Genf. Rue Francois-Dussaud. Headquarter des bekanntesten Uhrenherstellers der Welt: Rolex. Die Aussenfassade des Gebäudes wird derzeit auf modern getrimmt, erhält eine lichtdurchlässige Glasfassade im Grün des Corporate-Looks, und auf die acht existierenden Geschosse werden drei weitere Etagen aufgepflanzt. Sobald die letzten Baugerüste einmal abmontiert sind, wird hier, an der Aussenhülle des markanten Gebäudes, auch die goldene Krone leuchten – die Bildmarke der einzigen Uhrenmanufaktur des Landes, die es ins Ranking der 100 wertvollsten Marken der Welt schafft. Die Ratingagentur Interbrand taxiert den Markenwert auf über 3,7 Milliarden Dollar.
In der Empfangshalle weht ein leiser Hauch von Geschichte: «Wilsdorf Hall» steht auf einer dezenten Plakette, und an einer Seitenwand prangt das Konterfei von Rolex-Gründer Hans Wilsdorf, darunter eine Chronologie von Meilensteinen der Uhrmacherkunst, die seine Handschrift tragen. «1905: Erste Armbanduhr. 1910: Erste Chronometer-Armbanduhr. 1926: Die wasserdichte Uhr. 1931: Die automatische Uhr. 1945: Die Armbanduhr mit Kalender.» Diese Firma ist sich ihrer historischen Wurzeln durchaus bewusst.
Und sie hat sich innert 99 Jahren in die Moderne katapultiert. In Chêne-Bourg, nahe Genf, befindet sich eine der Produktionsstätten. Hier werden im grossen Stil Rolex-Gehäuse hergestellt – aus Stahl, Platin, Gold. Es herrscht der Sicherheitsstandard des 21. Jahrhunderts. Ein Schild warnt: «Achtung, elektrische Sicherheitsschranke. Im Falle eines Alarms wählen Sie folgende Nummer.» Eine vierstellige Zahl.
Die Produktion läuft industriell und computergesteuert. Die Luft riecht metallisch. Aus einem rund 80 Zentimeter langen, fünf Kilo schweren Rohr aus 18-karätigem Gold werden Rohlinge für Rolex-Gehäuse geschnitten. Eine anspruchsvolle Sache: Die Gehäuse sind aus massivem Gold und derart komplex in Form und Tiefe, dass 50 Prozent eines Rohres als Ausschuss zurückbleiben. Dieser «goldene Abfall» wird von Rolex weiterverarbeitet. Qualität ist hier das Mass aller Dinge, und dafür ist keine Prüfung eine zu viel. «Die Mitarbeiter an den Maschinen», sagt Fabrice Lenoir, einer der Serviceverantwortlichen für die Bearbeitung der Gehäuse, «erledigen die erste Qualitätskontrolle in Eigenregie.»
Der Computer ist der Komplize der Kontrolleure. Er lügt nicht, übersieht nichts. An 31 Punkten überprüft der Rechner die Spezifikationen der Baupläne. Was passiert, wenn der Computer bei der Fehlersuche fündig wird, zeigt Fachmann Lenoir an einem Beispiel. Bei diesem Gehäuse sind 29 Prüfpunkte in Ordnung und mit einem grünen Punkt visualisiert. Zwei sind rot und damit fehlerhaft. Fabrice Lenoir klickt auf den roten Punkt, und es erscheint die Zahl 0,057. «Fünf Hundertstelmillimeter liegen innerhalb der Toleranzgrenze», erläutert er, «diese Schnitttiefe liegt darüber.» Das hat Konsequenzen. Die Maschine wird neu eingestellt, bis sich sämtliche Punkte im grünen Bereich befinden. «Dann», sagt Lenoir, «kann der Mitarbeiter mit der Produktion loslegen.» Es schliesst sich der Kreis von der Historie zur Gegenwart: Rolex-Gründer Hans Wilsdorf hatte vor knapp hundert Jahren kompromisslose Qualitätsstandards implementiert, heute werden diese mit modernster Technik nachgelebt.
