Jeden Abend nehmen die Männer die steilen Gassen zum Lindenhof hinauf unter die Füsse. Es sind Ärzte, Architekten, Kaufleute, Juristen, selten jünger als 35 Jahre – lauter gestandene Zeitgenossen, die glauben, mit Hilfe von esoterischen Ritualen zur Erleuchtung zu kommen. Am südlichen Rand des Hügels, wo ihre Vorväter einst an Tore pochen mussten, um Einlass zu erhalten, öffnen sich die Türen heute wie durch Zauberhand. Nur das Klicken der Zutrittsbadges ist hörbar. Dann verschluckt das Haus zum Paradies die nächtlichen Besucher.

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Sie verschwinden im mächtigen Altstadtgemäuer, das labyrinthartig mehrere Geschosse tief unter die Erde reicht. Lindenhof 4 heisst die Adresse der acht Zürcher Freimaurerlogen mit rund 600 Mitgliedern. Sie tragen so klangvolle Namen wie Catena Humanitatis, In Labore Virtus, Sapere Aude oder Modestia cum Libertate. Die Modestia ist nicht nur die älteste und mit 140 Mitgliedern grösste Zürcher Freimaurerloge, sie verfügt auch über einen ansehnlichen Immobilienbesitz: Ihr gehört das ganze unter Heimatschutz stehende Lindenhof-Geviert zwischen Strehl-, Pfalz- und Wohllebgasse bis hinunter zur Schipfe. Die anderen Logen sind bei ihr zur Miete. Jeden Abend tagt eine von ihnen.

Vier- bis sechsmal pro Jahr treffen sich die Männer nicht in den oberen Konferenzräumen, sondern steigen, schwarz gekleidet und mit weissen Handschuhen und Schurz, in den unterirdischen Tempel hinab, schreiten durch zwei Spitzbogen, vorbei an zwei markanten Säulen und nehmen in den Sitzreihen Platz. In diesem Mitte des 19. Jahrhunderts erbauten neugotischen Saal werden keine Lämmer geopfert, Zaubersäfte gebraut oder Verschwörungstheorien aufgestellt – in ihm findet das statt, was Human-Resources-Manager Assessment nennen würden: Beförderungsrituale, nicht mit dem neuzeitlichen «Postkörbchentest», sondern nach Art alten Brauchtums, das bis auf die Dombauer des Mittelalters zurückgeht.

In der klassischen Freimaurerei gibt es drei Stufen der Mitgliedschaft: Vom Lehrling rückt einer zum Gesellen auf und von dort zum Meister. Alle Grade können nur in für Aussenstehende reichlich verschroben anmutenden Zeremonien erworben werden. Das Lehrlingsritual stellt die Selbsterkenntnis in den Mittelpunkt. In der Gesellenstufe wird die Arbeit für die Gemeinschaft betont. Und wer Meister werden will, muss sich symbolisch dem Tod stellen. In der Schweiz haben 3700 Männer in 79 Logen diese Prüfung durchlaufen, weltweit zählt die Bruderschaft etwa sechs Millionen Mitglieder in 45 000 Logen.

Der sakrale Raum tief unter dem Lindenhof ist, wie alle Freimaurertempel, Symbol des Kosmos. Vom Gewölbe herab erstrahlt ein Sternenhimmel. Hinter einem altarähnlichen Pult sitzt der Vorsteher der Loge, Meister vom Stuhl genannt, im Tempel verteilen sich in strenger Sitzordnung seine Brüder. Auf dem Altar liegen die «drei grossen Lichter» der Freimaurerei: Bibel, Winkelmass und Zirkel (siehe Artikel zum Thema «Die Symbolik der Freimaurer»). In der Mitte des Raums stehen um einen Teppich, in dem die Freimaurersymbole eingewoben sind, drei Kerzenleuchter als Sinnbild der «kleinen Lichter» Weisheit, Stärke und Schönheit. Je nach Grad, in dem gearbeitet wird, kommen weitere Symbolgegenstände hinzu. Im Lehrlingsgrad ist es der «Rauhe Stein», der die lebenslange Arbeit an sich selbst darstellt.

Freimaurerei will eine Lebensschule sein, aber keine Religion, ist esoterisch und aufklärerisch zugleich, offen für alle und doch abgeschlossen, egalitär und trotzdem exklusiv und hierarchisch. Alfred Messerli, Meister der Zürcher Loge Catena Humanitatis und ehemaliger Präsident des Zürcher Gemeinderats, beschreibt sie in seinem Buch «Es werde Licht» als «Schule der Menschlichkeit». Die Freimaurer leben den Idealen Toleranz, Humanität und Gerechtigkeit nach. Sie berufen sich auf einen «Allmächtiger Baumeister aller Welten» (ABAW) genannten Schöpfer, legen sich aber auf kein Dogma fest. Protestanten und Katholiken dürfen genauso beitreten wie Juden oder Muslime. Jeder Freimaurer muss sich verpflichten, seinen Teil dazu beizutragen, dass sein Leben einen positiven Sinn gewinnt. Die Impulse erhält er in den Tempelfeiern, Konferenzarbeiten und Diskussionen, in denen Wert auf Brüderlichkeit, Toleranz und Offenheit gelegt wird. Streit untereinander wird tunlichst vermieden.

