Als die Fusion der beiden Handelshäuser Diethelm Keller und Siber Hegner besiegelt war, gab es keine Festreden, sondern ein einwöchiges Seminar. Konzernchef Jörg Wolle und Verwaltungsratspräsident Adrian Keller zitierten das oberste Kader und den Verwaltungsrat an die Managerschule Insead in Singapur. Zentraler Programmpunkt für die 60-köpfige Führungsriege war ein anstrengendes Überlebenstraining. Die Manager halfen sich gegenseitig über Abgründe hinweg, spornten einander zu Mutproben an und bauten sechs Flosse mit Material, das eigentlich nur für fünf reichte.
Konzernchef Wolle und Präsident Keller legten ebenfalls Hand an. «Adrian hat sich meine Ressourcen für den Flossbau angeschaut und gefunden, ein Joint Venture lohne sich in diesem Fall nicht», erinnert sich CEO Wolle amüsiert und triumphiert: «Ich und mein Team waren dann trotzdem zuerst auf dem Wasser.» Wolle the Winner – das war ganz nach Kellers Geschmack. Fürs Siegen hat er den aufgeweckten 47-jährigen Maschinenbauingenieur, der 1988 mit 20 D-Mark in der Tasche von Ost- nach Westdeutschland geflohen war, nämlich engagiert.
Seit dem munteren Muskelspiel sind zwei Jahre vergangen. Stolz präsentiert Wolle nun seine Bilanz: Im Geschäftsjahr 2003 ist der Umsatz von Diethelm Keller und Siber Hegner (DKSH) um 15 Prozent auf 5,4 Milliarden Franken gestiegen, der Betriebsgewinn um 12 Prozent auf 64 Millionen Franken. Die Zahl der Mitarbeiter stieg allein durch inneres Wachstum um 3000 auf 17 600. DKSH – oder die Fantree-Gruppe, wie sie in Fernost genannt wird – ist der grösste Marketing- und Distributionsdienstleister Asiens. In dieser Rolle sorgt DKSH zum Beispiel dafür, dass es in China Lindt-&-Sprüngli-Schokolade zu kaufen gibt, in Malaysia Gillette-Rasierutensilien oder in Singapur Montblanc-Füllfederhalter.
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Mit dem kommerziellen Erfolg hat sich Wolle bei der Familie Keller, welche die Mehrheit an DKSH besitzt, grossen Respekt verschafft. Es war ein Vertrauensbeweis erster Güte, als Wolle angefragt wurde, Mitglied des Verwaltungsrates der Familiengesellschaft Diethelm Keller Holding zu werden. Wolle zögerte nicht lange; seit Mitte Jahr gehört er zum innersten Zirkel des Clans (siehe Artikel zum Thema «Die Besitzerfamilien: Seit 120 Jahren im Geschäft»).
Der Hüne aus Sachsen hat schon ganz andere Hürden genommen. 1991 stieg er bei Siber Hegner in Hongkong als Direktor für Marketing und Verkauf ein, 1995 wurde er in die Konzernleitung berufen, deren Vorsitz er im Jahr 2000 übernahm. Wolle war ein Glücksfall für Siber Hegner. Das Traditionshaus, im Handel mit Japan gross geworden, «stand Ende der Neunzigerjahre mit dem Rücken zur Wand», wie Wolle sagt. Mehrere Jahre lang hatte der Konzern die Gewinne durch Liegenschaftenverkäufe künstlich aufgebläht, der Verwaltungsrat, dominiert von den beiden Besitzerfamilien Gautier und Hegner, war durch Ego-Scharmützel gelähmt, das Management machte eher mit teuren Karossen als mit Leistung auf sich aufmerksam.
Für Wolle war es die Chance seines Lebens. Er schaffte die Länderorganisation ab und errichtete Geschäftseinheiten. «Grosskunden benötigen einen Ansprechpartner für eine ganze Region, sie wollen nicht in jedem Land mit einem Chef verhandeln», sagt Wolle. Zudem baute er Siber Hegner von einem reinen Handelsunternehmen zu einem Distributionskonzern aus, der auch Dienstleistungen wie Marketing, Kundendienst oder Inkasso anbietet. Ein Jahr brauchte er für den Turnaround. «Wolle ist ein konsequenter Macher», sagt Frank Gulich, bis vor einem Jahr Verwaltungsrat von DKSH und heute VR-Delegierter der Anova Holding.
