Es waren nur 750 Meter. Als Urs Burkard, der Chef der Familie, die den Baukonzern Sika kontrolliert, Anfang März zu einer Präsentation in der Zürcher Börse weilte, bat ihn Ethos-Präsident Dominique Biedermann zu einem Gespräch. Das Zürcher Büro der Anlagestiftung befindet sich in der Gessnerallee, gerade zehn Minuten Gehdistanz von der Börse entfernt. Und so machte sich der Herr über 17'000 Mitarbeiter und 5,5 Milliarden Franken Umsatz auf den Weg, weil ihn der Präsident über gerade 16 Mitarbeiter und 5 Millionen Umsatz gerufen hatte.
Für Biedermann war das standesgemäss. Der 58-jährige Genfer, der nach dem Ökonomie-Doktorat als einfacher Mitarbeiter bei einer Pensionskasse des Kantons Genf begonnen hatte und 1997 die Anlagestiftung Ethos gründete, geniesst die Bedeutung, die er sich über all die Jahre erarbeitet hat. Seit er 2005 den Weltkonzern Nestlé zur Aufgabe des Doppelmandats gedrängt hat, ist er der Star seiner Zunft. Die Mächtigen der Schweizer Wirtschaftswelt empfangen ihn, manche hofieren ihn.
Penibel listet Ethos in ihrer Unternehmensgeschichte auf, wie Biedermann für seine Verdienste die Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg oder den Preis der Landis & Gyr Stiftung erhalten hat. Geschickt und keineswegs uneitel bedient er seit Jahren die Fama des unerschrockenen Kämpfers für Aktionärsrechte, der die Grossen das Fürchten lehrt. Eine der wenigen Heldengeschichten in diesem so heldenarmen Land.
Rote Linie überschritten
Doch Urs Burkard war nicht nach Heldengeschichten zumute. Denn im Fall Sika hat der Ethos-Lenker eine rote Linie überschritten: Erstmals tritt Ethos in einem Streitfall als Nebenkläger auf. Biedermann und sein Team haben sich auf die Seite des Sika-Verwaltungsrats geschlagen, der den Verkauf des Burkard-Anteils von 16 Prozent der Stimmen und 52 Prozent der Stimmrechte an die französische Saint-Gobain mit allen Mitteln verhindern will. Die Verhandlung vor dem Kantonsgericht Zug ist für September geplant, der Entscheid wird im vierten Quartal erwartet. Bisher gab Ethos ihren Kunden, vor allem Schweizer Pensionskassen, nur Empfehlungen, wie sie abstimmen sollten. Jetzt zieht Biedermann selbst in den Kampf.
Entsprechend frostig verlief das Gespräch. «Sie verbünden sich mit Gesetzesbrechern», schleuderte der diplomatisch wenig ambitionierte Burkard seinem Widersacher entgegen. Sika sei eine Schweizer Industrieperle, die nicht in ausländische Hände geraten dürfe, erwiderte Biedermann kühl, und die Familie habe eine soziale Verantwortung gegenüber den Minderheitsaktionären. Burkard liess sich nicht beirren und wiederholte: Der Verkauf sei das gute Recht der Familie und gemäss allen Statuten der Firma und allen Gesetzen des Landes legal. Nach weniger als einer Stunde war das erste und einzige Treffen vorbei.
Bannerträger des Aufstands
Vier Wochen später trat Biedermann an der Sika-Generalversammlung auf und forderte die Abwahl von Burkard und dessen Mitstreitern. Damit ging er deutlich weiter als die Berater von ISS, dem übermächtigen Ethos-Rivalen aus den USA. ISS votierte nicht nur für eine Wiederwahl der Verwaltungsräte um Burkard, sondern verweigerte dem meuternden Verwaltungsrat sogar die Décharge. Biedermann dagegen hat sich zum Bannerträger der Aufständler aufgeschwungen.
Der Zusammenstoss zeigt: Ethos sieht sich nicht mehr nur als Stimmrechtsberater, der gute Corporate Governance und nachhaltiges Investieren einfordert. Biedermann will Industriepolitik machen. Doch damit betritt er gefährliches Terrain. «Wenn wir Ethos mandatiert hätten, wären wir nicht ganz glücklich mit diesem Entscheid», sagt etwa Martin Roth, Leiter Asset Management bei Manor. «Extreme Positionen der Stimmrechtsberater sind unserer Meinung nach eher nicht der Sache dienend.»
