Er strahlte übers ganze Gesicht an diesem Sonntag in der Wandelhalle. Für Valentin Vogt war der 18. Oktober 2015 ein guter Tag. Plus elf Mandate für die SVP, plus drei für die FDP. Damit eroberten die beiden bürgerlichen Fraktionen in der grossen Kammer 101 Sitze – sprich: die Mehrheit. Der Präsident des Arbeitgeberverbands sah ein neues bürgerliches Zeitalter anbrechen für diese Legislatur. «Eine der wichtigsten überhaupt.» Er sprach davon, dass das Steuer herumgerissen werden müsse.
Alles würde wieder gut werden, wie früher. Eveline Widmer-Schlumpf würde abtreten und die SVP wieder zwei Sitze in der Landesregierung erhalten. Das jedenfalls forderte im Nachgang der Wahlen auch Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer. Das bessere Abschneiden der «wirtschaftsfreundlichen Kreise» stimmte auch ihn «sehr zuversichtlich».
Leben in einer Art Filterblase
Fazit nach rund eineinhalb Jahren: Die Verbände – allen voran Karrers Economiesuisse und Vogts Arbeitgeberverband – haben sich so ziemlich bei jedem relevanten Dossier verdribbelt, die Tore haben die Gegner geschossen. Und was sie besonders schmerzen muss: Nicht selten gingen ihre «Intimfeinde», SP-Chef Christian Levrat und Gewerkschaftsbund-Präsident Paul Rechsteiner, als Sieger vom Platz. Bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative ebenso wie bei der Steuerreform (USR III) und der Altersvorsorge.
Was läuft schief? Vieles. Die Wirtschaftsverbände leben in einer Art Filterblase, in einem selbstreferenziellen System. Oder wie FDP-Chefin Petra Gössi im «Blick» mit Bezug auf Economiesuisse festhielt: «Sie haben reichlich Geld, aber viel vom Gespür verloren, von wo der politische Wind weht.» Die Gesellschaft und die Politik haben sich in den letzten zwanzig Jahren massiv verändert, doch die Verbände stehen still. Hors-sol, von der Zürcher Hegibachstrasse 47 aus, versuchen sie in Bern mitzumischeln – und scheitern.
Kein Gehör für das «Grundrauschen»
Und sie haben kein Gehör für das «Grundrauschen» in der Gesellschaft und der Politik. Denn wenn sie es hätten, wären sie alarmiert. Dann würden sie verstehen, dass die Zukunft für wirtschaftspolitische Vorlagen düster aussieht. Dass die Niederlagen bei den Abstimmungen gegen die Abzockerei, die Zuwanderung und tiefere Unternehmenssteuern nicht unglückliche «Einzelfälle» sind, sondern ein Muster ergeben. Dabei müssten sie nur ihre eigenen Unterlagen lesen oder diesen mehr Gewicht geben.
Da steht alles drin: Im Protokoll des «Steering Committee USR III» vom 19. September 2016 zitiert Economiesuisse-Kampagnenchef Roberto Colonnello aus «zwei Fokusgruppengesprächen», aus denen klar geworden sei, «dass die Bevölkerung keine zusätzlichen Unternehmen mit zusätzlicher Zuwanderung will». Aber darauf geht niemand näher ein. Im Gegenteil: Als Nächstes will am besagten Treffen Economiesuisse-Direktorin Monika Rühl «wissen, wann der optimale Abstimmungstermin ist», wie aus dem vertraulichen Protokoll zu entnehmen ist, aus dem als Erster der «Bund» zitiert hat.
Keine zusätzlichen Unternehmen und keine zusätzliche Zuwanderung: Das steht in fundamentalem Widerspruch zur bewährten Schweizer Wirtschaftspolitik, die mit tiefen Steuern, guter Infrastruktur und Spitzenhochschulen internationale Konzerne anzulocken versucht, die wiederum einen wichtigen Beitrag zum hiesigen Wohlstandswachstum beitragen.
