Frau Jenni, bald stehen neue Entscheide in der Covid-Krise an. Was erwarten Sie?
Man hat schon vor Weihnachten über Ladenschliessungen gesprochen. Wir haben dann das Konzept «Lockdown light» vorgeschlagen. Dort ging es primär darum, die Schutzkonzepte zu stärken und weniger Kunden pro Quadratmeter zu erlauben. Die Idee war, nicht nur einen Lockdown bis nach Weihnachten zu verzögern, sondern ihn ganz zu verhindern.

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Und wie war es, als es anders kam?
Enttäuschung ist das falsche Wort. Der Lockdown ist unnötig. Wir haben griffige Schutzkonzepte: Man hat die Leute dazu aufgefordert, die Frequenzen zu verteilen, die Kontakte zu reduzieren. Wir haben ebenfalls gewünscht, dass nur eine Person aus einem Haushalt einkaufen soll. Familien sollen auf ein gemeinsames Samstagshopping-Event zu verzichten. Das sind Konzepte, die zielführend wären. Schliesslich gibt es in den Läden keinen engen Kontakt, die Leute bewegen sich, es ist dynamisch. Man sitzt sich nicht ständig gegenüber. Aber beim jetzigen Lockdown wurden wir als Branche im Vorfeld zu wenig für Alternativszenarien abgeholt.

SP-Nationalrätin Jaqueline Badran fordert, man soll die Ladenöffnung den «realen Massnahmen» anpassen. Sie führt aus, dass auch Buchläden oder Sportgeschäfte öffnen sollen. Was halten Sie davon?
Jede Schliessung führt zu Diskussionen. Ich glaube, dass der Bundesrat eine griffigere Lösung als im Frühling finden wollte. Wir haben versucht, mehr Geschäfte offen zu halten. Aber hinter all dem gibt es keine Logik.

Ist das für den Verband das wahre Problem?
Wir wollten die Läden offenhalten, aber die Kontaktpunkte runterbringen. Wir mussten aber auch vom Frühling lernen. Es ist nicht möglich, eine klare Linie zu fahren. Was ist ein Gut des täglichen Bedarfs? Da spielt es doch eine Rolle, wie jemand ganz persönlich lebt.

Was fordern Sie nun?
Viel wichtiger ist es, dass die Läden generell offenhalten können – mit den entsprechenden Schutzmassnahmen und einer stark reduzierten Kundenfrequenz. Es zeigt ja auch, dass keine Regelung zu den Gütern des täglichen Gebrauchs gefunden werden kann, die allen gerecht wird. Wir gingen bei den Kundenquadratmetern bis zur Schmerzgrenze. Aber das ist immer noch besser, als die Läden ganz zu schliessen und auf den Fixkosten zu sitzen.

«Ich verstehe auch heute das Problem aus epidemiologischer Sicht nicht. Es gab nie einen Superspreader-Event in einem Laden in der Schweiz.»

Abteilungen mit Absperrbändern – das stösst bei vielen auf Unverständnis. 
Auch für Vollzugsbeamte ist die Sinnhaftigkeit oft nicht nachvollziehbar; sie haben auch keine grosse Lust, den Oberpolizisten zu spielen. Wie gesagt: Es steht keine stringente Logik dahinter. Ich habe vor gut einem Monat beim BAG platziert, jedes Geschäft solle jetzt im Lockdown auf ein vereinbartes Zeitfenster hin Kunden empfangen dürfen. Dann kann der Kunde in den Laden kommen, die Hygieneregeln einhalten, und der Shop hat auch die Kontaktangaben von den Kunden. Ich erhielt keine Antwort. Ich verstehe auch heute das Problem aus epidemiologischer Sicht nicht. Es gab nie einen Superspreader-Event in einem Laden in der Schweiz.

Es gibt ja Click & Collect: Da muss man die Sachen auch im Laden abholen. 
Wir hatten im Vorfeld gefordert, Click & Collect in jedem Fall und in allen Varianten zuzulassen. Das ist aber keine Alternative zu einer Ladenöffnung. Am 1. März spätestens müssen die Läden wieder öffnen.

Erwarten Sie, dass es über den 1. März hinaus geht? 
Die letzte Botschaft des Bundesrats gab mir zu denken. Es ist unklar, welche Strategie der Bundesrat verfolgt. Vielleicht ist er auch zu wenig nah an den Leuten und den Unternehmen.

«Man tut so, als würde ein Lockdown Tote verhindern. Es braucht eine ehrlichere Strategie.»

Welche Exit-Strategie schlagen Sie vor?
Das ist in unserem Positionspapier zu sehen. Das Wichtigste ist ein Paradigmenwechsel. Es ist ziemlich klar, dass wir dieses Virus auch noch im Sommer bei uns haben werden. Dieses Lockdown-Ping-Pong muss enden. Wir müssen weg davon und eine andere Strategie entwickeln. Wie sieht die Nicht-Lockdown-Strategie aus? Was braucht es dafür?

Was?
Das Tracing muss verbessert werden, aber auch das Testen sollte ausgedehnt werden. Da hätte mehr gemacht werden können. Wir fordern evidenzbasierte und verhältnismässige Massnahmen. Dazu braucht es einen erweiterten Fokus – nicht nur auf Corona-Ansteckungen.

An welche Aspekte denken Sie?
Es werden indirekte Gesundheitsfolgen durch den Lockdown entstehen. Ganz zu Schweigen von dem wirtschaftlichen Verlust. Eine solche Einbettung findet nicht statt. Man tut so, als würde ein Lockdown Tote verhindern. Es braucht eine ehrlichere Strategie: Es muss eine Normalität mit dem Virus folgen. Sonst gehen wir an den Kollateralschäden zugrunde.