Wolles Wirken hat nicht nur im Hauptquartier von Siber Hegner im Zürcher Seefeld beeindruckt, sondern auch bei der Konkurrenz. Einen kurzen Fussmarsch von Siber Hegner entfernt liegt die Zentrale des traditionsreichen Handelshauses Diethelm Keller. An der Spitze des Asiengeschäfts fehlte genau zu der Zeit ein operativer Chef, als Wolle bei Siber Hegner Erfolge feierte. Diethelm Keller war noch immer nach Ländern organisiert, die Margen schrumpften, die Reorganisation des Geschäfts war angedacht, aber nicht umgesetzt. Was lag näher, als die Fitnesskur, die bei Siber Hegner Wunder wirkte, zu übernehmen? Und wer hätte das besser gekonnt als der Siber-Hegner-Chef persönlich? «Wir brauchten jemanden mit Erfahrung und Glaubwürdigkeit», sagt Adrian Keller. Auf der Terrasse von Kellers Chalet in St. Moritz entstand aus der ursprünglichen Idee, Wolle von Siber Hegner abzuwerben, der Entwurf für einen weit grösseren Coup: der Zusammenschluss von Siber Hegner und Diethelm Keller zum grössten Handelsunternehmen Asiens mit Jörg Wolle als Chef.
«Als wir dieses Szenario aufzeichneten, war die operative Logik so klar, dass wir uns fragten, warum wir nicht schon lange darauf gekommen waren», meint Wolle. Auf der Landkarte ergänzten sich die beiden Rivalen hervorragend: Siber Hegner hatte eine starke Position in Japan und Indien, Diethelm Keller in Thailand, Malaysia und Singapur. Heute decken die beiden mit kleinen Ausnahmen ganz Asien ab.
Der Zusammenschluss ging in wenigen Monaten über die Bühne. Auf die ersten Gespräche im Spätsommer 2001 folgte eine Zeit, die Adrian Keller als «strategische Due Diligence» bezeichnet: Management und Verwaltungsrat beider Firmen durchquerten wochenlang Asien, besuchten Niederlassungen, sprachen mit den lokalen Managern und prüften, ob eins und eins tatsächlich wie erhofft mehr als zwei ergäbe. Vor Weihnachten unterzeichneten die Aktionäre eine Absichtserklärung, im Januar 2002 wurde das Vorhaben mitgeteilt, im Juni 2002 die Fusion formell vollzogen. Dann kam der Drill am Insead in Singapur. «Wir haben unmissverständlich dargelegt, in welche Richtung die Reise geht», sagt Wolle. Die meisten hätten sofort verstanden und seien auf den neuen Kurs eingeschwenkt. «Den andern gaben wir eine zweite Chance», sagt Wolle, «aber keine dritte.»
Vor dem Zusammenschluss gab es im Aktionariat Tabula rasa. Bei Siber Hegner waren abwechslungsweise die Familienstämme Gautier und Hegner am Ruder gewesen. Die beiden Clans waren zerstritten und pflegten ihre Fehde im Verwaltungsratszimmer auszutragen. Um die Pattsituation, die das Geschäft lähmte, zu überwinden, holte Christophe Gautier im Jahr 1999 den Financier Ernst Müller-Möhl in den Verwaltungsrat. Mit einem Anteil von über 30 Prozent wurde er zum grössten Einzelaktionär und zur Stütze für Gautiers und Wolles Wachstumskurs. Als sich der Hegner-Stamm zu einem guten Preis auszahlen liess, war der Weg frei für den Zusammenschluss. Heute hält die Müller-Möhl Group rund zehn Prozent an DKSH.
Auch Diethelm Keller hat vor der Fusion das Aktionariat bereinigen müssen. «Wir haben jene Mitglieder der Familie Diethelm ausgekauft, welche die Strategie nicht mittragen wollten», sagt Keller.