Einige Stockwerke tiefer, unter Tag, ist das augenscheinlich. «Shuttle Corner» steht auf einem Schild. Menschen sind keine zu sehen. Stattdessen, hinter meterdickem Beton, wasser-, feuer- und erdbebensicher, zwanzig Roboter in vier voneinander unabhängigen Kammern: das Logistik-Zentrum. So konfiguriert, dass selbst bei einem partiellen Ausfall der Anlage Nachschub und Produktion jederzeit gesichert sind. Rund zwei Millionen Bestandteile von Rolex-Uhren lagern hier, innert maximal fünf Minuten wird jedes Stück über Magnetbahnen an den richtigen Ort der Produktion befördert. Rund 4000 Bewegungen können die Roboter pro Tag bewältigen, und am Ende der Schicht schieben sie alle nicht gebrauchten Teile wieder zurück in die zentrale Logistik. Rolex – das ist mehr als ein Uhrenproduzent. Die Firma ist ein hocheffizienter Industriebetrieb. Der nach dem Motto «Alles für das Produkt» lebt.
Hans Wilsdorf, der dafür den Grundstein gelegt hat, wird am 22. März 1881 in der nordbayrischen Kreisstadt Klumbach geboren. Behütet und zur Selbstständigkeit erzogen, wächst er auf. Dies, stellte der Rolex-Patron einmal fest, habe sicherlich zu seinem Erfolg als Unternehmer beigetragen. Der Weg dorthin verläuft verblüffend gradlinig. Um die Jahrhundertwende taucht der junge Mann im industriellen Jurazentrum La Chaux-de-Fonds auf, findet einen Job bei einem Uhrenexporteur am Boulevard Léopold-Robert. Für einen Lohn von achtzig Franken arbeitet der Berufseinsteiger im Büro, erledigt englische Korrespondenz. Und quasi im Nebenamt zieht er täglich mehrere Hundert Uhren auf, lernt einen Geschäftsgrundsatz: Der erfolgreiche Uhrenverkäufer muss die Zeitmesser nicht selber produzieren. Sein Arbeitgeber kauft die Ware in Deutschland, Frankreich oder der Schweiz ein.
Im Jahr 1903 taucht Hans Wilsdorf in London auf, heuert abermals bei einem Uhrenhändler an. Der macht sein Geld mit importierten Taschen- und teilweise auch mit komplett neuartigen Armbanduhren. Letztere faszinieren den Uhrenfreak Wilsdorf. Diese modernen Zeitmesser will er in Eigenregie vertreiben, plant, sein Erbe von 33 000 deutschen Goldmark in ein eigenes Geschäft zu investieren. Als ihm dieser Batzen während einer Schiffsreise gestohlen wird, muss er auf eine Anleihe seiner beiden Geschwister zurückgreifen und einen Partner namens James Davis mit ins Boot nehmen. 1905 gründen die beiden die Firma Wilsdorf & Davis Ltd. Einziger Geschäftszweck: der Vertrieb von Uhren en gros.
Vor allem Armbanduhren will Wilsdorf verkaufen. Uhrmacher spotten zwar darüber, einen Zeitmesser ausgerechnet dort tragen zu wollen, wo er Erschütterungen und Temperaturschwankungen, Staub und Feuchtigkeit ausgeliefert ist: am Handgelenk. Der frischgebackene Unternehmer lässt sich allerdings nicht beirren.
Bleibt die Frage: Wo bekommt Wilsdorf qualitativ hochwertige Uhrwerke her? Er kennt nur eine Firma: die 1878 gegründete Aegler SA in Biel. Der Uhrmacher Jean Aegler hatte zur Jahrhundertwende ein elfliniges Ankerwerk zur Serienreife entwickelt, das trotz industrieller Fertigung höchsten Qualitätskriterien genügte und für die Armbanduhr wie geschaffen war. «Damit», bringt Hans Wilsdorf Jahrzehnte später leicht gestelzt zu Papier, «konnte die Zukunft der Armbanduhr als gesichert betrachtet werden.»
