Anton Scherrer kennt seinen Betrieb nicht nur von der hohen Warte der Chefetage aus. «Ich gehe jeden Samstag selbst einkaufen», verkündet er. Bisher konnte er dies meistens unerkannt in einer der Migros-Filialen nahe seinem Wohnort am linken Zürichseeufer tun. Doch dies wird sich nun nach und nach ändern. Denn Scherrer ist seit dem 6. September als neuer operativer Chef der Migros vermehrt im Rampenlicht. Er soll – nach einer Zeit der Unruhe – den Schweizer Detailhandelsgiganten wieder auf Kurs bringen.

«Ein Jahr der Rochaden» nennt Claude Hauser, Präsident beim Migros-Genossenschafts-Bund (MGB), die letzten zwölf Monate. Es klingt wie schwarzer Humor, wenn er dem chaotischen (Aus-)Treiben in der Chefetage «durchaus seine positiven Seiten» abringen will. Mehr als Floskeln fallen ihm dazu jedenfalls nicht ein: Der 59-Jährige beschwört förmlich «unsere Fähigkeit und unseren Willen, den Wandel als Chance anzunehmen und offen zu sein für Neues».

Der «Duden» definiert das Wort Rochade mit Verweis auf das Schachspiel: ein «Doppelzug von König und Turm». Wer war König? Wer der Turm? Und ward nicht auch die Dame, Marketingchefin Gisèle Girgis, geschlagen? Eine strategische Spielführung jedenfalls kann niemand den vermeintlichen Grossmeistern im Migros-Hochhaus am Zürcher Limmatplatz attestieren. Sie haben sich praktisch allesamt selbst schachmatt gesetzt. Und Anton Scherrer klebt nun bereits vor seinem Amtsantritt das Verfalldatum übergross auf der Stirn.

Das Ränkespiel um die Besetzung des Migros-Chefpostens war ein Paradebeispiel, wie die Nachfolgeregelung in einem Unternehmen nicht ablaufen soll. Zunehmende Unzufriedenheit im mittleren Management der Migros über die nicht endenden Scharmützel in der MGB-Verwaltung lähmt den Elan und fördert Wechselgelüste. «Zwangsläufig werden die Kader in die Ränkespiele einbezogen», analysiert ein Insider. Selbst wenn eine Mehrheit dem als Globus-VR-Delegierter und -CEO scheidenden Mario Bonorand keine Träne nachweint, hat der 58-Jährige nach mehr als zwei Jahrzehnten bei der Genossenschaft auch bekennende Verehrer in den Läden und Förderer ganz weit oben.

Pierre Arnold zum Beispiel, Elder Statesman der Migros und als Präsident der Duttweiler-Stiftung noch immer mächtig. Die Stiftung entscheidet schliesslich über die Höhe der Saläre in der geschäftsführenden Verwaltungsdelegation. Der 80-Jährige plädierte ausdrücklich für Bonorand als Nachfolger, nachdem im Frühjahr der überfällige Abgang von Peter Everts aus dem Präsidentensessel der MGB-Geschäftsleitung verkündet worden war. Bonorands Geschäftsführerkollegen im MGB-Management intervenierten prompt beim amtierenden VR-Präsidenten Claude Hauser: «Mit Bonorand niemals!» Selbst der verdrängte Everts (57) suchte ein letztes Mal Einfluss zu nehmen mit seinem Hinweis, «für Jüngere Platz machen» zu wollen. Bonorand ist 58. Als der angesichts der drohenden Niederlage auf die Kandidatur verzichtete, plädierte Hauser für seinen ehemaligen Assistenten Niklaus Knüsel als Nachfolger. Erfolglos. «Ich bin auf Anhieb gewählt worden», sagte Scherrer nach seiner Ernennung. «Es war alles andere als eine knappe Wahl.»

Auch Migros-Marketingchefin Gisèle Girgis (52) überstand das Wahldebakel nicht ungeschoren. Die Wirtschaftswissenschaftlerin aus der welschen Schweiz heuerte vor zwei Jahrzehnten als Vizedirektorin beim Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon an und kletterte die Karriereleiter beim orange Riesen seither zielstrebig hinauf: Leiterin der Direktion Verkauf bei der Migros-Genossenschaft Zürich (1989); Geschäftsleiterin der Migros-Genossenschaft Bern (1995); Wahl in die Verwaltungsdelegation des Migros-Genossenschafts-Bunds (1998). Innerhalb der Konzernleitung lernte die First Lady schnell, wie vergänglich Lorbeer aus der Region ist. Es wirkt inzwischen so, als ob sich die zehn allmächtigen Leiter der Regionalgenossenschaften, kraft Amtes im Verwaltungsrat beim MGB, einen Spass daraus machen, jene alsbald aus ihren Reihen zu mobben, die in die Konzernleitung gewählt sind. Kaum nämlich war Gisèle Girgis am Limmatplatz eingezogen, durfte sie beobachten, wie 1999 die früheren Regionalfürsten Hermann Hasen (früher Migros Zürich) und Bernard Loeb (früher Migros Waadt) aus der MGB-Delegation gekickt wurden.

