Was er sah, machte ihn stutzig: Knapp zehn Jahre ist es her, seit der damalige Chairman und CEO von IBM, Lou Gerstner, die Zusammensetzung seiner Firmenleitung unter die Lupe nahm. Resultat: Das oberste Kader bestand aus einer homogenen Gruppe von Personen mit ähnlichem Hintergrund, ähnlicher Herkunft und ähnlichem Denken. Und stellte damit sozusagen ein Abziehbild von Corporate America dar, dessen leitendes Personal im Normalfall weiss, männlich, christlich und heterosexuell ist. In der IBM-Teppichetage entsprach so gar nichts der gesellschaftlichen Realität draussen im Lande, wo auch die IBM-Kunden sind: weder der Frauenanteil noch die Zusammensetzung von ethnischen und religiösen Gruppierungen.
Gerstner, ein Mann der Tat, spürte sehr wohl, dass dieser Befund für IBM langfristig eine Gefahr darstellen könnte. Ein Unternehmen, das sich von seiner Kundenbasis wegentwickelt, meinte Gerstner, bekommt über kurz oder lang ein ernsthaftes Problem.
Der IBM-Chef gründete im Hause eine so genannte Diversity-Task-Force, die sich dem Problem anzunehmen hatte. Die Initianten bekamen zur Aufgabe, Strategien zu entwickeln, wie sich die gesellschaftliche Vielfalt der amerikanischen Gesellschaft in die IBM-Organisation übersetzen und integrieren lassen könnte und auf diesem Weg sich die Diversity wirtschaftlich nutzen liesse.
Der Startschuss des Diversity-Programms gilt als Meilenstein in der knapp 90-jährigen Geschichte des 1917 gegründeten Unternehmens. Heute ist Allgemeingut, was Gerstner visionär und als einer der Ersten vorausgesehen hat: Auf eine sich immer stärker auffächernde und individualisierende Gesellschaft, die sich in multikulturellen, ethnischen und religiösen Untergruppen organisiert, kann nur ein Konzern mit einer soziologisch ähnlich zusammengesetzten Führungsmannschaft flexibel und richtig reagieren. Und nur ein Unternehmen mit einem so strukturierten Management kann in einer entsprechenden Gesellschaft langfristig ein Geschäft betreiben.
Insofern ist Gerstners Diversity-Programm keineswegs ein menschenfreundliches Entwicklungsprogramm, sondern ausschliesslich ökonomisch motiviert: «Wir machten Gleichstellung zu einer marktbasierenden Aufgabe», sagte Lou Gerstner einmal rückblickend, «es war wichtig für uns, Märkte zu verstehen, die verschiedenartig und multikulturell sind.»
Wer Frauen als Kundinnen gewinnen möchte, muss nach diesem Credo wissen, in welcher Realität die durchschnittliche Amerikanerin lebt. Wer Asiaten oder Schwarze für die eigenen Produkte begeistern möchte, sollte sich einen Zugang zu ihrer Kultur erarbeiten. Wer Twens oder Senioren ansprechen möchte, muss sich in deren Sprachduktus auskennen. Und ein Unternehmen, das all diese Kompetenzen in seinen Topkadern bündeln kann, verfügt über einen wertvollen Wettbewerbsvorteil.
Dass das Thema «Diversity» in der stark segmentierten US-Gesellschaft und ihren Unternehmen als Thema der Zukunft identifiziert worden ist, kommt nicht von ungefähr. Die amerikanische Society ist offen, sie wurde von Einwanderern aus aller Welt gebildet, ist ein Schmelztiegel von Kulturen und Ethnien. Demgegenüber sind europäische Gesellschaften wesentlich homogener strukturiert und einem gemächlicheren sozialen Wandel unterworfen. So dauerte es Jahre, bis die in den Vereinigten Staaten entwickelten Diversity-Programme auch in der Schweiz Fuss fassten – zunächst in den lokalen Ablegern von US-Multis wie Procter & Gamble (P&G), Microsoft oder eben IBM.
