Es ist etwas in Bewegung geraten. 2010 geht als Jahr der Machtverschiebung in die Chronik des BILANZ-Ratings ein. Heuer haben in allen fünf Kategorien der Einflussreichsten der Schweizer Wirtschaft die Sieger gewechselt – zum ersten Mal seit 2002, als Fachjurys die Bewertung in Angriff nahmen.
Zuoberst steht 2010 in der Kategorie Wirtschaftsführer Josef Ackermann (CEO Deutsche Bank), bei den Wirtschaftsanwälten Peter Nobel (Nobel & Hug), bei den Ökonomieprofessoren Beatrice Weder di Mauro (Uni Mainz), bei den Medienmachern Martin Kall (CEO Tamedia) und in den Public Relations Aloys Hirzel (Partner bei Hirzel.Neef.Schmid.Konsulenten).
Auch wenn die fünf Kategoriensieger neu an der Spitze stehen, sind sie doch keine Parvenus. Schon in den Vorjahren belegten sie Spitzenplätze. Ackermann, Nobel, Kall und Hirzel figurierten 2009 je auf Rang zwei. «Qualität, basierend auf konstantem Leistungsausweis, setzt sich durch», resümiert Juror Markus Neuhaus, CEO und Territory Senior Partner PricewaterhouseCoopers Schweiz.
Neuhaus ist einer von 20 Experten, die in fünf Fachjurys über den Einfluss von Wirtschaftsgrössen befanden. Die Juroren haben dieses Jahr 205 Persönlichkeiten auf ihren internen und externen Einfluss hin bewertet, haben benotet, wie stark diese Manager, Verwaltungsräte, Unternehmer oder Wissenschaftler die Dinge im eigenen Bereich (Firma, Organisation, Branche) und ausserhalb (Politik, Medien) beeinflussen und ob sie sich notfalls gegen den Willen der Betroffenen durchsetzen können. Das BILANZ-Rating gilt in seiner Art als fundiertestes im Land.
Bewährt. Mit den fünf Siegern 2010 werden Akteure gekürt, die allesamt in ihren Disziplinen viel bewegen, keine Theoretiker oder Blender, sondern Macher, deren Performance unbestritten ist. Ackermann hat nicht nur die Deutsche Bank umsichtig durch die Finanzkrise geführt, er redet als Vorsitzender des Institute of International Finance auch massgeblich bei der Neugestaltung der globalen Finanzordnung mit. Nobel bildet als Professor nicht nur Heerscharen von Wirtschaftsjuristen aus, sondern sorgte als Anwalt mit eigener Kanzlei kürzlich für Schlagzeilen, weil er eine 120-Millionen-Busse des Finanzdepartements gegen OC-Oerlikon-Grossaktionäre abwenden konnte. Eine Pleite für den Staat, ein Triumph für Nobel.
Ökonomieprofessorin Weder di Mauro sitzt im deutschen Sachverständigenrat, der die Bundesregierung in Wirtschaftsfragen berät. Vor wenigen Tagen übergab BILANZ-Preisträgerin Weder di Mauro den Regierungschefs Angela Merkel und Nicolas Sarkozy eine Blaupause für nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Martin Kall, Sieger der Medienmanager, gibt als CEO des expansiven Tamedia-Konzerns den Takt vor im Online- und Gratiszeitungsmarkt. Sein Leistungsausweis widerspiegelt sich im florierenden Aktienkurs. Fazit von Jurorin Sita Mazumder, Ökonomieprofessorin: «Gerade in Krisen zeigt sich eine höhere Korrelation zwischen Macht und Traditionskonzernen.»
In der Königsdisziplin des BILANZ-Ratings, bei den Wirtschaftsführern, folgen hinter Sieger Ackermann Nestlé-Präsident Peter Brabeck und Notenbanker Philipp Hildebrand. Für Juror Bjørn Johansson sind Ackermann und Brabeck schlicht «eine Klasse für sich». Juror Thomas Borer überzeugt die internationale Strahlkraft des Siegertrios: «Erfreulich, führen drei Persönlichkeiten die Liste an, die international Gewicht haben.»
Bessere Noten. Spannend auch: Die Noten der Bestplatzierten sind gegenüber dem Vorjahr um einen halben Punkt angestiegen und haben sich auf Vorkrisenniveau eingependelt, das heisst zwischen 8 und 9 Punkten (Höchstwertung 10). Das Vertrauen in die Entscheider in den Konzernen, so der Schluss, ist zurückgekehrt. Vor zwei Jahren, mitten in der Finanzkrise, erreichten die Topleute gerade mal 7,5 Punkte. Federn liessen damals die Grossbanker, die Verluste einfuhren und sich auf die Schnelle refinanzieren mussten, was sich im BILANZ-Rating mit ihrem Abstieg und dem Aufstieg der Industriellen niederschlug. Nun stellen die Vertreter der Finanzindustrie in den Top 20 wieder die Hälfte der Ränge – auch hier ist man auf das Vorkrisenniveau zurückgekehrt. Juror Johansson bilanziert: «The bankers are back.»
Ihre Fahnenträger heissen Oswald Grübel, CEO der UBS (Rang 4), sowie Konrad Hummler, Teilhaber der Bank Wegelin, NZZ-Verwaltungsrat und Präsident der Vereinigung Schweizerischer Privatbankiers. Hummler, der nächsten Frühling das NZZ-Präsidium übernimmt, rückte von Rang 7 auf Rang 5 vor.
