Rund 3,2 Millionen Surfer rund um den Globus haben eins gemeinsam: Sie sind Kunde bei amazon.com, dem grössten Buchladen der Welt. 116 Millionen Dollar hat der virtuelle Bestsellershop im letzten Quartal umgesetzt, und das mit weniger als 500 Mitarbeitern. Sein akustisches Gegenstück, CDNow, führt bereits mehr als eine Viertelmillion Tonträger und Videos in den Online-Regalen. Auch in der Schweiz registrieren die virtuellen Einkaufscenter von Migros oder Spar eine ständig steigende Anzahl Kunden. Keine Frage, der Internet-Handel mit dem Konsumenten boomt. Aber eigentlich sind das nur Peanuts. Denn das grosse Geld liegt woanders: Im Online-Geschäft zwischen den Unternehmen, dem Business-to-Business Electronic Commerce (BtB-EC). Bereits heute macht er nach Berechnungen von Forrester Research wertmässig 78 Prozent aller Cyber-Transaktionen aus. Und seine Bedeutung wird sogar noch steigen: Im Jahr 2001 sollen es schon 88 Prozent sein. Für 183 Milliarden Dollar, sechsmal soviel, wie der Schweizer Staatshaushalt heute ausmacht, werden Unternehmen dann untereinander Waren und Dienstleistungen über das Netz beziehen, schätzt Forrester.
Eigentlich müsste die Schweiz beste Voraussetzungen haben, sich davon ein grosses Stück abzuschneiden. Schliesslich weist sie eine der höchsten PC-Dichten der Welt auf; nirgendwo in Europa ausser in Skandinavien gibt es so viele Internet-Anschlüsse pro Kopf der Bevölkerung wie hierzulande. Doch wie sieht die Realität aus? Riskieren die Unternehmen, den Megatrend E-Commerce zu verschlafen? Eine Studie mit dem Namen «BusiNet» erhellt nun erstmals den aktuellen Stand der virtuellen Geschäftsbeziehungen unter Firmen in der Schweiz. Und sie fördert Erstaunliches zutage.
Denn 64 Prozent aller Schweizer Unternehmen, so ein Ergebnis der Studie, praktizieren bereits heute untereinander irgendeine Form des BtB-EC. Nun ist Electronic Commerce freilich ein dehnbarer Begriff, und ähnlich weit reicht das Spektrum der elektronischen Geschäftsbeziehungen: Während sich zahlreiche Schweizer Firmen noch darauf beschränken, Produktkataloge auf das Internet zu schalten, unterstützen manche bereits komplexe Geschäftsprozesse wie Bestellabwicklung, Lagerinformationen oder Auftragsüberwachung. Dabei erfolgt der Einstieg ins BtB-EC erfahrungsgemäss über eher einfache Web-Sites, die häufig noch nicht viel mehr als Unternehmensinformationen und Kontaktmöglichkeiten bieten; anspruchsvollere Transaktionsmöglichkeiten werden in der Regel erst Zug um Zug entwickelt. Doch die Tatsache, dass bereits zwei Drittel aller Schweizer Unternehmen die ersten Schritte hinter sich gebracht haben, zeigt, dass sie sich aktiv mit dem Thema beschäftigen.
Aber auch für jene Unternehmen, die bisher noch kein E-Commerce-System verwenden, ist der Zug noch nicht abgefahren: Von ihnen planen nämlich mehr als die Hälfte den baldigen Einstieg in die virtuelle Welt. In zwei Jahren werden demnach nur noch zwölf Prozent aller Schweizer Firmen auf BtB-EC verzichten. Auch wenn sich also hierzulande viele Unternehmen beim E-Commerce erst noch am Anfang befinden und es auch noch keine Riesenlösungen gibt wie bei Dell oder Cisco in den USA - die oft gehörte Befürchtung, Schweizer Unternehmen würden den E-Commerce-Boom verschlafen, hat mit der Realität wenig zu tun. Berechnungen des Marktforschungsinstitutes IDC bestätigen dies: Auf rund 80 Millionen Franken schätzt IDC heuer das Schweizer BtB-EC-Volumen; bis ins Jahr 2001 wird es um jährlich durchschnittlich 212 Prozent auf 950 Millionen Franken wachsen. Obwohl die Schweiz nur 1,8 Prozent der Bevölkerung stellt, wird sie dann für rund 5 Prozent des Electronic Commerce in Westeuropa verantwortlich sein.