Allerdings: In der Schweiz sind Diversity-Programme sehr viel stärker auf Frauenförderung fokussiert als etwa in den USA. Und Frauenförderung heisst: flexible Arbeitszeiten und Teilzeitarbeit auch in Kaderpositionen. «Wir gestalten unsere Arbeitsprozesse flexibel und individuell», sagt etwa Mia Farrow, Direktorin für Human Resources in der P&G-Europazentrale in Genf. Und das mit gutem Grund: «Die Käuferinnen unserer Produkte sind meist weiblich», meint Farrow, und als P&G Ende der Neunzigerjahre ihr Kader unter dem Fokus der Diversity analysierte, war der Befund eindeutig: Frauen waren im obersten Kader krass untervertreten.
Zu dieser Zeit war die Zahl der weiblichen Hochschulabsolventen bereits auf 45 Prozent aller Studierenden emporgeschnellt – nur wurde diese Quote weder im Topmanagement noch bei den Neueinstellungen auch nur im Entferntesten erreicht. Die Frage drängte sich geradezu auf: Was kann P&G tun, um als Arbeitgeberin für Frauen attraktiver zu werden? Arbeitsgruppen wurden auf die Beine gestellt, um die Antwort zu finden. P&G-Mitarbeiterinnen stapften direkt auf den Campus der Universitäten und luden Studentinnen zu Workshops in die Firma ein. Parallel dazu wurden neue Modelle der Karriereförderung ausgearbeitet: Karrierenunterbruch auf Zeit, Teilzeitarbeitsangebote. Mit einigem Erfolg immerhin: Der Frauenanteil auf Stufe des Topkaders konnte bis auf 30 Prozent erhöht werden.
Eine von diesen Frauen ist Frédérique Reeb-Landry. Die PR-Managerin bei P&G Europa war die erste Frau im obersten Kader, die ihren Job im Teilzeitpensum erledigte. Nach der Geburt des ersten Kindes im Jahre 1997 reduzierte die damals für Kommunikation im pharmazeutischen Bereich verantwortliche Reeb-Landry ihr Pensum auf 60 Prozent. Als zwei Jahre später das zweite Kind zur Welt kam, gehörte die Kaderfrau zu den ersten leitenden Angestellten von Procter & Gamble, die von zu Hause aus arbeiten konnten. Im Jahre 2002 wurde die zweifache Mutter zur Leiterin des Bereichs Kommunikation Food & Beverage Europa befördert; heute ist sie in gleicher Funktion für Snacks weltweit zuständig – mit einem 90-Prozent-Pensum.
Sie arbeite unter angenehmen Bedingungen, sagt sie, von den Kolleginnen und Kollegen fühle sie sich respektiert. «Vielleicht geht alles deswegen leichter», meint sie, «weil die Diversity-Programme auch von den Männern genutzt werden.»
Zum Beispiel von Axel Riemann. Der 33-jährige Wirtschaftsingenieur, seit sieben Jahren bei P&G, hat sich im vergangenen Frühjahr ein dreimonatiges Sabbatical gegönnt und mit seiner Partnerin Südostasien und Südamerika bereist. Kein Einzelfall: In Teilzeit arbeitende Männer und Väter, die sich nach der Geburt eines Kindes eine Auszeit nehmen, sind in seinem Arbeitsumfeld einige anzutreffen. Riemann schätzt diesen unkomplizierten Umgang der Firma mit den individuellen Bedürfnissen der Angestellten. Für den Jungmanager ein starkes Argument, der Firma treu zu bleiben.
Beim Schweizer Ableger des US-Softwaregiganten Microsoft kam der Anstoss, sich zum Thema «Diversity» eigene Gedanken zu machen, aus dem Hauptsitz in den USA. Doch die Schweizer wollten eigene Wege beschreiten, um herauszufinden, was diesbezüglich die Bedürfnisse ihrer Angestellten seien. Die intensive Auseinandersetzung mit Diversity begann durch ein Audit und unter Einbezug der Mitarbeiter. Die dort gewonnenen Ergebnisse wurden im Personalreglement festgehalten. Darin heisst es als Kernaussage in Sachen Diversity: «Die Faktoren, die Menschen nicht beeinflussen können, wie Alter, Geschlecht, Ethnizität, sexuelle Orientierung und Religion werden von Microsoft unterstützt und gefördert, Diskriminierung wird abgelehnt.» Beat Schwab, Human-Resources-Manager bei Microsoft, sieht den Nutzen des Programms zunächst in einem eher nüchternen Zusammenhang: «Umsatzwachstum, Kundenzufriedenheit und Mitarbeiterzufriedenheit», sagt er, «sind miteinander korrelierende Grössen.» Darüber hinaus sieht er in der Diversity aber auch ein Element der strategischen Personalentwicklung, die den Abfluss von Kompetenz und Know-how verhindern soll.