Auch Hans-Ulrich Helfer, Unternehmer und ehemaliger Zürcher FDP-Gemeinderat, war fasziniert vom Freimaurer-Leitsatz, den einzelnen Menschen zu verbessern, um die Welt zu verbessern. Darum wandte er sich vor zwölf Jahren – er war damals 40 – mit einem Brief an die Freimaurer. Als er die Räume auf dem Lindenhof erstmals betrat, traf er einige Bekannte, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass sie der Bruderschaft angehörten. Heute ist Helfer «Zugeordneter Meister vom Stuhl» der Catena Humanitatis, also zweithöchster Freimaurer nach dem Meister vom Stuhl, Wolfgang Widmer. Er denke heute häufiger als früher darüber nach, ob er mit seiner Meinung Recht habe, und sei im Umgang mit anderen Menschen toleranter geworden, sagt Helfer. Zeige jemand rassistisches Verhalten, greife er sofort ein.

Der ehemalige Staatsschutzbeamte macht sich für eine Öffnung der Freimaurer stark, was einigen konservativen Brüdern weniger behagt. Er spricht nicht nur bereitwillig über den Männerbund, sondern hat auch die Internetseite www.freimaurer.ch errichtet, über die Interessenten Informationen beziehen können. Seit zwei Jahren, sagt Helfer, hätten die Anfragen deutlich zugenommen. Vor allem Männer um die 40, die beruflich und materiell viel erreicht haben und ihrem Leben einen Sinn jenseits von Karriere und Shopping geben wollen, «pochen an», wie es im Freimaurerjargon heisst. Viele möchten sich ausserhalb der Landeskirchen mit philosophisch-weltanschaulichen Fragen beschäftigen.

Daneben wirken sicher auch das Okkulte und das Männerbündlerische faszinierend. Dies zeigen die Bestseller «Sakrileg» und «Illuminati» des US-Autos Dan Brown, die von Freimaurern und anderen Bünden handeln und bei vielen Geschäftsleuten auf dem Nachttisch liegen. Auch die Vorlesungen zum Thema Freimaurerei, welche die Volkshochschule Zürich anbietet, sind ein Publikumsmagnet.

Viele Bewerber wissen nicht, was sie erwartet. Im Gegensatz zu Serviceclubs wie Rotary oder Kiwanis ist bei den Freimaurern Geschäftemachen verpönt. Es ist schon vorgekommen, dass Brüder, die nur auf Business aus waren, ausgeschlossen wurden. Um Streit zu vermeiden, darf auch weder über Politik noch über Religion gesprochen werden. An den Vortragsabenden wird stattdessen über naturwissenschaftliche, philosophische oder historische Stoffe referiert.

Liberale Freimaurer wie Alfred Messerli und Hans-Ulrich Helfer treten für einen stärkeren Bezug zu aktuellen Themen ein. In einer Rede an der Tempelfeier der Grossloge Alpina, der Schweizer Dachorganisation, sagte Messerli im vergangenen Sommer: «Wir müssen doch prüfen, ob der Schutz der Umwelt, die Achtung der Menschenrechte, die Ablehnung jeglicher Gewalt und Folter nicht aktuelle Postulate sind, die in den maurerischen Grundsätzen Platz finden sollten.»

Dadurch könnten die Freimaurer mit ihrem aufklärerischen Gedankengut verstärkt Einfluss aufs politische Geschehen nehmen, wie früher, als sich Persönlichkeiten wie Winston Churchill, George Washington oder Johann Wolfgang von Goethe in die Bruderkette einreihten. Berühmte Schweizer Freimaurer waren der Winterthurer Industrielle Johann Jacob Rieter, der Neuenburger Schokoladefabrikant Philippe Suchard oder der Aargauer Verleger Heinrich Sauerländer. Prominentester Zeitgenosse ist der Stadtpräsident von Lugano, Giorgio Giudici. Im Gegensatz zu den Deutschschweizer Logen ist die Tessiner Loge Dovere im politischen und wirtschaftlichen Establishment gut verankert.

Bewirbt sich ein Kandidat, kommt eine aufwändige Aufnahmeprozedur in Gang, die nicht alle bis zum Schluss durchlaufen. Jüngst kamen bei der Catena an einem Abend fünf Kandidaten in die Endausscheidung, nur einer schaffte es auf Anhieb. Zwölf Lehrlinge wurden in den letzten zwei Jahren aufgenommen, zwölf sind derzeit nahe dran. Und es gibt 20 Interessenten, die geprüft werden.

Freimaurerei soll ein Entscheid sein fürs Leben. Der Bewerber muss zunächst beweisen, dass er «ein freier Mann von gutem Ruf» ist und geistig an sich arbeiten will. Zusammen mit seinem Gesuch muss er einen Lebenslauf, einen Auszug aus dem Zentralstrafregister und drei Referenzen einreichen. Es folgen Gespräche mit Mitgliedern der Aufnahmekommission und einem «Paten», der ihm zur Seite gestellt wird. Zudem muss er mindestens einen Vortrag, genannt «Bauriss», halten. Mehrmals wird im Plenum über die Tauglichkeit des Kandidaten abgestimmt. Spricht sich eine Mehrheit der Logenbrüder für ihn aus, erwartet ihn ein feierliches Aufnahmeritual.