Die neunziger Jahre werden als Dekade des E-Commerce in Erinnerung bleiben. Zwar beschäftigen sich einige Pioniere bereits seit den Siebzigern mit BtB-EC, rund zwei Drittel aller heute vorhandenen Systeme wurden allerdings erst innerhalb der letzten drei Jahre aufgebaut - just in jenem Zeitraum, in dem das Internet seinen Durchbruch feierte. So dominiert denn auch das Internet, wenn man nach der verwendeten Technologie fragt. Anders sieht es aus, wenn ein System für komplexe Transaktionen ausgelegt ist: Bei Online-Bestellungen, Auftragsüberwachung, Zahlungsverkehr oder der elektronischen Lieferung von Dienstleistungen und Produkten vertrauen die meisten Informatikchefs auf EDI-Lösungen: Beim Electronic Data Interchange handelt es sich um eine bereits seit längerem etablierte und standardisierte Technologie, für die umfangreichere Lösungen existieren. Diese wiederum sind in der Regel auch organisatorisch gut in die Unternehmensabläufe integriert. Untersuchungen aus den USA schätzen, dass über EDI heute rund 14mal mehr Transaktionen abgeschlossen werden als über Internet. Doch dem Internet gehört die Zukunft: Schon in fünf Jahren wird es mit EDI gleichgezogen haben. Andere Technologien wie Videotext spielen bereits heute kaum mehr eine Rolle.
Für den Siegeszug der Internet-Systeme spricht die Tatsache, dass diese deutlich billiger und einfacher zu installieren sind. Dennoch bleibt die Technologiehürde ein Haupthindernis für die Verbreitung von BtB-EC. Diese Erfahrung musste auch der grösste Schweizer Autoersatzteilanbieter, Derendinger, machen, der seit zwei Jahren seinen Kunden ein elektronisches Bestellsystem namens D-Net anbietet. Über Internet oder Direktzugriff können die Garagisten 1,6 Millionen verschiedene Ersatzteile für mehr als 10 000 Fahrzeugtypen ordern; gleichzeitig erstellt das System Kostenvoranschläge und Rechnungen für den Einbau dieser Teile. Rund 2500 Aufträge werden jeden Monat elektronisch verarbeitet; momentan wickelt Derendiger zwei Prozent seines Umsatzes von 125 Millionen Franken via D-Net ab. Da die Garagisten häufig nur über geringe Informatikerfahrung verfügen, musste der Grosshändler eine komplette Support-Abteilung auf die Beine stellen. So konnte man bisher 800 Kunden für D-Net gewinnen.
Dabei dürfte das Projekt zu den aufwendigeren und wohl auch teureren Varianten seiner Art gehören. Denn wie die «BusiNet»-Studie gezeigt hat, investierte die Mehrzahl der Unternehmen, die über ihre Kosten Auskunft gaben, weniger als 50 000 Franken. Doch wer jetzt meint, ein vollständiges E-Commerce-System aus der Portokasse bezahlen zu können, sei gewarnt: Diese Zahlen beziehen sich wohl nur auf eher einfache Web-Sites. Komplexe Lösungen mit einem breiten Leistungsspektrum erfordern erfahrungsgemäss einen viel höheren Aufwand, nicht selten in Millionenhöhe. Hinzu kommen die laufenden Ausgaben für Pflege und Wartung des Systems: Sie lagen bei den untersuchten Firmen pro Jahr in der gleichen Grössenordnung wie die Anlaufkosten.
