Diese Geschichte beginnt mit drei Zahlen. Sie erklären zwar nicht ganz alles über die Marke Vacheron Constantin – aber doch sehr, sehr viel. Die erste Zahl ist ein Datum: 1755. Es ist das Geburtsjahr von Vacheron Constantin, ein für die Branche bemerkenswert frühes Geburtsdatum: Jean-Marc Vacheron – seine Vorfahren waren als protestantische Weber ins damals wirtschaftlich boomende calvinistische Genf geflüchtet – engagierte am 17. September einen Lehrling; der noch heute existierende Vertrag gilt als schriftlich belegter Beginn des Unternehmens. Es gibt zwar ein paar ganz wenige Uhrenmarken, die noch ein bisschen älter sind, aber keine, die seither ohne Pause produziert hat. Fazit eins: Vacheron Constantin ist das älteste Unternehmen mit ununterbrochener Geschichte.

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der Lehrlingsvertrag von 1755, der als Geburtsstunde des Unternehmens gilt.

Jean-Marc Vacheron

Quelle: Vacheron Constantin

Die zweite Zahl ist eine Summe: 2877. So viele Teile stecken in der dieses Jahr präsentierten Uhr namens The Berkley Grande Complication. Sagenhafte 63 Komplikationen oder Funktionen sind darin eingebaut, sie zählt 31 Zeiger, misst 9,8 Zentimeter im Durchmesser, baut 5 Zentimeter hoch und wiegt fast ein ganzes Kilo. Fazit zwei: Vacheron Constantin hat soeben die derzeit komplizierteste Uhr der Welt gebaut.

Die Vorderseite der Berkley Grande Complication.

François Constantin

Quelle: Vacheron Constantin

Die dritte Zahl ist ein Betrag: 1,079 Milliarden Franken. Auf diese Summe schätzten Morgan Stanley und Luxeconsult den Umsatz 2023 von Vacheron Constantin. Das bedeute, dass die Marke zum exklusiven «Club der Milliardäre gehört». Er umfasst lediglich acht Marken, welche die Milliardenumsatzgrenze durchbrochen haben. Doch dies ist nur der eine Aspekt dieser Zahl. Der zweite: Noch im Jahr 2017 wies die Studie für die Genfer Luxusmarke einen Umsatz von 460 Millionen aus, weniger als die Hälfte. Fazit drei: Vacheron Constantin gehört zu den Topperformern der Branche. «Ein wahnsinniger Erfolg», kommentiert Branchenkenner und Studienautor Oliver R. Müller die Entwicklung.

35 Mitarbeitende dekorieren Bauteile

Dass es in den letzten Jahren derart steil aufwärts ging, ist zweifellos das Verdienst des bisherigen CEO Louis Ferla. Und mithin erstaunt es nicht, dass der Richemont-Konzern, zu dem die Genfer Marke gehört, den Mann jüngst auf die Kommandobrücke von Cartier berufen hat. Cartier ist mit Abstand die wichtigste Marke im Richemont-Universum.

Aber geht es überhaupt um Zahlen? «Wir reden hier über Schönheit, Eleganz und Harmonie», sagt Hubert Hirner, Uhrmachermeister und ehemaliger Ausbildner bei Vacheron Constantin, bevor er die Besucher durch die hellen Ateliers der Manufaktur führt. Hier, in einem modernen Gebäude von Stararchitekt Bernard Tschumi, arbeiten zum Beispiel 35 Leute, die nichts anderes tun, als Bauteile zu dekorieren – zum Beispiel wird satiniert, poliert und angliert. Oder auch, wie es hübsch auf Französisch heisst: adouciert, was auf Deutsch übersetzt «sanft gemacht» bedeuten würde – ein aufwendiger Prozess. 

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Jede Uhr wird auf Wunsch instand gesetzt

Dabei wird die Oberseite eines Bauteils mit einem Längsschliff versehen – satiniert, sagt der Fachmann dazu. Dann wird die Unterseite mit einem feinen Schleifpapier abgestrichen, anschliessend werden auch die Seiten «adouciert». Als wäre das nicht genug, schleifen die sogenannten Angleure» zuletzt die Kanten des Werkstücks in einem Winkel von 45 Grad ab und polieren sie in stundenlanger Handarbeit auf Hochglanz. 

Nötig wäre dieser Aufwand nicht, viele solcherart bearbeitete Teile sind nicht einmal durch einen Glasboden sichtbar. Und ohnehin würde die Uhr problemlos funktionieren, wenn man das Teil roh belassen hätte. Aber bei Vacheron Constantin halte man sich an das Motto, welches François Constantin, einer der Gründerväter der Manufaktur, sozusagen als kategorischen Imperativ der Belegschaft verordnet hatte: «Faire mieux si possible, ce qui est toujours possible» – auf Deutsch in etwa: Mach es besser, wenn es möglich ist, und es ist immer möglich!