Hans Wilsdorf reist nach Biel, offeriert Jean Aegler, dessen Armbanduhren in Grossbritannien zu vertreiben. Mit einem Auftrag über mehrere Hunderttausend Franken kehrt er zurück. 1913, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als die Geschäfte bereits laufen wie geschmiert, erhält Wilsdorf & Davis das Recht, Aegler-Uhren in Grossbritannien und den Ländern des Britischen Empire exklusiv zu verkaufen. Im Jahre 1920 verlegt Wilsdorf sein Business nach Genf. Der Grund: Grossbritannien hat in den Kriegsjahren prohibitiv hohe Importzölle eingeführt und dem Geschäft damit den Boden entzogen.
Aus Wilsdorf & Davis und Aegler werden im Laufe der Jahre Rolex Genf und Rolex Biel: zwei rechtlich selbstständige Unternehmen zwar, aber beinahe untrennbar ineinander verwoben wie siamesische Zwillinge. In der Stadt Calvins wird heutzutage die Habillage, also Gehäuse, Zifferblatt und Band des Zeitmessers, hergestellt; in der Uhrmacherstadt Biel die mechanischen Uhrwerke.
Beiden ist gemein, dass den Chefs an der Spitze beider Firmen rekordverdächtig lange Amtszeiten vergönnt waren. Rolex Genf hat bis heute innert eines knappen Jahrhunderts nur drei Chefs gekannt: Wilsdorf, den Gründer, später André J. Heiniger und schliesslich Patrick Heiniger, kreative Marketingfachleute alle drei, die für immer neue Uhrkreationen besorgt waren und sind. In Biel folgen auf den Gründer Jean Aegler die mit diesem verwandten Männer aus der Borer-Familie, Emil Borer und später, ab 1967, Harry Borer.
Über drei Jahrzehnte später, um die Jahrtausendwende, versucht der mittlerweile in den Siebzigern stehende Harry Borer seine Nachfolge zu regeln. Im Dezember 2000 beruft er zwei externe Profis in den Verwaltungsrat von Rolex Biel: den Basler Aktienrechtsspezialisten Peter Böckli und den ehemaligen Swisscom-Manager Tony Reis. Letzterer wird später Präsident. Sie sollen die Zukunft der Bieler Familienfirma sichern helfen. Auch für die operative Leitung hat der Patron Pläne. Eines seiner beiden Kinder, so der Wunsch des Vaters, soll den Job übernehmen. Sein Sohn Daniel, ein Arzt, will aber nicht. Und die Tochter, Franziska Borer Winzenried, ausgebildete Juristin mit Fürsprechpatent, wird schliesslich CEO von Rolex Biel – für ein Jahr.
Dann, Anfang 2002, entscheidet sie sich für die Familie und gegen Rolex. In einem Interview mit dem «Bieler Tagblatt» sagt Franziska Borer Winzenried: «Meine eigene Familie ist ein Grund dafür, dass ich diese Funktion nicht auf lange Zeit ausüben kann. Hätte ich die Nachfolge meines Vaters antreten wollen, hätte ich mich gegen eine eigene Familie entschieden. Ohne Kinder hätte ich mir die Unternehmensführung zugetraut.» Und über ihren Vater sagt sie: «Er hätte sich gewünscht, dass mein Bruder oder ich seine Nachfolge anträte. Aber er hat diesbezüglich nie Druck aufgesetzt. Da war er äusserst zurückhaltend.»
Nach einem kurzen, erfolglosen Intermezzo mit einem externen Manager gibt es, bei Lichte besehen, nur noch einen Ausweg: den Zusammenschluss von Rolex Biel mit Rolex Genf. Seit drei Jahrzehnten diskutieren die beiden Unternehmen über eine gemeinsame Zukunft, jetzt ist die Zeit des Handelns gekommen. Auf Seiten von Rolex Biel ist es der Aktienrechtler und Rolex-Verwaltungsrat Peter Böckli, der mit der Ausarbeitung eines Übernahmedokuments beauftragt ist, im Dienste von Rolex Genf steht die Kanzlei Gros & Waltenspühl des Verwaltungsratspräsidenten von Rolex Genf.