Den Kosten steht ein handfester materieller Gewinn gegenüber: Die Erfahrung zeigt, dass sich die Kosteneinsparungen allein bei der Auftragsbearbeitung in der Regel zwischen fünf und zehn Prozent bewegen. Das ist mehr, als es auf den ersten Blick scheint: «Die Produktivitätsgewinne bei den eigenen Mitarbeitern finanzieren das Projekt schon», rechnet Grégoire Depeursinge, Marketingleiter bei Derendinger, vor. Aber nicht nur der Anbieter, auch der Benutzer von BtB-EC profitiert: «Unsere Kunden sind nun gezwungen, strukturierte, saubere Bestellungen aufzugeben. Das reduziert die Fehlerquote und damit den Aufwand auf beiden Seiten», sagt Stefan Jucker, EDV-Leiter bei Kaba Schliesssysteme. Sein Unternehmen hat ein elektronisches Bestellsystem auf die Beine gestellt, bei dem der Eisenhandel via Internet Schlösser und Zutrittskontrollen aller Art ordern kann.
Dass Kaba die EC-Lösung nicht allein nach eigenen Bedürfnissen entwickelte, sondern die Wünsche der Kunden mit aufnahm, war nach Juckers Worten entscheidend für die Akzeptanz und Wirkung des Systems. Das Pilotprojekt soll nun in den nächsten Jahren zu einer vollwertigen BtB-EC-Lösung auch auf Lieferantenseite ausgebaut werden. Denn auch dort ist viel Geld zu sparen: Wer selber elektronisch bestellt, erhofft sich dadurch neben einer effizienteren Lagerbewirtschaftung vor allem bessere Einkaufskonditionen. Das beste Beispiel dafür ist General Electric: Für über eine Milliarde Dollar orderte der amerikanische Multi letztes Jahr Roh- und Zwischenprodukte via E-Commerce. Dabei konnten die Kosten um 20 Prozent gedrückt werden, weil unter den Tausenden von Lieferanten automatisch das jeweils günstigste Angebot berücksichtigt wurde. Mit dem elektronischen Auktionssystem soll GE in den nächsten drei Jahren rund eine halbe Milliarde Dollar sparen.
Auch wenn solche Zahlen hierzulande noch nicht erreicht werden, sind die meisten Schweizer Manager zufrieden mit dem Erfolg ihres BtB-EC-Systems: Nur 6 Prozent der Befragten äusserten sich enttäuscht, mehr als 60 Prozent beurteilten ihr Projekt hingegen als erfolgreich oder sehr erfolgreich. Da verwundert es nicht, dass 72 Prozent aller Unternehmen ihr Online-System weiter ausbauen wollen. Die Ziele waren und sind dabei meist die gleichen: Vornehmlich sollte durch BtB-EC die eigene Effizienz gesteigert, der Service am Kunden und damit dessen Bindung verstärkt sowie die Flexibilität erhöht werden. Auffallend ist, dass die Gewinnung neuer Kunden oder gar die Erschliessung ganzer Märkte nicht zu den primären Zielen des elektronischen Handels gehören. Sie werden auch nur auffallend selten erreicht. Das mag daran liegen, dass die für einen Geschäftsabschluss wichtigen sogenannten weichen Faktoren - wie zum Beispiel Glaubwürdigkeit, Sympathie - durch ein elektronisches System nicht nachgebildet werden können. Es bedeutet aber auch, dass sich durch eine InternetPräsenz keineswegs automatisch neue Absatzwege auftun. «Der Hauptnutzen ist immateriell: Kundentreue, Stärkung des Markennamens, Image. Der Return on investement kommt erst in zweiter Linie», sagt Chris Marsh von der Unternehmensberatung Cambridge Technology Partners. Sie hat durch ihre Kunden die Erfahrung gemacht, dass 85 Prozent aller Unternehmen mit E-Commerce-System weniger als ein Zehntel des Umsatzes vollelektronisch abwickeln.