Was auch immer von Vacheron Constantin gebaut worden ist, egal wie alt, wird nämlich auf Wunsch instand gesetzt, dafür bürgt die Marke. Notfalls werden die Bauteile, falls nicht mehr vorhanden, ganz einfach nachgebaut. Viele Informationen finden die Uhrmacher im riesigen Archiv, fast alle Schriftstücke, die seit 1755 anfielen, wurden sorgsam aufbewahrt.

Man hielt ihn für einen Spinner

Geschichte wird bei der Marke generell grossgeschrieben, und ihr historisch wichtigster Beitrag für die gesamte Branche ist möglicherweise die Erfindung einer Maschine – nicht riesig, aber folgenschwer. Die Story beginnt am 29. Juni 1839.

Die grosse Timeline zu Vacheron Constantin

An diesem Tag, es soll ein wunderschöner Sommertag gewesen sein, schritt ein Mann in seinem besten Anzug über die Pont de l’Île in Genf und klopfte an die Tür der heute renommierten Manufaktur. Niemand, der die Szene beobachte hatte, so berichten die Chronisten, glaubte daran, dass der Mann länger im Gebäude bleiben würde. Ein Spinner sei er, hiess es im Uhrenviertel, ein Fantast mit verschrobenen Ideen.

Doch dieser Mann, er hiess Georges-Auguste Leschot, wurde mit sofortiger Wirkung als Technischer Direktor bei Vacheron Constantin angestellt. Festgehalten war im Vertrag eine Abmachung, die bald die gesamte Uhrenindustrie revolutionieren würde: Das Unternehmen beauftragte ihn mit der «Entwicklung einer Maschine, die Uhrenteile machen kann».

Georges-Auguste Leschot war ein Besessener, ein Daniel Düsentrieb der Zahnräder, ein genialer Erfinder. Vor ihm, so muss man wissen, wurden Uhrenteile von verschiedenen Handwerkern, oft von Bauern im Vallée de Joux, einzeln angefertigt. Viele von ihnen brachten es darin zwar zu einer verblüffenden Meisterschaft, ein Problem aber schafften auch die besten nicht aus der Welt: Die Teile waren, wie man damals sagte, nicht «mathematisch gleich» und folglich nicht einfach auswechselbar. Ging etwa ein Zahnrad kaputt, musste man es einzeln ganz genau nachbauen, allfällige Unregelmässigkeiten inklusive.

Leschots Erfindung, der sogenannte Pantograf, erlaubte es, Werkteile von einem Muster aus tausendfach zu kopieren, hundertfach exakt gleiche Stücke aus Stahl zu fräsen und Bohrlöcher an Serienteilen am stets gleichen Ort in der gleichen Grösse und mit identischer Tiefe anzubringen. «Was wir durch dieses Mittel erreicht haben, ist grossartig», schwärmte der damalige Firmenchef Jacques-Barthélémy Vacheron in einem Brief. Tatsächlich erhielt man damit einen erheblichen Wettbewerbsvorteil und gehörte bald zusammen mit Patek Philippe und Audemars Piguet zum grossen Dreigestirn der Haute Horlogerie.

Aufwendige Einzelstückeditionen

Heute ist der Pantograf natürlich nicht mehr nötig, modernste computergesteuerte Maschinen sind im Einsatz und produzieren präziseste Teile. Im Atelier für Restaurationen allerdings scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, hier kommen auch uralte Maschinen zum Einsatz, wenn man ein Ersatzteil nachzubauen hat. 

Fast noch verrückter ist das Atelier der Cabinotiers. Cabinotiers nannte man im 18. und 19. Jahrhunderts hoch spezialisierte Uhrmacher, die eine zentrale Rolle in der Genfer Uhrmacherei spielten. Diese Handwerksmeister arbeiteten in kleinen Ateliers, den «cabines», die sich meist in den obersten Stockwerken von Genfer Gebäuden befanden, um das Tageslicht bestmöglich zu nutzen. Hier fertigten sie exquisite Uhren und andere feine mechanische Geräte an, oft in Einzelarbeit und für besonders anspruchsvolle Kunden.

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Christian Selmoni: «Das ist Hyper-Uhrmacherei.» 

 

Quelle: Vacheron Constantin

Übernommen wurde bei Vacheron Constantin nicht nur der Name, geblieben ist vor allem auch, dass in dieser Abteilung nur die erfahrensten und talentiertesten Uhrmacher arbeiten dürfen. Denn hier werden die verrückten Ausnahmestücke gebaut. Im Automobilbereich wäre das Atelier die Formel-1-Abteilung der Marke, wie Christian Selmoni zu sagen pflegt. Er ist Style and Heritage Director bei Vacheron Constantin. Das Atelier steht für Spitzenleistungen, es realisiert aufwendige Einzelstückeditionen für private Kundschaft. Dabei soll es, in Analogie zur Formel 1, auch zu Entwicklungen kommen, die in der Serienproduktion Niederschlag finden, ich welcher Form auch immer.