Der Claim bleibt unerhört
Economiesuisse-Lenker Karrer anerkennt, dass er mehr tun muss, als «nur» traditionelle Abstimmungskampagnen zu führen. Er verweist auf die Initiativen, die unter seiner Präsidentschaft bereits ins Leben gerufen wurden, wie etwa die virale Kampagne zur Europapolitik «stark + vernetzt», die zitierten Fokusgruppengespräche sowie die Treffen zwischen Wirtschaft und Bevölkerung – beim Bier oder beim Wandern. «Wir werden diese Aktivitäten verstärkt fortsetzen», sagt Karrer.
Doch richtig verfangen wollen sie nicht. «Die Wirtschaft», das sind nicht die Menschen im Land. So lautet jedenfalls eine Erkenntnis aus Fokusgruppengesprächen eines Branchenverbands. «Die Wirtschaft», das sind anonyme Grosskonzerne und «Economiedingsbums», wie es ein Teilnehmer formulierte. Der Claim des Dachverbands, «Die Wirtschaft, das sind wir alle», bleibt also unerhört.
Kritik hinter vorgehaltener Hand
Und weil vieles schiefläuft, stehen jetzt Karrer und Rühl unter Druck. Hinter vorgehaltener Hand werden beide von vielen Politikern und einzelnen Managern gleichermassen als führungsschwach und als Fehlbesetzungen kritisiert. «Karrer ist ein Moderator, aber im Krieg braucht es einen General», sagt einer. Öffentlich verlangt jedoch nur SVP-Nationalrat Ulrich Giezendanner ihren Rücktritt. Er hat eine kleine Gruppe von Unternehmern um sich geschart, wie er betont.
Während er im Vordergrund Lärm macht, bleiben seine Mitstreiter im Dunkeln. Die Wirtschaftsverbände und die anderen bürgerlichen Parteien wissen nicht so recht, wie ernst sie die Attacken des SVP-Fuhrhalters nehmen sollen. Sicher ist: Seine Partei ist nachtragend. Sie hat Monika Rühl nie verziehen, dass sie im Herbst 2014 auf die Frage, ob die SVP eine Wirtschaftspartei sei, mit «Jein» geantwortet hat. Und sie nimmt Karrer übel, dass er letztlich die aktuelle Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative unterstützt und sich dem Kampf gegen die Energiestrategie nicht angeschlossen hat.
Giezendanner meint es ernst, wie er beteuert: «Karrer und Rühl müssen weg. Economiesuisse ist heute ein Managerclub, wir brauchen wieder Leute mit unternehmerischem Flair an der Spitze des Verbands.» Karrer jedoch denkt nicht an Rücktritt. Und er wird Anfang Mai Giezendanner treffen, wie er alle trifft, mit allen redet, immer freundlich ist.
Im Visier der SVP
Die Frage ist: Steckt hinter Giezendanners Auftritt mehr? Ein Plan zum «Unfriendly Take-over», wie es ein Freisinniger formuliert? Dass die SVP durchaus fähig ist, einen Verband zu «übernehmen», hat sie beim Gewerbeverband vorexerziert. Anfang 2008 ging die Volkspartei zum Angriff über und forderte öffentlich, dass der Verband wieder zu einer Kampforganisation wie zu Otto Fischers Zeiten umgebaut werden solle. Der Plan ist aufgegangen: Das Präsidium ging in SVP-Hand über, zuerst an Bruno Zuppiger, dann an Jean-François Rime. Und mit Hans-Ulrich Bigler übernahm ein Mann das Direktorium, der zwar ein FDP-Parteibuch besitzt, aber einen unzimperlichen SVP-Politstil pflegt.
Bigler, der Mann fürs Grobe, hat immer einen flotten Spruch parat. Eine Niederlage wie bei der Steuerreform steckt er locker weg und geht beim nächsten Dossier wieder voll auf Angriff über – während Karrer und Rühl öffentlich Busse tun. Economiesuisse hat auch eine «fundierte Analyse durch eine externe Persönlichkeit» in Auftrag gegeben, wie Karrer ausführt. Das Resultat soll Ende April vorliegen.