Und siehe da: Als die Ex-Regionalfürstin der Migros Bern als Favoritin für die Everts-Nachfolge gehandelt wurde, begann flugs die Demontage. Pikanterweise werteten die Girgis-Kritiker auf einmal wieder das Werk der gefeuerten Vorgänger Hasen und Loeb auf. «Lediglich deren Konzepte» nämlich soll sie umgesetzt haben. Fundamentalisten wie Arnold grämt zudem, dass die Migros in jüngster Zeit ihre früher so stolz plakatierte Eigenmarkenphilosophie verwässert. Der Verkauf der Cola-Marke Pepsi im Reich des orange M gilt unter Traditionalisten bereits als Todsünde. «Marken sind süsses Gift für Migros», orakelt ein erfahrener Verkäufer. Schliesslich ist es einfacher, einen etablierten Artikel zu lancieren, als eine eigene Marke zu kreieren. Kurioserweise stärkt ausgerechnet der frisch gekürte Primus inter Pares der Marketingchefin in dieser Glaubensfrage den Rücken. Wiewohl Scherrer als langjähriger Coach sämtlicher Migros-Fabriken eigentlich diese Bastion verteidigen sollte, stellt er keinen Freibrief aus für die Migros-Eigenmarken: «Ich schliesse nicht aus, dass wir weitere Markenartikel ins Sortiment aufnehmen.» Das könnte je nach Ausmass zur Zerreissprobe innerhalb des Migros-Managements werden.

Scherrer sieht das pragmatisch aus eigener Anschauung und aus regelmässigen Konsumentenbefragungen. Für ihn ist nur wichtig: «Die Migros muss auch weiterhin das günstigste Preis-Leistungs-Verhältnis bieten.» Überhaupt: «Migros ist doch die stärkste Marke in der Schweiz.» Einige der verdeckten Vorwürfe gegen Gisèle Girgis im Vorfeld der Kür des Konzernchefs entpuppen sich also im Nachhinein als plumpe Wahlkampftricks. Auch in den kommenden Jahren dürfte eine Frau keine Chance haben, an die Spitze des MGB zu rücken: «Machismo im Migros-Verwaltungsrat», konstatiert ein Ohrenzeuge. Für sich selbst bestreitet Scherrer solches Denken: «Ich habe keine Vorbehalte gegen Frauen.»

Nachdem Madame Girgis allerdings einmal abgeblitzt ist, dürften ihre Zukunftschancen auch in drei Jahren nahe null liegen. Womöglich hat sie sich mit ihrer Ankündigung zu weit aus dem Fenster gelehnt, die zehn Regionalfürsten mittelfristig aus dem MGB-Verwaltungsrat zu verabschieden. Unter Scherrer wird eine solche Gewaltentrennung keine Rolle spielen: «Das ist nicht die wichtigste Frage.» Für den neuen Primus der Geschäftsleitung zählt nur «ein tüchtiges Management». Dass der Migros-Konzern exzellente Leistungen bringt, leitet er besonders aus zwei Zahlen ab: «Wir haben letztes Jahr immerhin 2000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Und in diesem Jahr werden wir, wenn das Weihnachtsgeschäft nach Plan läuft, erstmals die 20-Milliarden-Franken-Umsatzschwelle durchbrechen.»

Eine weitere Zahl bestätigt er auf Anfrage: «In der Verwaltung des MGB werden in Zukunft tendenziell weniger Personen Sitz und Stimme haben.» Von ehedem 32 Mitgliedern ist die Zahl bereits auf derzeit 25 geschrumpft. Demnächst werden diesem Entscheidungsgremium nur noch 20 Mitglieder angehören. Dann läuft gegen die zehn regionalen Migros-Geschäftsleiter nichts mehr. Im Klartext: Die Macht der Fürsten wird also nicht ab-, sondern zunehmen. Das dürfte bei einer Vielzahl von Genossenschaftsräten, die eben seit Jahren eine Gewaltentrennung fordern, zu weiterer Verstimmung führen.

Die innere Zerrissenheit im Führungszirkel und in den Gremien der Migros-Gruppe schwächt den Koloss zur Unzeit. Die immerwährende Handelsnummer zwei, Coop, gibt kräftig Gas nach der beschlossenen Fusion der 15 regionalen Genossenschaften in nur noch eine durchgreifende Kerngesellschaft mit dem Marketingfachmann Hansueli Loosli an der Spitze. Zudem wird wohl im kommenden Jahr Europas grösster Einzelhändler, Carrefour, seine Muskeln in der Schweiz spielen lassen. Branchenexperten erwarten, dass die Franzosen für geschätzte 400 Millionen Franken die Waro-Verbrauchermärkte des Ur-Discounters Denner kaufen und mit den früheren Jumbo-Häusern von Maus Frères zusammenschliessen. Denner wiederum, nach dem Tod des Gründers Karl Schweri offensichtlich paralysiert, könnte mit einer kräftig aufgefüllten Kasse wieder im Kerngeschäft aggressiv angreifen. Dass Waro bei entsprechender Offerte zum Verkauf stehe, hat Schweri-Enkel und -Erbe Philippe Gaydoul längst angekündigt.