Sechs Monate brauchte Wolle, um DKSH auf Kurs zu bringen. Heute ist der Konzern statt nach Ländern in Geschäftsbereiche unterteilt. Nicht Länderchefs geben den Ton an, sondern nur noch einer: Jörg Wolle. Seine Manager bekommen von ihm Dinge zu hören wie: «Wir sind Dienstleister, da müssen wir nicht mit hoch erhobenem Kopf durch die Welt laufen». Und: «Ich kann mein Ego ohne weiteres unter den Teppich kehren, um ein gutes Geschäft voranzutreiben.»
60 Prozent seiner Zeit verbringt der Vater einer siebenjährigen Tochter im Fernen Osten, wo er seinen Mitarbeitern auf die Finger schaut. Regelmässig bietet er die Kaderleute an Seminare am Insead in Singapur auf, wo sie «massgeschneiderte Leadership-Programme» (Wolle) durchlaufen. Der Chef pflegt dort persönlich aufzutreten und über seine Vorstellungen zu referieren. Unlängst hat er in der Konzernleitung zudem einen Chief Value Officer installiert, der nicht nur Grossprojekte an Land ziehen und ständig neue Ideen einbringen soll, sondern der dafür zu sorgen hat, dass die gesamte Belegschaft am selben Strick zieht.
Dank der flächendeckenden Präsenz in Asien kann Wolle den Kunden von DKSH den Zugang zu den heiss begehrten Wachstumsmärkten öffnen. Es handelt sich um mittelständische Unternehmen wie Ricola oder Hanro, denen die personellen und finanziellen Mittel fehlen, die Märkte aus eigener Kraft zu bearbeiten. Oder es sind internationale Multis wie Novartis oder Procter & Gamble, die Logistik und Distribution aus Kostengründen auslagern. Ihnen bietet Wolle Logistikkapazität («auf den Philippinen haben wir ein Distributionszentrum errichtet, in dem sechs Boeing 747 Platz hätten»), flächendeckende Distribution («wir beliefern auch die entlegenste Strandbar in Koh Samui und den Tante-Emma-Laden am Fusse des Angkor-Wat-Tempels») und Inkassodienste («unsere Marktmacht ist so gross, dass uns die Abnehmer bezahlen müssen, sonst beliefern wir sie einfach nicht mehr»).
Wenn Wolle vom Geschäft redet, glänzen seine Augen. Dank der Fusion deckt DKSH nicht nur ganz Asien ab, der Konzern generiert genügend Volumen, um Informationstechnologie und Infrastruktur auf dem neusten Stand halten zu können. Die Gefahr, dass Grosskunden aussteigen könnten, nachdem er sie in Asien eingeführt hat, hält Wolle für gebannt. Einen solchen Fall erlebte er Anfang der Neunzigerjahre bei Siber Hegner: Damals hat SMH-Boss Nicolas Hayek entschieden, den Vertrieb von Omega-Uhren in Japan fortan in eigener Regie durchzuführen. Der Verlust dieses Mandats hat den Niedergang der Handelsdynastie eingeläutet.
Stattdessen setzt Wolle auf den Multiplikatoreffekt. Für Gillette etwa, seit 2002 Kunde, vertrieb DKSH Rasierutensilien in Singapur. Es folgten Malaysia, Thailand und Indonesien; dieses Jahr ist Vietnam dran.
Wolle will aber auch durch Zukäufe wachsen. 2002 hat DKSH das alteingesessene dänische Handelshaus East Asiatic Company in Malaysia übernommen und führt mit zwei deutschen Handelsunternehmen erste Übernahmegespräche.
Handelsfirmen, die den Anschluss verpasst haben, gibt es viele. Siber Hegner und Diethelm Keller haben im letzten Augenblick die richtige Kurve genommen. Es geht aufwärts: Im ersten Quartal 2004 ist der Umsatz um ein Drittel gestiegen; Jörg Wolle stellt weiter Mitarbeiter ein. Kein Wunder, ist er in Siegerlaune, und mit ihm sind das auch die Aktionäre der DKSH, allen voran die Familie Keller. «Natürlich hatte ich einen Vertrauensvorschuss der Besitzerfamilien», sagt Wolle, «aber ich hatte auch die Kraft und das Quäntchen Glück, die Dinge, die ich versprochen hatte, einzulösen».