Ein ewiger chinesischer Kalender bis 2200

In dieser Abteilung wurde die schon erwähnte The Berkley Grande Complication mit ihren 63 Komplikationen gebaut, ein Stück, auf das Christian Selmoni besonders stolz ist: «Ich stehe in grenzenloser Bewunderung vor der Komplexität dieses Zeitmessers», sagt er. Man habe es «mit einem Stück Hyper-Uhrmacherei» zu tun, dem «Ergebnis jahrelanger Bemühungen». Und man habe nicht nur Komplikation an Komplikation gereiht, sondern auch etwas geschafft, was bisher noch niemand erreicht habe, nämlich einen ewigen chinesischen Kalender, der bis zum Jahr 2200 keine Korrektureingriffe benötigt.

Wahr ist: Mit der mechanischen Preziose hat sich die Manufaktur sozusagen selber übertroffen – 2015 hatte man mit der sogenannten Referenz 57260 eine Uhr präsentiert, die lange die komplizierteste Uhr der Welt war – damals mit 57 Komplikationen.

Vorder- und Rückseite der «Les Cabinotiers Sonnerie Westminster – Hommage à Johannes Vermeer».

Die Vorderseite der «Les Cabinotiers Sonnerie Westminster – Hommage à Johannes Vermeer».

Quelle: Vacheron Constantin

Aus der Formel-1-Abteilung stammen aber auch Stücke, die vor allem mit Kunsthandwerk brillieren, zum Beispiel die Uhr «Les Cabinotiers Sonnerie Westminster – Hommage à Johannes Vermeer». Wie der Name unschwer verrät, haben wir es hier mit einer echten Westminster-Glockenspiel-Taschenuhr zu tun. Sie bietet eine Grande und eine Petite Sonnerie mit fünf Gongs und fünf Hämmern, was schon für sich gesehen eine Spitzenleistung ist. Dazu kommt eine Miniatur-Emaille aus der Hand der prominenten Spezialistin Anita Porchet, die es in sich hat: Die Deckelminiatur im sogenannten Offiziersstil zeigt eine Reproduktion des berühmten Bildes «Das Mädchen mit dem Perlenohrring» von Jan Vermeer. Nicht weniger aufwendig sind die Gravuren am Gehäuse, insbesondere die brüllenden Löwen am Kronenbügel. Sie sind von klassischen Skulpturen inspiriert und aus einem Block Gold gefertigt.

Rückseite der «Les Cabinotiers Sonnerie Westminster – Hommage à Johannes Vermeer».

Rückseite der «Les Cabinotiers Sonnerie Westminster – Hommage à Johannes Vermeer».

Quelle: Vacheron Constantin

Synonym für schlichte Eleganz: Patrimony

Es gibt zig Stücke, die den Ruf des Unternehmens gefestigt haben. Die Taschenuhr The Packard, Referenz 57260, gehört dazu. Sie wurde im Juni 2011 für 1,8 Millionen Dollar in New York versteigert. Aber auch die hoch komplizierte King Fouad, welche die Schweizer Gemeinschaft in Ägypten 1929 dem König Fuad I. überreichte. Oder die «Les Cabinotiers Symphonia Grande Sonnerie 1860» von 2017, die erste Armbanduhr mit einer Grande Sonnerie der Marke.

Was nicht heisst, dass sich die Marke nur auf – salopp formuliert – dicke Kunsthandwerkpreziosen mit Haute-Horlogerie-Innereien versteht. Geradezu ein Synonym für schlichte und zurückhaltende Eleganz ist die Modellreihe Patrimony, seit exakt zwanzig Jahren im Programm. Sie greift die ästhetischen Codes eines Modells von 1957 auf – in jener Zeit brillierte die Marke mit dem dünnsten Werk der Welt, was besonders schlanke Uhren ermöglichte. Zum Zwanzig-Jahr-Jubiläum wurden nun Modelle aufgelegt, die in Kooperation mit dem französischen Stardesigner Ora-Ïto gestaltet wurden. 

Die schlanke ModellreihePatrimony ist seit zwanzig Jahren im Programm.

Die schlanke ModellreihePatrimony ist seit zwanzig Jahren im Programm.

Quelle: Vacheron Constantin

Mit der Kollektion Overseas, 1996 lanciert, hat Vacheron Constantin überdies ein Bein im derzeit boomenden Markt für sportlich-schicke Uhren mit integriertem Metallarmband. «Es ist die Overseas, die der Marke das unglaubliche Wachstum gebracht hat», meint dazu der Branchenkenner Oliver R. Müller; sie habe nämlich auch eine junge Kundschaft bezirzt. 

Zum Abschluss eine vierte Zahl: 270. So alt wird Vacheron Constantin nächstes Jahr. Und man kann davon ausgehen, dass zum Jubiläum erneut eine Uhr der Extraklasse präsentiert werden wird.

Dieser Artikel ist im Millionär, dem Magazin der «Handelszeitung», erschienen (Dezember 2024).