Unter den Cuisiniers der 19-Punkte-Liga kocht der 44-jährige Philippe Chevrier am sinnlichsten und lustvollsten. Ein Besuch auf der «Domaine de Châteauvieux» im rebengrünen Hinterland von Genf ist ein Fest für Bauch und Kopf. Schon die Taxifahrerin kann sich die Bemerkung nicht verkneifen, man dürfe ein wunderbares Essen erwarten.
Beim Betreten des elegant-rustikalen Herrschaftshauses eilt einem der joviale Koch mit breitem Lachen entgegen. Seine Freude, die Gäste bekochen zu dürfen, erscheint mindestens ebenso gross wie jene der Ankommenden, in diesen Genuss zu kommen. Chevrier hebt sich mit Charisma und dionysischer Fülle markant ab von seinen sportlich-asketischen Kollegen.
Gegessen wird für einmal in der durch eine grosse Glasvitrine einsehbaren Küche. Philippe Chevrier hat neben dem Durchgang zur Pâtissière eine Table d’hôte installiert. Vier Personen finden daran Platz.
Der Tisch ist begehrt und lange im Voraus ausverkauft. Der Grund ist offensichtlich: Dem Zuschauer wird in den nächsten drei Stunden ein grandioses Schauspiel geboten. Es ist, wie wenn man im Mannschaftswagen der Tour de France mitfährt oder im Orchestergraben sitzt und die Musiker und ihre Töne hautnah um sich hat. Ja, das Erlebnis ist noch intensiver, denn man ist nicht nur Beobachter der hochkomplexen Abläufe in dieser Küche, in der die vielköpfige Brigade wie ein perfekt geschmiertes Uhrwerk ineinander greift. Man degustiert und isst, gibt sich ganz dem Genuss hin und versucht gleichzeitig – begleitet von den auf und
ab wogenden Küchengeräuschen, diesem ewigen Zischen, Klappern, Rufen und Schreien –, der Raffinesse der Gerichte intellektuell auf die Schliche zu kommen.
Da frappieren zunächst die Amuse-bouches: das Foie- gras-Parfait im Eierbecher mit Feigen oder das Topinambursüppchen mit knusprigen Milken und Kastanien.
Die Vorspeisen ziehen wie im Schlaraffenland an einem vorbei, eine köstlicher als die andere. So zum Beispiel der knackige bretonische Hummer auf einem sämigen Risotto mit Albatrüffeln. Oder der gebratene Rouget mit kleinen Muscheln auf einem Seeigelfonds. Wie aus einem Guss alles, basierend auf den besten Produkten, auf präziser, virtuoser Zubereitung und einer sinnlichen Präsentation.
Plötzlich ein Schlag, das Licht fällt aus, die Maschinen und Apparate verstummen. Chevriers Bariton stösst einen Fluch aus. Mitten im Service bricht als Spätfolge eines vortäglichen Gewitters die Stromversorgung zusammen. Nach dem ersten Erschrecken arbeiten die Köche im Licht von Taschenlampen weiter, profitieren von der Restwärme.
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Die Temperatur steigt, die Gerüche werden intensiver, doch bevor der Notgriff zum Bunsenbrenner erfolgt, ist die Panne behoben, und der Hauptgang wird serviert – Gämsrücken aus dem Ofen mit einem Jus aus schwarzem Pfeffer und altem Armagnac, Gämsgehacktem auf Kartoffelpüree und einer Vielzahl feinster Gemüse, die wie eine Platte von Friandises zum Naschen dargeboten werden.
Die eigentlichen Süssigkeiten, die üppigen, aufwändigen, traumhaften Desserts, lässt man sich dann im Saal auftischen. Chevriers Köche putzen bereits für den Abendservice. Der Kontrast könnte nicht grösser sein: Das Servicepersonal, das man in der Küche gleichsam auf Du und Du erlebt hat, rückt wieder in die gewohnte akkurate Rolle. Die ins Taumeln geratenen Sinne finden peu à peu zur Ruhe zurück. Langsam klingt der Nachmittag in einem Decrescendo wohlig aus.