Eine gemeinsame Pressemitteilung wird aufgesetzt, und am 26. März 2004 geht bei der Schweizerischen Depeschenagentur eine zwanzigzeilige Meldung über den Ticker, in der es heisst: «Die Rolex-Gesellschaften in Genf und Biel schliessen sich zusammen. Die Gesellschaften arbeiten schon seit Jahrzehnten unter anderem im Bereich Fabrikation zusammen. Arbeitsplätze gehen keine verloren. Die Fusion wird in einem ersten Schritt mit einer Minderheitsbeteiligung der Rolex AG Genf an der Rolex Biel Holding vollzogen. Nach einer Übergangszeit wird die Rolex Genf das gesamte Aktienkapital der Rolex Biel Holding übernehmen.»
Die «NZZ am Sonntag» urteilt: «Fakt ist, dass die in absoluter Stille vollzogene Übernahme dieses Jahr zu den grössten in der Schweiz gehören dürfte. Rolex Genf beschäftigt 3300 Mitarbeiter (Umsatz: 2,5 bis 3 Milliarden Franken), während Biel 1700 Angestellte auf der Lohnliste führt. Der Umsatz von Biel wird auf 400 bis 500 Millionen Franken geschätzt. Da die profitabel arbeitenden Bieler zudem wichtige Markenrechte besitzen – ein Blick in die Datenbank des Instituts für geistiges Eigentum zeigt, dass die Uhrenmarke Rolex auf den Inhaber Rolex Biel eingetragen ist –, schätzen Insider den Kaufpreis auf 0,7 bis 1,5 Milliarden Franken.» So wächst zusammen, was historisch zusammengehört, und aus siamesischen Zwillingen wird ein einziger unternehmerischer Organismus unter der Marke Rolex.
Die Marke Rolex: Auch das ist eine Kreation Hans Wilsdorfs. In den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ärgert er sich zunehmend darüber, dass vor allem grosse englische Fachgeschäfte wie The Goldsmiths Company oder Asprey ausschliesslich ihre eigenen Namen auf Zifferblättern und Uhrwerken verwenden, obwohl die Uhren aus den Manufakturen in Genf und Biel stammen. Mit dieser Anonymität des Lieferanten will Wilsdorf brechen. Dazu benötigt er eine eigene, unverwechselbare Signatur.
Rolex. Ein einprägsames zweisilbiges Wort, einfach auszusprechen in allen erdenklichen Sprachen. Wie Wilsdorf darauf gekommen ist, verliert sich im Dunkel der Geschichte. Immerhin hält sich aber die Legende, Rolex sei eine Kurzform von «horlogerie exquise», herausragende Uhrmacherkunst. Nach erfolgter Namenswahl muss sich Wilsdorf jedoch etwas einfallen lassen, um seine Kunden auch dazu zu bringen, diesen neuartigen Schriftzug zu akzeptieren.
Hans Wilsdorf wählt die Guerilla-Taktik: Zunächst bittet er die Uhrenhändler, kleine Kontingente unter dem Namen Rolex liefern zu dürfen. Später, als der Absatz zufrieden stellend verläuft, legt er eine steigende Anzahl Rolex-Uhren in die sechs Uhren fassenden Kartons, in denen die Zeitmesser geliefert werden. Ab 1925 lanciert er in England breitflächige Werbekampagnen mit seiner Uhrenmarke. Zwei Jahre später liefert Wilsdorf seine Uhren nur noch mit der Rolex-Signatur – seine Marke ist inzwischen derart bekannt im britischen Commenwealth, dass er sich das gegenüber den Händlern leisten kann.
Die Bildmarke, die fünfzackige Rolex-Krone: Auch sie mag einen tieferen Sinn ergeben, doch es ist nicht mit letzter Gewissheit überliefert. Die fünf Zacken repräsentieren die fünf Buchstaben des Firmennamens und symbolisieren wohl die fünf Finger einer Hand, Synonym für die werthaltige Handarbeit jeder Rolex. Der Schriftzug, die Marke, das Qualitätsprodukt, alles hat Hans Wilsdorf nun auf Linie gebracht, und die Geschäfte laufen bestens.
Bis am 21. September 1931. An diesem Tag wird das Britische Pfund angesichts der Weltwirtschaftskrise drastisch abgewertet. Mit dramatischen Folgen für Rolex. Die Preise im Empire, dem noch immer wichtigsten Absatzmarkt, purzeln in den Keller, die Exporte gehen um mehr als sechzig Prozent zurück.