Aufsteiger. Zu den Aufsteigern 2010 gehört auch Paul Bulcke (Rang 8, Vorjahr 44). Der Nestlé-CEO ist offenkundig drauf und dran, aus dem Schatten seines Vorgängers Brabeck zu treten. Nestlé ist übrigens die einzige Schweizer Firma, deren oberste Funktionsträger (CEO, VR-Präsident) es in der Kategorie Wirtschaftsführer in die Top Ten gebracht haben. Dies unterstreicht die Reputation und die Managementqualität des Weltkonzerns vom Genfersee. Dass Bulckes Arbeit zunehmend extern wahrgenommen wird, beweist die Ankündigung des Pharmariesen Roche, den Belgier an der GV 2011 in den Verwaltungsrat aufzunehmen.
Mit einem höheren Ranking belohnte die Fachjury das geschärfte Profil von Gerold Bührer als Economiesuisse-Präsident, von Ulrich Gygi als SBB-Präsident und von Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz, der zur ersten Stimme im Schweizer Retail Banking aufstieg (Rang 12).
Den zweiten (oder dritten?) Frühling erlebt derweil Fifa-Präsident Joseph Blatter. Im AHV-Alter von 74 Jahren schaffte er es erstmals unter die Top Ten. Die zwischenfallfreie Durchführung der Fussballweltmeisterschaft in Südafrika und die WM-Vergabe an Russland respektive Katar festigten seine Reputation als gewiefter Umsetzer. 2011 strebt der Taktiker aus Visp eine vierte Amtszeit an.
Ein Wiedersehen gibt es mit einem alten Bekannten: Christoph Blocher ist nach Jahren der Absenz wieder unter den Mächtigsten. Der Ex-Industrielle schaffte es auf Anhieb auf Rang 29. Man erinnert sich: Vor acht, neun Jahren belegte er, damals noch Ems-Chemie-Chef und Nationalrat, stets einen der Spitzenplätze. Nun hat er sich zurückgemeldet, mit seinem millionenschweren Family Office Robinvest, vor allem aber als Wirtschaftspolitiker, der in der Lohndebatte zum Machtfaktor wurde. Ein erstaunliches Comeback: Andere, die damals ebenfalls das Sagen hatten, sind in Pension (Rainer E. Gut), haben abgedankt (Marcel Ospel) oder rangieren heute unter «ferner liefen» (BZ-Banker Martin Ebner, Rang 78).
Zu erprobten Wirtschaftsgrössen, die wie Ebner Macht und Ränge verloren, gehören 2010 Sergio Marchionne und Peter Voser. Plausibel: Diesen Frühling traten beide aus dem Verwaltungsrat der UBS aus und verlegten sich aufs Kerngeschäft, das sie beide fernab der Schweiz betreiben: Marchionne pendelt zwischen Turin (Fiat) und Auburn Hills (Chrysler), Voser konzentriert sich auf den Weltkonzern Royal Dutch Shell in Den Haag.
Einfluss verlor auch Ex-Notenbank-Präsident Jean-Pierre Roth, der nicht weniger als 58 Ränge einbüsste (neu Platz 74). Nach seinem Austritt aus der SNB – Ende 2009 – baute er sich in seiner diskreten Art ein beeindruckendes VR-Portfolio auf (Präsident Genfer Kantonalbank, VR Swiss Re, VR Swatch, VR Nestlé). Dies bringt ihm wohl nicht nur ein höheres Jahreseinkommen ein, sondern birgt Potenzial fürs BILANZ-Ranking 2011.
Frauen rar. Während so vieles in Bewegung geriet, blieb eine Konstante: Wirtschaftsfrauen kommen in der Schweiz nicht über den 50. Rang hinaus. Als einflussreichste Frau taxierte die Jury Carolina Müller-Möhl (Rang 53). Die Präsidentin der Müller-Möhl Group und BILANZ-Kolumnistin sitzt im Verwaltungsrat von Nestlé und seit kurzem in jenem der «Neuen Zürcher Zeitung». Den ungleich grösseren Sprung unter den Geschäftsfrauen schaffte Nayla Hayek – von Rang 103 auf Rang 56. Nach dem Tod von Nicolas Hayek übernahm die Tochter das Präsidium der kraftstrotzenden Swatch Group. Die Jury traut ihr zu, nächstens als erste Frau in die Top 50 vorzustossen.
Ein paar Plätze verlor dagegen Panalpina-Chefin Monika Ribar. Die «Financial Times» reiht sie unter die 50 mächtigsten Wirtschaftsfrauen ein. Im BILANZ-
Ranking liegt sie mit Rang 68 nur im Mittelfeld. «Ratings beinhalten stets auch ein geografisches Verständnis», erklärt Jurorin Mazumder die Diskrepanz.
Auffallend ist ein weiterer Aspekt im BILANZ-Rating: Geht es um Einfluss im eigenen Konzern und in der Öffentlichkeit, haben Schweizer Manager die besseren Karten. Unter den Top 50 der Wirtschaftselite sind nur zwölf Ausländer, obwohl sie die Mehrheit der CEO-Posten börsenkotierter Firmen besetzen. Zum Einfluss gehört ein Machtnetz, das über die Jahre im Kernmarkt Schweiz aufgebaut und gepflegt sein will. Was nicht zum Schluss verleiten sollte, die Schweizer Elite blicke kaum über den Tellerrand. Im Gegenteil: Knapp die Hälfte hat Erfahrungen im Ausland gesammelt. Juror Neuhaus: «Schweizer Spitzenkräfte müssen sich international profilieren. Davon profitiert auch die Binnenwirtschaft.»