sie die Themen, Probleme und
Erwartungen zu wenigen, klaren Projekten und Zielen. Formulieren Sie Ihre Vision.


6. Begeisterung


Sagen Sie immer, was Sie vorhaben, und zwar so, dass der Funken springt. Vermitteln Sie Sicherheit, dass Ihre Vision erreicht werden kann. Setzen Sie nur realistische Ziele.


7. Geduld


Stimmen Sie alle auf die Veränderungen ein. Lösen Sie die Versprechen ein, die
Sie in den ersten 100 Tagen gemacht haben, aber lassen Sie sich nicht unter Zeitdruck setzen.

«Die ersten 100 Tage sind entscheidend», sagt Michael Träm, Europa-Chef der Unternehmensberatungsfirma A.T. Kearney, die Führungskräfte in dieser kritischen Zeit berät. Ingrid Deltenre brauchte keinen Coach; sie verhielt sich auch ohne Berater mustergültig.

Die 100-Tage-Regel ist knapp 200 Jahre alt; sie geht auf Napoleon zurück. 100 Tage lagen zwischen seiner Rückkehr aus dem Exil in Elba und der Niederlage in Waterloo. Präsident Franklin Roosevelt war der Erste, der die Frist nach seiner Wahl in die Politik transferierte. Seither werden alle amerikanischen Präsidenten von Journalisten nach 100 Tagen auf Herz und Nieren geprüft. In der Schweiz setzen Führungskräfte aller Sparten inzwischen auf die Symbolkraft der 100-tägigen Bewährung. Justizminister Christoph Blocher zog nach 100 Tagen eine Zwischenbilanz seiner Amtszeit. Fifa-Chef Sepp Blatter bedankte sich nach 100 Tagen mit einem Schreiben an alle Nationalverbände für deren Vertrauen. Die Zürcher Volkswirtschaftsdirektorin Rita Fuhrer bat um eine Frist von 100 Tagen, um sich ins Flughafendossier einzuarbeiten.

Es kam anders: Wegen Spekulationen um neue Anflugverfahren hat sie die Einarbeitungszeit auf 69 Tage reduziert. In der beschleunigten Wirtschaft stehen alle Neulinge unter hohem Zeitdruck. «Die berühmten 100 Tage hat heute kaum einer mehr», schreibt Managementtrainer Peter Fischer in seinem Buch «Neu auf dem Chefsessel».

Wie kann ein neuer Manager die kurze Zeit am besten nutzen, die der Führungswechsel für Veränderungen bietet? Nach der Ankunft eines neuen Chefs kommt Bewegung in eine Organisation. Jede Neuerung bringt Herrschafts- und Verteilkonflikte. Seilschaften werden gekappt, Wissensquellen versiegen, Machtkämpfe brechen aus. In dieser Umbruchphase muss der Neue Gewohnheiten in Frage stellen und seine Vorstellungen einbringen. Lässt er die Frist ungenutzt verstreichen, verliert er die kritische Distanz und läuft Gefahr, Teil des alten Systems zu werden.

Damit dies nicht passiert, sollte er sich als Erstes ums Personal kümmern. John Garbarrow, Professor für Human-Resources-Management an der Harvard Business School, hat herausgefunden, dass drei von vier Managern, die nach dem Führungswechsel scheiterten, schlechte Arbeitsbeziehungen zu ihren wichtigen Mitarbeitern hatten. «Wer es versteht, Schlüsselbeziehungen zu erkennen und aufzubauen, hat einen entscheidenden Vorteil», folgert Managementtrainer Peter Fischer.

Nachdem sie sich mit 90 Mitarbeitern und Geschäftspartnern unterhalten hatte, bot sich Ingrid Deltenre ein Bild des Unternehmens, das dem Organigramm an Tiefenschärfe weit überlegen war: «Ich erkannte einen klaren Verlauf von Argumentationslinien und Seilschaften.» Da sich niemand aus dem Fernsehen für ihren Job beworben hatte, blieb es ihr erspart, mit Mitbewerbern zusammenarbeiten zu müssen, die auch gerne auf ihrem Stuhl gesessen wären. Dennoch stimmte die Chemie nicht überall. Deltenre behauptet, intuitiv sofort zu merken, wenn ihr jemand schlecht gesinnt sei: «Ich sehe es, wenn die Person zur Tür hereinkommt.» Ein Gespräch diene dann vor allem noch dazu, den Eindruck zu verifizieren. Fällt sie einen Personalentscheid, zieht sie ihn schnell durch und gibt ihn umgehend bekannt.