Dieses beginnt am Nachmittag um vier. Dem «Suchenden», wie der Kandidat genannt wird, werden Schmuck und Wertsachen abgenommen, dann wird er in die «Kammer des stillen Nachdenkens» geführt, wo er zwei Stunden lang seine Gedanken zu Papier bringen muss, vor sich eine Kerze, eine Sanduhr und einen Totenkopf – Symbole für Vergänglichkeit, Tod und Wiedergeburt. Will der Prüfling nach der Zeit der Besinnung immer noch Mitglied werden, wird er um sechs Uhr mit verbundenen Augen in festgesetzten Schrittfolgen in den Tempel geführt. Ein Trio spielt Stücke von Wolfgang Amadeus Mozart, der ebenfalls Freimaurer war. Im Tempel angelangt, wird wiederholt gefragt, ob er seinen Beitrittswillen aufrechterhält. «Mein Herr, warum wollen Sie …?» muss er sich wieder und wieder anhören. Schon einige wurden schwach oder verloren die Nerven.

In dem zweistündigen Ritual, das nun folgt, wird der Suchende, immer noch mit verbundenen Augen, mit den vier Elementen Feuer, Erde, Wasser und Luft konfrontiert. Die symbolische Reise durch die Welt führt von Westen nach Osten und wird durch Sprüche der Logenmitglieder und Meditationspausen begleitet. Am Ende kniet sich der Suchende vor dem Altar nieder, auf dem ein Winkel, ein Zirkel und die Bibel liegen. Der Meister vom Stuhl setzt ihm den Zirkel auf die linke Brust und spricht feierlich: «Zu Ehren des Allmächtigen Baumeisters aller Welten, im Namen des Bundes und kraft meines Amtes nehme ich dich als Freimaurerlehrling auf.» Der Meister schlägt auf den Zirkel, die Brüder bilden eine Kette. Nun folgt der Augenblick, den jeder Freimaurer als einen der dramatischsten in seinem ganzen Leben schildert: Die Augenbinde fällt, dem Lehrling wird die Schürze umgebunden. Nach Stunden in der Dunkelheit werden die Augen vom hell erleuchteten Tempel geblendet; eben hat der Lehrling die Reise ans Licht angetreten, die ein Leben lang dauern wird.

Auch Pekuniäres wird nun wichtig. Ein Mitglied der Catena Humanitatis zahlt eine Jahresgebühr von 1000 Franken, wovon die Hälfte an die Modestia fliesst für die Miete des Lindenhofs.

Mit den Mieteinnahmen aus den Restaurants und Läden des Lindenhof-Gevierts dürften die jährlichen Mieteinkünfte eine Million Franken übersteigen. Mit dem Geld werden unter anderem Unterhalt und Renovationen der denkmalgeschützten Liegenschaft finanziert. Die Renovation des Tempels kostete 600 000, die Neugestaltung der Lounge 200 000 Franken.

Daneben zahlen die meisten Mitglieder jährlich 150 bis 200 Franken an die Vorsorgekasse. Mit diesem Geld werden Witwen von verstorbenen Brüdern unterstützt oder Brüder, die unverschuldet in einen finanziellen Engpass geraten sind. Schliesslich gibt es nach jeder «Arbeit», wie die Konferenzen genannt werden, eine Kollekte. Jedes Jahr kommen so in der Schweiz schätzungsweise eine bis zwei Millionen Franken zusammen, die bedürftigen Menschen gespendet werden. Zahlreiche soziale Einrichtungen wie das Zürcher Brockenhaus, vor 100 Jahren von der Modestia cum Libertate gegründet, oder das Altersheim Perla Park in Zürich sind über Stiftungen noch immer mehrheitlich im Besitz von Freimaurern.

Wer nach dem Erreichen des Meistergrads noch höher hinaus will, kann sich der «roten Freimaurerei» widmen – einer noch esoterischeren Variante der klassischen «blauen Freimaurerei». Dort lassen sich die Meister philosophisch und rituell weiterbilden. Da man ihr nicht beitreten kann, sondern berufen wird, ist sie selbst unter Brüdern umstritten. Ein Viertel aller Freimaurer gehören zu den hohen Graden.

Sie kultivieren den «Alten und Angenommenen Schottischen Ritus», der 33 Stufen umfasst, wobei nur die Grade 18, 30 und 32 einzeln angesteuert werden müssen. Der 33. Grad ist ein administrativer Grad, eine Ehrenfunktion, den in der Schweiz 99 ältere Herren bekleiden. Stirbt einer von ihnen, rückt einer aus dem 32. Grad nach. Dass sie die Weltverschwörung planen, wie da und dort gemutmasst wurde, ist nicht anzunehmen: Das Durchschnittsalter der Hoch-Grad-Freimaurer beträgt 71 Jahre.