Bei Urs Müller (40), der seit 1993 bei Microsoft arbeitet und bis 1999 das Produktmarketing leitete, ist das gelungen. Hätte ihm die Firma damals nicht die Möglichkeit geboten, in Teilzeit zu arbeiten, um sich mit seiner Frau die Erziehung der Kinder teilen zu können, wäre er heute, wie er versichert, «nicht mehr da».
Inzwischen hat er sein Pensum wieder auf 80 Prozent aufgestockt, und ab nächstem Jahr will er wieder voll arbeiten – mit der Option, erneut eine leitende Funktion einnehmen zu können. Müller hat «nie Diskriminierung erfahren», versichert er, im Gegenteil: «Ich spüre nur Anerkennung.» Auch von einem möglichen Karriereknick eines Teilzeitarbeiters will er nichts wissen. Die Fachkompetenz, sagt er, sei ihm nicht abhanden gekommen und die Sozialkompetenz sei durch die Kindererziehung eher erweitert worden.
Ähnlich ergeht es Maja Sieber, die im Jahr 1997 als PR-Leiterin bei Microsoft einstieg und nach der Geburt der Tochter im Jahre 2001 auf 60 Prozent reduzierte. Genau so wird sie es nach der Geburt des zweiten Kindes halten, das sie im November erwartet. Die 40-jährige Mutter und Berufsfrau schätzt das bilaterale Verständnis für die gegenseitigen Bedürfnisse, das zwischen ihrem Arbeitgeber und ihr besteht. «Rund um dieses Thema gibt es keine Diskussionen», sagt sie, sie fühle sich geschätzt und wisse auch, warum: «Hätte man mir keinen Teilzeitjob angeboten – ich wäre nicht mehr hier angestellt.» An diesem Punkt decken sich die Interessen des Arbeitgebers mit jenen der Microsoft-Angestellten. Ersterer betrachtet die Diversity-Programme als Investition in ein zeitgerechtes Personalmanagement – und davon profitieren Letztere.
Zu den ersten schweizerischen Firmen, die sich mit dem Thema «Diversity» auseinander setzten, gehört der Rückversicherer Swiss Re. Die Fachstelle Diversity Management & Consulting ist aus dem Frauenförderungsprogramm «Taten statt Worte» hinaus gewachsen. Wie oft in der Schweiz hatte man sich auch bei Swiss Re auf Fragen der Frauenförderung und die Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes konzentriert. Die Fachstelle Diversity Management & Consulting ist der Neutralität und Vertraulichkeit verpflichtet. Somit wird sie zu einer Art Frühwarnsystem, das den zuständigen Verantwortlichen direkt informiert.
In dem traditionell sozial ausgerichteten Konzern wird Wert auf die Gleichbehandlung aller Mitarbeitenden gelegt. Behinderte können ihre Bedürfnisse aussprechen; Homosexuelle, die sich outen, werden nicht diskriminiert. Im Senior Management arbeiten bereits sieben Männer in Teilzeit – und trotz reduziertem Pensum machen sie Karriere. «In unserer heterogenen Arbeitnehmerschaft sehen wir unsere Stärke», sagt die Diversity-Verantwortliche Helena Trachsel.
Auch Novartis leistet sich mit Katharina Amacker seit vier Jahren eine Head Diversity in der Schweiz. Auch hier steht die Steigerung der Frauenquote in den Führungspositionen an erster Stelle. Bis 2005, so das Ziel, will die Firma den Anteil von Frauen in Kaderfunktionen auf rund ein Viertel hochgeschraubt haben. Aber die Verantwortlichen sind sich bewusst, dass Diversity einiges mehr umfasst als nur Frauenförderung. Diversity bedeute, dass man sich auch mit Kultur- und Altersunterschieden innerhalb einer Firma beschäftige. Es bedeute ferner, Menschen mit körperlichen Gebrechen in die Arbeitsprozesse zu integrieren. «Mit dieser breiten Definition», sagt Amacker, «haben wir gute Erfahrungen gemacht.»