Wichtige Schlüsselbeziehungen fand Deltenre im Kreis der ehemaligen Equipe. Schon vor ihrem Eintritt werweisste ganz Leutschenbach, wie lange wohl Ruth Hennig, Chefsekretärin der früheren Fernsehdirektoren Ulrich Kündig und Peter Schellenberg, noch im Vorzimmer der Macht sässe. Deltenre und Hennig, zwei starke Persönlichkeiten, würden sich rasch in einen Hennenkampf verstricken, wurde gehöhnt. Das Schauspiel hat nicht stattgefunden. Die beiden Frauen haben sogar die Einrichtung für ihre Büros gemeinsam ausgesucht. Hennig lacht spitzbübisch, wenn sie erzählt, dass alle Besucher ihr Büro passieren müssen, um zur Direktorin zu gelangen.

Wer zu Ingrid Deltenre will, kommt nicht an Ruth Hennig vorbei. Neben der Tür zum Vorzimmer hat Deltenres Büro zwar eine Tür nach draussen, sie kann aber, weil sie nur eine Türfalle hat, bloss von innen geöffnet werden. Deltenre baut auf das Insiderwissen, das sich Hennig in 27 Jahren beim Fernsehen erworben hat: «Gerade am Anfang ist es ist wichtig, informelles Wissen über das Unternehmen zu besitzen.» Mit Chefredaktor Ueli Haldimann hat die Newcomerin zudem einen erfahrenen Fernsehmann zum Stellvertreter ernannt.

Auch mit neuen Mitarbeitern lässt sich systematisch das eigene Beziehungsnetz entwickeln. Deltenre hat die Leitung der Abteilung Marketing und Kommunikation ausgeschrieben. Der Name des neuen Geschäftsleitungsmitglieds – es wird eine Frau sein – wird Ende April bekannt. Derzeit rekrutiert Deltenre einen Creative Director. Er soll von aussen kommen. Dann ist die Geschäftsleitung komplett.

Gefahren lauern nicht nur im Personal, sondern auch im operativen Geschäft. «Sortieren Sie die Themen, erfassen Sie die Fakten», rät Trainer Peter Fischer. «Ich habe mir einen Überblick verschafft über laufende Projekte und mögliche Risiken», erzählt Deltenre, «Risiken finanzieller oder rufschädigender Art.» Schien ihr das Risiko zu gross, zog sie die Notbremse, etwa bei der geplanten Late-Night-Show mit Hans Schenker. Kommt sie einmal zu einem Entscheid, lässt sie sich nicht mehr umstimmen und geht auch keine Kompromisse mehr ein.

Wer neu auf einem Chefsessel Platz nimmt, tut gut daran, zu zeigen, dass eine neue Ära begonnen hat, die sich von der Zeit des Vorgängers unterscheidet. Das kann durch Worte und Taten geschehen, aber auch durch Rituale und Symbole. «Die symbolische Sprache ist eine mächtige Sprache», sagt Managertrainer Fischer. Idealerweise werden die Worte mit Zeichen unterstrichen. Der Dreikönigskuchen, den Deltenre den Mitarbeitern zu ihrem Einstand offerierte, war eines. Ein anderes war eine Änderung der Sitzungsordnung. An den Meetings der Geschäftsleitung wird unter Deltenres Führung, anders als früher, immer auch über eine Sendung diskutiert. Um sich auf dem Laufenden zu halten, zappt die Direktorin wenn immer möglich im Büro durchs Fernsehprogramm. Sie scheut sich im Gegensatz zu ihrem Vorgänger nicht, ihr Feedback den Sendeverantwortlichen direkt zu geben.

Ein symbolischer Akt war auch der Bezug des neuen Büros. Als sich Deltenre vergangenen Herbst in Leutschenbach einarbeitete, sass sie Tür an Tür mit Peter Schellenberg, dessen Büro in einem Nebengebäude untergebracht war. Dort fuhr sie mit dem Auto in die Tiefgarage und von dort mit dem Lift ins Büro, ohne dass jemand von ihr Notiz nahm. Darauf beschloss sie, sichtbar zu werden: «Ich wollte, dass man sieht, wenn ich hier bin.» Sie liess ein Büro im Hauptgebäude umbauen, und zwar nicht in der obersten Etage, sondern in der Mitte, bei den Leuten. Derzeit finden dort von neun Uhr morgens bis spät abends praktisch ununterbrochen Meetings statt. Einige Startschüsse sind gefallen, viele Aufgaben verteilt, aber längst nicht alle. Im Herbst, hofft Deltenre, kann sie hier erstmals richtig durchatmen.