Die grossen Schlachten sind geschlagen
Biedermanns Verdienste sind unbestritten. In den nuller Jahren, als die Corporate Governance hierzulande hinterherhinkte, mischte der furchtlose Genfer die Wirtschaft auf. Die Presse liebte ihn, weil er angriffige Zitate lieferte, und der Erfolg war auf seiner Seite. Doch die grossen Schlachten sind geschlagen. Das Doppelmandat, also die Personalunion von CEO und VR-Präsident, ist zwar nicht kategorisch verboten, doch verpönt und im neuen «Swiss Code of Best Practice» geächtet. Und die Chefsaläre sind zwar noch hoch, doch die Zeit der Exzesse ist vorbei, und mit der Annahme der Minder-Initiative ist der Prozess in saubere Bahnen gelenkt, auch wenn der Erfolg debattierbar sein mag.
Jetzt geht es eher um das kleine Geschäft – und da ist Biedermann erstaunlich erfolglos. Bei der CS lehnte Ethos den Vergütungsbericht ab und forderte den Rücktritt des Präsidenten Urs Rohner. Doch die Besoldung wurde mit 79 Prozent angenommen, nach nur 67 Prozent im Vorjahr, und Rohner ist noch im Amt. Bei der UBS wollte Ethos den Revisor abwählen, doch 93 Prozent der Aktionäre waren dagegen. Selbst bei der gebeutelten Zementheirat Lafarge–Holcim lief Ethos auf: Die Empfehlung, die Décharge zu verweigern und die Vergütung abzulehnen, wurde mit über 90 Prozent abgeschmettert.
Rivalen gehen moderater vor
Ethos bestreitet zwar, dass ihre Empfehlungen angriffiger geworden seien: «Unsere Stimmrechtsempfehlungen gegen die Anträge des Verwaltungsrats sind seit Jahren mit 15 Prozent konstant», betont Direktor Vincent Kaufmann. Doch auffällig ist, dass die grossen Rivalen ISS und Glass Lewis deutlich moderater vorgehen: Nicht nur schlägt sich ISS im Fall Sika nicht so eindeutig auf die Seite des Verwaltungsrats wie Ethos, auch sonst geben sich die Amerikaner gemässigter.
An den Vergütungen von Credit Suisse oder UBS etwa hatten sie anders als Ethos nichts auszusetzen. Biedermann erklärt das mit ihrer Befangenheit – auch diese Aggressivität gegenüber der Konkurrenz ist neu. In Interviews greift er ISS direkt an: Einen Teil ihrer Honorare, so der Vorwurf, beziehe ISS von Firmen, über deren Anträge sie abstimme.
Knallharter Wettbewerb
Dieser Interessenkonflikt ist in der Tat stossend. Doch dahinter steht ein knallharter Wettbewerb. Durch die Minder-Initiative sind Pensionskassen zur Abstimmung verpflichtet, und das hat auch bei Ethos das Geschäft angekurbelt. Die Beratung für Pensionskassen bringt heute mehr als die Hälfte des Geschäfts und hat damit die Einnahmen aus der Verwaltung der Ethos-Fonds bei Pictet und Vontobel überholt. Damit ist Ethos zwar unbestritten die Nummer eins unter den hiesigen Stimmrechtsberatern, vor Anbietern wie zRating, Actares oder Swipra. Doch bei den Generalversammlungen vertritt Ethos nur drei bis fünf Prozent der Stimmen, ISS kommt dagegen auf mehr als 20 Prozent: Der Grossteil der grossen Schweizer Firmen ist in der Hand von ausländischen Investoren, die lieber auf ISS setzen.
Allerdings sind die Amerikaner auch professioneller. Das Treffen mit den Burkards etwa fand mit vier ISS-Vertretern statt, auch bei der Burkard-Familie waren vier Vertreter dabei. Systematisch wurden die einzelnen Traktanden abgearbeitet. Das Gespräch zwischen Biedermann und Burkard war dagegen ein informeller Austausch, zumal ja Biedermann seine Meinung längst gemacht hatte: Seinen Auftritt als Nebenkläger hatte er vier Monate vorher lanciert.