Carrefour-Konzernchef Daniel Bernard dürfte anderthalb Jahre nach der Liaison mit der Maus-Manor-Stieftochter Jumbo insgeheim längst bestätigen, was Wettbewerber höhnen: «Die kommen nicht vom Fleck.» Defizite bei Carrefours bisherigen Attacken in der Schweiz machen Branchenbeobachter besonders im Management aus. Der Schweizer Landeschef Jean-Claude Burtin gilt bei Einzelnen als «nicht erste Garnitur». Doch mit dem Filialnetz und den zusätzlich etwa 650 Millionen Franken Umsatz von Waro wäre die Angriffsbasis fraglos besser. Und Bernard werden die Schweizer Handelskollegen nicht unterschätzen. Der Franzose dirigiert den 65-Milliarden-Euro-Multi zwar aus der Heimat, gilt jedoch gleichwohl als intimer Kenner des Handels hier zu Lande. Der 55-Jährige hatte vor seinem Wechsel nach Paris knapp zehn Jahre lang aus Baar ZG die internationale Expansion der Metro Holding koordiniert. Metro gehörte damals mit Denner und Hofer & Curti zu den Gründern der so genannten EG Dritte Kraft. Das Trio wollte als Gegenpol zu Migros und Coop gebündelte Einkaufsvorteile erzielen und spionierte deshalb – legal natürlich – die Warenwirtschaftssysteme der beiden Genossenschaften aus.

Im klassischen Lebensmittelhandel, dem so genannten Food-Geschäft, kann allerdings selbst ein multinationaler Gigant wie Carrefour weder dem Primus Migros (knapp 24 Prozent Marktanteil) noch Dauerverfolger Coop (rund 20 Prozent) in deren Schweizer Heimatrevier viel Butter vom Brot nehmen. Sichtbar höhere Preise für Nahrungsmittel im Vergleich zu Deutschland, Frankreich oder Italien basieren nämlich weit gehend auf politisch gewolltem Agrarprotektionismus. Diese Knute spürt denn auch jeder Immigrant. Klaus Hug, Präsident der Swiss Retail Federation, sieht allerdings im Non-Food-Bereich durchaus Angriffschancen für Quereinsteiger. Schon wegen der grösseren Nachfragemacht zum Beispiel in Fernost kalkuliert Hug für sein Mitglied Carrefour «günstigere Importpreise». Kleidung oder kleine Elektrogeräte kann der weltweit zweitgrösste Einzelhändler «aus eigenen Quellen günstiger beschaffen» (Hug). Speziell der Textilbereich bietet Chancen, weil die Schweiz anders als die EU keine Kontingentierung kennt. Die Verkaufspreise für diese Warengruppe liegen allerdings bereits jetzt in der Schweiz tiefer als in den Nachbarstaaten. Dennoch ist die Flächenproduktivität im Schweizer Detailhandel höher als im Ausland, der Schweizer Markt mithin ein lohnendes Ziel.

Migros-Präsident Hauser, als langjähriger Genossenschaftsleiter der Migros Genf ein Frankreich-Kenner, sieht mögliche Carrefour-Schachzüge gelassen: «Ich fürchte den Angriff ausländischer Konkurrenten nicht. Der Eintritt von Wal-Mart, der weltweit grössten Handelskette, in den deutschen und den englischen Markt hat Hunderte von Millionen Franken gekostet. Bei uns müssten sie nach den gleichen Regeln spielen wie wir: mit teuren Grundstückspreisen und hohen Lohnkosten.»

Dass schiere Umsatzgrösse nicht allein Gewinne garantiert, hätte Hauser allerdings auch aus dem eigenen Hausarchiv rezitieren können. Der missglückte Ausflug der Migros ins Nachbarland Österreich mit der temporären Übernahme von Konsum und Familia hatte Mitte der Neunzigerjahre auch immerhin 350 Millionen Franken verschlungen.

Carrefour jedoch hat einiges mehr an Auslandserfahrung zu bieten als die Migros dazumal. Hat der neue Migros-Chef Scherrer das Zeug, den Angriff aus Frankreich abzuwehren und die Migros-Mannschaft hinter sich zu scharen? Wenn Claude Hauser heute herausstreicht, mit Scherrer habe «die Migros einen Mann an die Spitze gewählt, der bewiesen hat, dass er grosse nationale Projekte konsequent umsetzen kann und klar auf Leadership setzt», widerspricht vordergründig kaum jemand. Wer allerdings von vornherein altersgemäss nur drei Amtsjahre bis zur Pensionierung hat, gilt halt mitleidlos als lahme Ente.

Die Treibjagd, Scherrer zu beerben, war bereits vor dessen Amtsantritt eröffnet.
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