Wilsdorf sieht nur einen Ausweg: Er muss neue Kundenkreise erschliessen, egal wo auf der Welt. Er forciert den Export, eröffnet Niederlassungen in Paris, Buenos Aires und Mailand, liefert nach Lateinamerika, auf die Antillen, in den Fernen Osten. In den Zeiten der Not wird Rolex zu einer praktisch globalen Marke, und die Jahresproduktion von Oyster-Modellen verzehnfacht sich innert weniger Jahre auf schliesslich ungefähr 30 000 Einheiten in den Vierzigerjahren.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs und kurz nach dem Tod seiner ersten Frau überträgt der kinderlos gebliebene Rolex-Patriarch die Aktien der Montres Rolex SA auf die Hans-Wilsdorf-Stiftung. Seine Firma, so der Wunsch, sollte den Gründer in jedem Fall überleben. Und auch für die Verteilung der Dividenden bringt Wilsdorf genaue Vorschriften zu Papier. Am 6. Juli 1960 stirbt Hans Wilsdorf in seinem auf der Südseite des Genfersees gelegenen Sommersitz Escale Fleurie. Seine langjährige Wahlheimat Genf ehrt den Bürger der Stadt im Jahre 1981 durch eine Rue Hans-Wilsdorf, und in seiner Geburtsstadt Kulmbach erinnert die Hans-Wilsdorf-Berufsschule an den erfolgreichen Selfmademan aus der Uhrenbranche.
Was kommt nach dem Gründer? Es gibt nur ein Rezept, ein Vakuum nach dem Ableben eines charismatischen Chefs zu verhindern: Es braucht einen Nachfolger aus dem gleichen Holz. Im Falle von Rolex also einen passionierten Uhrenfreak, einen Marketing-Kopf, einen, der sich begeistern kann für die technischen Innereien einer Uhr, kurz: einen Mann, der Rolex im Blut hat.
Persönlichkeiten dieses Kalibers existieren nicht im Dutzend. Aber Wilsdorf, dieser weitsichtige Unternehmer, hat schon zu Lebzeiten einen Mann identifiziert, auf den all diese Kriterien zutreffen: André J. Heiniger. Ihn, in der Industriestadt La Chaux-de-Fonds geboren und seit einigen Jahren in der Firma tätig, hat der Patron bereits im Jahre 1954 zum kaufmännischen Direktor gemacht und damit zu seinem Nachfolger auserkoren.
Als Heiniger 1963 die Leitung der Firma übernimmt, verfügt Rolex über hervorragende Produkte, ein aussergewöhnliches Image und einen eingespielten Vertrieb. Und der Neue auf der Kommandobrücke treibt diese Erfolgsgeschichte weiter. In der Ära Heiniger wird die goldene Rolex-Krone zur strahlenden Marke der Uhrenbranche, zu einem Global Brand. «Er hat es fertig gebracht», bringt das deutsche «Manager Magazin» einmal bewundernd zu Papier, «aus einem ziemlich profanen Zeitmesser so etwas wie eine Wohlstandsreliquie zu machen.» Das ist ein Kompliment – und erst noch untertrieben.
André J. Heiniger verfügt über ein sicheres Gespür für die Entwicklungen in der Uhrenbranche. Als sich im Jahre 1968 im Centre Electronique Hologer (CEH) in Neuenburg ein Konsortium von Schweizer Uhrenproduzenten zusammenfindet, um eine erste marktfähige Quarzuhr zu entwickeln, ist neben Piaget oder Omega auch Rolex mit von der Partie. Zwei Jahre später geht der Prototyp Beta 21 in die Massenproduktion, und 16 Schweizer Uhrenmanufakturen verkaufen die Neuentwicklung unter ihren eigenen Markennamen. Nur André J. Heiniger steigt aus dem Projekt aus.