Unschlüssige Argumentation
Schlüssig ist seine Argumentation nicht. Die Opting-out-Klausel, die den Burkards den Verkauf ihres Pakets gestattet, ohne den Minderheitsaktionären ein Pflichtangebot machen zu müssen, sei von der Familie «missbräuchlich» angewendet worden, sagte er im November gegenüber der «Schweiz am Sonntag». Das Bundesverwaltungsgericht hatte jedoch schon vorher entschieden, dass die Anwendung vollkommen legal sei, zudem war die Klausel jedem Minderheitsaktionär beim Aktienkauf bekannt.
«Die Familie Burkard hat sozial unverantwortlich gehandelt», beharrt Biedermann heute weiter. Als Begründung nennt er, dass die Übernahme durch Saint-Gobain unvermeidlich einen Arbeitsplatzabbau in der Schweiz bewirke. Doch die Franzosen bestreiten das vehement, und ihre bisherigen Käufe in der Schweiz – der Sanitärhersteller Sanitas Troesch oder der Glasproduzent Vetrotech – sprechen eine andere Sprache.
Und wenn wirklich Heimatschutz Biedermanns Motivation ist: Warum klagt er nicht gegen den Verkauf von Erfolgsfirmen wie Syngenta oder Gate Gourmet nach China? Hier stehen langfristig deutlich mehr Stellen auf dem Spiel.
Verstoss gegen eigene Empfehlungen
Auch in einem anderen Punkt ist der sonst so prinzipienstarke Biedermann erstaunlich zahm. Nach dem Doppelmandat und den Salärexzessen hätte sich ihm eine dritte grosse Schlacht geboten: das Verbot für CEOs, direkt auf den Präsidentenstuhl zu wechseln. In Deutschland ist dieses Verbot gesetzlich verankert, in Grossbritannien heisst es im aktuellen «UK Corporate Governance Code»: «Ein CEO sollte nicht Präsident derselben Firma werden.» In der Schweiz handeln die Bundesbetriebe SBB und Post längst nach dieser Devise.
Doch der Direktor Biedermann ist letztes Jahr selbst direkt auf den Präsidentensessel gewechselt. «In unseren Stimmrechtsrichtlinien ist das grundsätzlich nicht ausgeschlossen», betont er. Ethos verstösst damit aber indirekt gegen eigene Empfehlungen. Laut eigenen Angaben folgt man dem UK Stewardship Code – und dieser wiederum befolgt eben jenen UK Corporate Governance Code, der den fliegenden Wechsel ins Präsidium untersagt.
Ehefrau an Schlüsselstelle
Ein Paradebeispiel für einen publikumswirksamen Kampf wäre etwa Nestlé, wo sich der Wechsel von CEO Paul Bulcke auf den Präsidentensessel abzeichnet. Doch eben: Dieser Weg ist verbaut. Ethos lässt sogar den Sika-Präsidenten Paul Hälg, der den Kampf gegen die Burkards orchestriert, ohne Kritik beim Industriekonzern vom CEO-Posten auf den Präsidentensessel wechseln.
Das Problem eines zu aktiven Präsidenten zeigt sich bei Ethos exemplarisch: Die Aufgabenteilung nach aussen ist unklar, in heiklen Fällen wie Sika oder Calida ist Biedermann der Ethos-Vertreter. Zwar tut er alles, um den neuen Direktor Vincent Kaufmann nach vorne zu schieben: So fand das Gespräch mit «Bilanz» nur unter der Voraussetzung statt, dass Kaufmann auch teilnahm. Doch dann redete fast nur Biedermann. Zudem ist die Nähe zur Leitung gross: Seine Frau Yola ist Mitglied der vierköpfigen Ethos-Geschäftsleitung und leitet dort den wichtigsten Bereich, der die kritischen Empfehlungen festlegt. Vorbildliche Corporate Governance geht anders.
Mit dem Auftritt als Nebenkläger geht Ethos ein hohes Risiko ein: «Es ist eine Ausnahme, weil dieser Fall für die ganze Schweizer Wirtschaft bedeutend ist, dass wir als Nebenintervent im Sika-Gerichtsverfahren auftreten», betont Biedermann. Als Nebenkläger muss sich Ethos bei einer Niederlage an den Kosten des Verfahrens beteiligen. Sie dürften sich auf mehrere Millionen Franken belaufen, für Ethos könnte die Summe mehr als eine halbe Million betragen. Das wäre fast das Doppelte vom letztjährigen Jahresgewinn. Dominique Biedermann riskiert mehr als seine Reputation.