Das gilt auch für Howeg, ein Tochterunternehmen von Beat Curtis Bon Appétit Holding. Der Gastronomiegrossist betreibt seit einem halben Jahr ein BtB-EC-Projekt, bei dem die Kunden per Internet ihre Bestellungen für Eierschwämme, Schokoriegel oder Champagnerflaschen aufgeben. In der Gastro-Branche mit ihrer sehr gemischten Kundschaft (von Hotels über Nachtklubs bis zu Krankenhäusern) und einem sehr variablen Preis- und Konditionensystem kommen die Vorteile einer E-Commerce-Lösung besonders zum Tragen: «Durch das Online-System wird jeder Kunde individuell behandelt. Wenn wir das gleiche mit konventionellen Mitteln machen würden, wäre der Aufwand für unser Verkaufsteam viel grösser», sagt Marcel Hotz, Projektkoordinator für Howeg Online. So merkt sich Howegs Internet-Lösung neben den jeweiligen Konditionen auch die Vorlieben des Bestellers und erstellt auf Wunsch den nächsten Einkaufszettel ganz automatisch. Auch die bei Frischprodukten täglich wechselnden Preise können direkt an die Käufer weitergegeben werden, was bei einem gedruckten Bestellkatalog unmöglich wäre. Howeg selber profitiert davon, dass sich das Lager besser bewirtschaften und die Tourenplanung optimieren lässt.
Bisher hielten sich die Investitionen für Howeg Online unterhalb der Millionengrenze; nun soll das System für einen siebenstelligen Betrag ausgebaut werden. Bis Ende Jahr erwartet man 120 regelmässige Nutzer, die via Netz für rund 200 000 Franken monatlich bestellen - das entspräche auf das Vorjahr gerechnet einem Umsatzanteil von 1,2 Prozent.
Doch wenn der Absatz via Netz an Bedeutung gewinnt, ist es unabdingbar, die Strukturen des Unternehmens anzupassen. Dass Dell über das Netz täglich Computer im Wert von 5 Millionen Dollar verkauft oder der Flugzeughersteller Boeing Ersatzteile für jährlich 100 Millionen Dollar, ist nur möglich, weil beide Firmen ihre gesamten Abläufe vom Bestellwesen bis zur Auftragsüberwachung auf das neue Vertriebssystem umgestellt haben. «Wer die Web-Site hingegen lediglich als einen weiteren Verkaufskanal betrachtet, der mit konventionellen Mitteln gemanagt wird, hat die entsprechenden Mehrkosten, ohne dass sich auch ein Zusatznutzen einstellt», weiss Eric-Jean Schmidt von Cambridge Technology Partners. Nach seiner Erfahrung ist mangelnde Integration denn auch die Hauptursache für fehlgeschlagene E-Commerce-Projekte.
Um Erfolg zu haben, muss BtB-EC also als strategischer Pfeiler in die Unternehmensphilosophie integriert werden. Dazu freilich bedarf es der Unterstützung durch die Geschäftsleitung: Electronic Commerce ist Chefsache! In der Schweiz ist es jedoch (ebenso wie in anderen Ländern) meistens die EDV-Abteilung, die als treibende Kraft hinter BtB-EC steht. E-Commerce wird also häufig noch aus vorwiegend technologischer Sicht betrachtet. Nur in 18 Prozent der Fälle gab die oberste Führungsebene selber den Anstoss zum Going online. Druck von aussen spielte dabei in den seltensten Fällen eine Rolle: Nur 14 Prozent der Unternehmen installierten ihr System auf Verlangen der Kunden; noch seltener, nämlich bei 8 Prozent, steckt ein Lieferantenwunsch dahinter. Aus Konkurrenzgründen wird BtB-EC bisher also kaum betrieben.
Das dürfte sich nach und nach ändern: «E-Commerce wird immer mehr zum strategischen Imperativ!» ist Cambridge-Mann Schmidt überzeugt. Vor allem verspricht ein eigenes System einen höheren Nutzen als der blosse Zugriff auf Angebote anderer Unternehmen. Und der Erfolg einer gelungenen BtB-Implementierung spricht sich herum: Seit der Einführung von D-Net zeigten auch ausländische Unternehmen deutlich mehr Interesse an einer Zusammenarbeit mit Derendinger, berichtet Marketingleiter Grégoire Depeursinge: «Der Schneeball ist am Rollen.» Nicht auszuschliessen, dass der nächste Dell oder Cisco irgendwo in der Schweiz steckt.