Die ganze Branche reibt sich über diesen Entscheid die Augen. Für die Uhrmacher ist klar, dass Quarz- und elektronischen Uhren die Zukunft gehört. Diesem technologischen Quantensprung, sind sie überzeugt, können sich auch die Produzenten im Luxussegement nicht entziehen. Nur Heiniger sieht das anders. Er baut auf das, was Rolex gross gemacht hat: auf die mechanische Armbanduhr. Und damit beweist er Weitsicht. In den Achtzigerjahren stürzt der Absatz der mechanischen Uhren weltweit in ein Wellental, und gewissermassen symbolisch für den Niedergang der traditionellen schweizerischen Uhrmacherkunst kommt 1985 eine neuartige Billiguhr auf den Markt: die Swatch. Rolex jedoch, die sich dem modernen Zeitalter der Quarz-Zeitmesser so hartnäckig entgegenstellt, wächst selbst in diesen für Uhrmacher so bleiernen Zeiten. Der Hartnäckigkeit des Rolex-Chefs ist es auch zu verdanken, dass in der Schweiz eine Zulieferindustrie für mechanische Uhren überhaupt überleben kann. Bis dann in den Neunzigerjahren ein Revival für mechanische Uhren einsetzt.
Als André J. Heiniger im Jahr 1992 das operative Geschäft an seinen Nachfolger übergibt und ins Aufsichtsratspräsidium wechselt, hinterlässt er eine kerngesunde Firma, ein Top-Produkt, eine globale Marke und einen weltweiten Vertrieb mit zwei Dutzend Vertriebsgesellschaften von Tokio bis Toronto.
Zum zweiten Mal in der Geschichte von Rolex stellt sich die Frage: Who’s next? Und dieses Mal liesse sich noch eine zweite Frage anfügen: Was bleibt zu tun, angesichts der globalen Präsenz der goldenen Rolex-Krone? Die Geschichte wiederholt sich. Nachfolger von André J. Heiniger wird wiederum der kaufmännische Direktor von Rolex. Es ist wohl kein Zufall, dass der Rolex-Verwaltungsrat dessen Sohn Patrick Heiniger, einen studierten Juristen mit Rechtsanwaltspatent, als neuen Unternehmenschef vorschlägt und die Stiftungsräte der Wilsdorf-Stiftung als Vertreter des Aktionärs diese Wahl absegnen. Vielleicht ist dies die Art, wie bei Rolex Kontinuität in der Firmengeschichte buchstabiert wird. Auch der dritte Unternehmenschef von Rolex verfügt über einen jahrelangen engen und persönlichen Bezug zur Firma.
Auch der Neue geht seinen Weg, die Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben. Er tut es auf ähnliche Weise, wie es Usus ist im Hause Rolex: indem er seinen Kompass auf das Werk der Vorgänger richtet und von dort in die Zukunft navigiert. Er tut es, indem er vieles unterlässt, was die Konkurrenz nicht lassen kann. Ein «ausgewiesener Uhrenfinanzanalyst einer Genfer Privatbank» erläutert in dieser Zeit einem Journalisten der «HandelsZeitung», «dass sich Rolex die Marken IWC und Jaeger-LeCoultreu unbedingt einverleiben sollte, um mit den anderen grossen Luxusuhrenkonzernen wie Vendôme, Swatch und LMVH mithalten zu können». Patrick Heiniger beherzigt diesen Ratschlag nicht. Sondern schaut zu, wie sich der Luxuskonzern Richemont neben IWC und Jaeger-LeCoultre auch Lange und Cartier einverleibt sowie LMVH sich Uhrenmarken wie TAG Heuer, Ebel oder Zenith ins Einkaufskörbchen legt.
Patrick Heiniger mag die Shoppingtouren der Konkurrenz mit einem gewissen Amüsement verfolgt haben, untätig ist er deshalb allerdings nicht geblieben. Wo andere dem Kaufrausch verfallen sind, hat er sein Geschäft abgesichert. «Vertikale Integration», heisst das im neudeutschen Managerduktus. Will heissen: Zukauf der Zulieferer sämtlicher Komponenten mit dem Ziel der völligen Autarkie.
Die Folgen dieser Aktivitäten sind auch schon Geschichte. 1998: Nach längeren Verhandlungen übernimmt Heiniger das Genfer Familienunternehmen Gay Frères, das seit geraumer Zeit Rolex-Armbänder geliefert hat. 2000: Heiniger übernimmt den wichtigsten Zifferblattlieferanten, die Beyeler & Cie. in Genf. 2001: Heiniger kauft die Genfer Boninchi, seit 1919 Hauptlieferant von Rolex. Und als gewissermassen letzten Akt übernimmt Rolex Genf nun in zwei Schritten Rolex Biel. Jetzt ist die Auster wasserdicht verschlossen, die Rolex-Produktion ein in sich geschlossener Kreislauf, praktisch autonom gegenüber externen Einflüssen.