«Wir verbrennen Tag für Tag Ersparnisse»

Was ist der grösste Feind des stationären Handels: Der Bundesrat oder das Internet?
Die Konsequenzen der staatlichen Schliessung. Das führt dazu, dass der Onlinehandel künstlich gefördert und begünstigt wird. Und dass Kaufkraft zu Zalando oder Amazon abwandert. Diese Unternehmen schaffen in der Schweiz kaum Arbeitsplätze. Positiv hingegen ist, dass der Druck der Schliessung zu einem Digitalisierungsschub in den Unternehmen geführt hat und Projekte nun Wochen statt Monate brauchen.

Haben gewisse Mitglieder von Ihnen das Thema Onlinehandel verschlafen? Bestellen die Leute einfach lieber bei Zalando als bei einem hiesigen Schuhgeschäft?
Die meisten Händler schöpfen rund 15-20 Prozent aus dem Onlinehandel. Jetzt kam noch eine Beschleunigung dazu, gewisse machen nun 50 Prozent aus dem Onlinehandel, zumindest holen sie das in der Lockdown-Phase. Andere Mitglieder haben den Onlinekanal auch aufgegeben, weil Kosten und Nutzen nicht in der richtigen Relation standen.

Dagmar Jenni

Dagmar T. Jenni ist seit 2016 Geschäftsführerin der Swiss Retail Federation und Rechtsanwältin. Zuvor war sie seit 2008 stellvertretende Geschäftsführerin des Verbandes. Zudem bietet sie juristische Dienstleistungen primär im Industriegüterbereich an.

Quelle: ZVG

Man redet jetzt immer von der steil ansteigenden Online-Kurve im Corona-Jahr. Aber auch nach dem Boom werden nur 16 Prozent des Detailhandels über den Onlinekanal erwirtschaftet. Die Detailhandelsbranche verliert während des jetzigen Lockdowns 4,8 Milliarden Franken. Das ist aber auch bitter, weil das tiefe Ergebnis die Innovation der Händler hemmt. Wenn man nur mehr gerade Fixkosten decken kann, dann hat man auch kein Geld, um in Zukunftsprojekte zu investieren. Der Lockdown vermiest also auch die Zukunftsfrüchte der Unternehmen. Das wird häufig ausgeblendet.

Müsste der Staat die stationären Händler beim Gang ins Web unterstützen? Per Online-Mobilmachungs-Subvention?
Das ist ein spannender Ansatz. Wir fordern, dass Projekte, die Online und Offline besser koppeln können, unterstützt würden. Vor allem in der Logistik. Ein solches Gefäss würde helfen und gäbe einen Innovationsschub

Das führt wieder zu Click & Collect. Funktioniert das?
Es hat die Flexibilität und Agilität gefördert. Für KMU ist es sogar einfacher, sich damit auf die Lockdown-Situation einzulassen. Sie haben nicht den logistischen Aufwand wie grössere Player. Es gibt Läden, die  Kleider verkauft haben und jetzt mit Blumen handeln – oder die via Whatsapp die Ware präsentieren, die dann später bestellt und im Laden abgeholt wird. Das inspiriert wiederum auch grosse Händler.

Ist es nicht nur ein Tropfen auf den heissen Stein?
Die Mitarbeiter wollen arbeiten. Es hilft, die Leute aktiv zu halten und es hilft, in der Lockdown-Phase etwas Umsatz zu machen. Es ist aber keine Dauerlösung. Der Umsatz ist  tief. Wir fordern deshalb eine Nachbesserung der Härtefallregelung. Auch das ist ein Tropfen auf den heissen Stein.

Also spielt bei Click & Collect auch der psychologische Faktor mit?
Ja, die Mitarbeiter hocken nicht nur zu Hause. Auch wenn es finanziell nicht so viel bringt, machen die Leute etwas. Sie haben den Antrieb, etwas reinzuholen. Man ruft nicht einfach nach dem Staat und der soll bedienen. Das ist nicht die Mentalität im Detailhandel. Man möchte seinen Beitrag auch unter diesen unglücklichen Umständen leisten.

«Wenn man nur mehr gerade Fixkosten decken kann, dann hat man auch kein Geld, um in Zukunftsprojekte zu investieren.»

Schauen wir noch etwas in die Zukunft: War die Pandemie der Todesstoss für die Innenstädte?
Nein, wir haben Kunden befragt, wie sich nach der Pandemie verhalten werden. Eine Mehrheit hat gesagt, sie wollen an dem von Vorher anknüpfen. Sie wollen Leute sehen, sich austauschen, Produkte in den Händen halten. Das Pendel kann nach der Pandemie sogar für eine Weile umschwenken. Das man sogar noch lieber in die Innenstädte geht, sich dort inspirieren lässt. Das kann ein kurzfristiges Revival geben. Aber langfristig ist es sicherlich so, dass durch die Pandemie auch eine Generation auf den Geschmack gekommen ist, die vorher nie online geshoppt hat. Der Onlineanteil wird sich steigern, wie man in anderen Ländern sieht, aber der Sockel ist irgendwann erreicht. Ich finde auch, dass es Aufgabe der Kantone und Gemeinden ist, die Attraktivität der Innenstädte wieder zu steigern.

An welche Massnahmen denken Sie?
Es braucht jemand, der sich als «City-Manager» verantwortlich fühlt und ist. Da geht es um Fragen wie Sonntagsverkäufe oder ob man Parkplätze im Nachgang zum Lockdown subventioniert. Das man auch Event-mässig etwas versucht, vielleicht an einem Silvesterlauf. Da hat es eine so hohe Frequenz, aber die Läden müssen geschlossen bleiben. Diese Momentums muss man nutzen.