Patrick Heiniger könnte sich nun beruhigt zurücklehnen: Die Produkte sind top, die Marke sowieso und die wichtigsten Komponentenhersteller unter dem eigenen Dach vereinigt. Was will man mehr? Der dritte Chef der Firma weiss, dass Rolex zwar die Produktion nun im Griff hat. Heiniger weiss allerdings auch, dass vor der eigentlichen Produktion und nach der Auslieferung der fabrikneuen Uhren drei Dimensionen existieren, die Rolex ebenfalls kontrollieren muss, will sie ihrem eigenen, historisch gewachsenen Qualitätsanspruch Genüge tun: Es sind dies permanente Innovation und die totale Qualitätskontrolle der zu verarbeitenden Rohmaterialien.
Und ein weltweit einzigartiger After-Sales-Service. Genau dorthin hat der Patron substanzielle Investitionen gelenkt, und innovativ ist er auch geblieben. So hat Patrick Heiniger etwa für die Rolex Cosmograph Daytona mit dem Kaliber 4130 ein neuartiges Uhrwerk patentieren lassen.
Chêne-Bourg. Ein Aussenquartier Genfs. Hier befindet sich die Rolex-Produktionsstätte für Uhrengehäuse, Armbänder und Schmuck. «Central Laboratory» steht auf einem Schild geschrieben. In der Tat: Hier wird die Uhrmacherkunst zur Wissenschaft – es ist eine Abteilung für Qualitätskontrolle. «Die Rohstoffe sämtlicher Zulieferer werden auf ihre Qualität hin geröntgt», sagt Olivier Blanc, ein Werkstoffingenieur der ETH Lausanne, der zusammen mit 40 weiteren Wissenschaftlern in dieser Abteilung für Qualitätskontrolle zuständig ist, «und was nicht genügt, geht zurück an die Lieferanten.» Totale Qualität lautet hier die Losung, und die wird mit der Raffinesse modernster Technik gecheckt.
Beispiel Stahl: Rolex verarbeitet als einziger Uhrenhersteller weltweit ausschliesslich Hartstahl des Typs 904 L, der sonst nur für medizinische Implantate und in der Petrochemie Verwendung findet. Und bevor dieser zu Uhrgehäusen verarbeitet wird, muss er einen Fitnessparcours bestehen, der es in sich hat. So wird beispielsweise ein Laserstrahl 90 Sekunden lang auf einen Punkt der Stahloberfläche geworfen, um die Härte des Materials zu testen. Ein paar Schritte weiter steht ein Elektronenmikroskop, mit dem die Beschaffenheit des Materials eruiert wird. Auf einer 20 000fachen Vergrösserung sieht der Experte Olivier Blanc einen kleinen Streifen auf der Oberfläche des Stahls und richtet sofort seine ganze Aufmerksamkeit darauf. Mit einer Computermaus klickt er auf die Stelle mit dem dunklen Strich. Und siehe da: Der Computer reagiert sofort. Gelbe Balken wachsen auf dem Bildschirm in die Höhe, sie zeigen eine ungewöhnliche Stoffkonzentration an. Der Rechner deckt auch in Windeseile auf, um welche Materialien es sich handelt: Aluminium, Kürzel Al, das, so stellt sich heraus, von einer Polierpaste des Lieferanten stammt, und Titanium, Kürzel Ti, das ebenfalls auf eine durch den Lieferanten verursachte Kontamination hindeutet.
Dieser Stahl wird von Rolex nicht weiterverarbeitet. Er geht zurück an den Hersteller. Totale Qualität duldet keine Kompromisse, und deshalb ist Rolex nicht nur ein hocheffizienter Uhrenproduzent, sondern auch ein wissenschaftliches Kompetenzzentrum in Sachen Qualitätssicherung in all ihren Facetten. Hier stehen selbst entwickelte Anlagen, in die Rolex-Armbänder eingespannt werden und 10 000-mal geschlossen und geöffnet werden, um deren Langlebigkeit zu testen.
Es gibt Maschinen hier, in denen Rolex-Gehäuse Thermoschocks oder einem Druck ausgesetzt werden, der in über 1000 Metern Meerestiefe herrscht, um die Wasserresistenz zu testen. Der legendäre Mr. Q aus den «James Bond»-Filmen hätte jedenfalls einen Riesenspass an diesen Anlagen und dem wissenschaftlichen Spirit, der hier herrscht. Und es ist vielleicht auch kein Zufall, dass der 007-Agent sich in verschiedenen «James Bond»-Streifen als Rolex-Träger outet.
Christian Piguet ist ausgebildeter Uhrmacher, auf seiner Visitenkarte steht «Rolex World Service Manager». In seinem bescheidenen Büro wirft er PowerPoint-gestützt in einem einzigen Satz eine Vision an die Wand, die sein Chef Patrick Heiniger für Rolex definiert hat. «To be the world-recognized leader and benchmark in service.» Übersetzt heisst dies: Auch nach erfolgtem Verkauf einer Rolex-Uhr, so das Postulat des Chefs, bleibt die Qualität des Produkts unter der Kontrolle von Rolex.
Und Christian Piguet ist gewissermassen das Fleisch gewordene Pendant zu diesem Postulat. Seit 1983 ist er bei der Company. Es ist «wie eine Liebesbeziehung mit einer einmaligen Firma». Seit über zwei Jahrzehnten reist er in der Welt herum, um überall auf dem Globus den gleichen Servicestandard für Rolex-Uhren sicherzustellen. Und dies ist nur die sichtbare Spitze des Aufwands, den die Firma betreibt.
Im Hause sind 105 Personen ausschliesslich damit beschäftigt, die After-Sales-Organisation am Laufen zu halten und Uhrmacher aus aller Welt – insgesamt rund 4000 – auf den Rolex-Servicestandard zu trainieren und logistisch zu unterstützen. Das hat Tradition: Seit 1956 werden in Genf Uhrmacher auf die Rolex-Technologie geeicht, um dann irgendwo auf der Welt Rolex-Uhren fachgerecht überholen zu können. Das dafür notwendige Equipment, Maschinen und 2200 Spezialwerkzeuge, meist Eigenentwicklungen, stellt Rolex zur Verfügung – 1200 Schiffscontainer an Ersatzteilen verlassen Jahr für Jahr die Rolex-Werke.
Technische Informationen werden heute in sieben Sprachen publiziert, inklusive Chinesisch und Japanisch; ein Vierteljahrhundert lang garantiert die Firma Ersatzteile für eine Rolex-Uhr. «Gleiche Philosophie, gleiches Werkzeug und gleiche Ersatzteile», sagt Service-Manager Piguet, «sind die Bestandteile für ein Unique-Produkt.» Und damit das für alle Ewigkeit so bleibt, wird auch der Nachwuchs entsprechend geschult: 200 Uhrmacher aus aller Welt werden jährlich in Genf auf die Rolex-Qualität getrimmt, 19 Lehrlinge in den Beruf eingeführt. Ausbildungsstätten existieren inzwischen in den USA und in Japan. 2001 hat in Pennsylvania das Rolex Lititz Watch Technicum die Tore geöffnet und 2003 das Tokio Watch Technicum. Und für 2005 ist eine Schule im indischen Bombay geplant. Alle Studenten, die hier die Schulbank drücken, erhalten ein Zertifikat, um das sie wohl überall auf der Welt beneidet werden: «Watchmaker of Switzerland».
Dass Rolex im Stande ist, schätzungsweise 700 000 Luxus-Chronometer pro Jahr herzustellen – also etwa fünfzehnmal so viel wie Jaeger-LeCoultre oder IWC und dreieinhalbmal so viel wie Omega –, hat wohl mit dieser totalen Kompromisslosigkeit zu tun. Und dass Rolex der mit Abstand grösste Goldverwerter der Schweiz ist, ist schon fast symbolhaft für die goldene Krone der Uhrmacherkunst.