Immer die gleichen Phrasen
Das klingt gut, aber auch nicht neu. Bereits nach den Niederlagen bei der Abzocker- und der Zuwanderungsinitiative ging der Verband über die Bücher. Betonte, dass der Graben zwischen «Wirtschaft, Politik und Gesellschaft» wieder zugeschüttet werden müsse. Es sind immer die gleichen Phrasen – schon Karrers Vorvorgänger Gerold Bührer sagte: «Für mich zeigt das Abstimmungsresultat das Vertrauenstief, in dem Wirtschaft und Politik wegen der Finanzmarktkrise stecken.» Das war 2010, nach dem wuchtigen Nein zur Senkung des Umwandlungssatzes.
Der Druck auf Karrer bleibt also hoch, umso mehr, als er auch bei seiner eigenen Klientel in der Kritik steht, etwa wegen des Kuoni-Debakels oder der Altlasten bei der Axpo. Aber keiner steht hin und will seinen Job übernehmen, obwohl dieser mit rund 400'000 Franken gut entlöhnt wird. Mit der Kritik wird zudem dessen Standing auch bei den Politikern untergraben. Wieso sollen diese die Verbände noch ernst nehmen, wenn deren eigene Mitglieder es nicht tun? «Die Parole von Economiesuisse ist (...) nicht relevant», sagte etwa der FDP-Nationalrat und Unternehmer Peter Schilliger der «NZZ» in Bezug auf die Energiestrategie.
Unzufriedene Politiker
Irrelevant, dogmatisch, politisch unsensibel, abgekoppelt, arrogant: Das sind die Negativurteile, die man in der Wandelhalle am meisten hört, wenn man mit Politikern über die Wirtschaftsverbände spricht. FDP und CVP haben das Chaos, das Arbeitgeberverband und Economiesuisse rund um die Umsetzung der Zuwanderungsinitiative veranstaltet haben, noch nicht verdaut. Mit grossem Unverständnis beobachteten CVP und SP, wie der Arbeitgeberverband die Freisinnigen bei der Altersvorsorge ins Offside manövrierte. Und die Linken wissen, dass sie von den Verbänden ohnehin nicht ernst genommen werden. Auch wenn Karrer mit allen redet – auch mit ihnen. Doch die grundlegende Skepsis tritt immer wieder zutage, etwa wenn die Verbände zu ihrem Parlamentarieranlass im «Bellevue» nur bürgerliche Politiker einladen – und SP-Nationalrätin Jacqueline Badran abweisen.
Das bewährte Rezept der Verbände – Wunschliste nach Bern schicken, die bürgerlichen Parteien einpeitschen und dann aufs gewünschte Resultat warten – funktioniert nicht mehr. Bundesbern ist pluralistischer geworden, komplizierter. «Das Karussell dreht sich immer schneller», sagt CVP-Nationalrat und Bauernverband-Präsident Markus Ritter. «Aber davon bekommt man ausserhalb des Parlamentes oft nichts mit. Viele Organisationen sind zu weit weg von den Informationen und den Befindlichkeiten. Die muss man spüren können.»
Und so verpassen sie regelmässig den entscheidenden Moment, in dem sie eingreifen müssten, um das Geschäft in eine Richtung zu drehen, die am Schluss auch mehrheitsfähig ist. Deshalb plädieren nicht wenige dafür, dass der Economiesuisse-Präsident selbst im Parlament sitzen müsste. Was aber wiederum die Zusammenarbeit über alle Parteien hinweg erschweren könnte.
Direktor versus Präsident
Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler ortet das Problem anderswo: bei der internen Organisation von Economiesuisse und Arbeitgeberverband. Die operative Verantwortung wird zunehmend von den Vorstandsgremien wahrgenommen. Früher waren die Direktoren die starken Persönlichkeiten, heute dominieren wegen des Rollentauschs die Präsidenten das Tagesgeschäft. Rühl und Arbeitgeberdirektor Roland Müller werden in den Hintergrund verdrängt. Ein Fehler, sagt Bigler. «Die Führung des Tagesgeschäfts muss beim operativen Chef sein. Dieser ist näher am Puls des Geschehens.»
Karrer und Vogt sehen das anders, betonen die unterschiedlichen Rollen von Präsident und Direktor und stellen beide in Abrede, dass Rühl und Müller ins zweite Glied versetzt sind. «Gemeinsam erzielen wir eine deutlich höhere Wirkung im Ziel», sagt Vogt, der als Präsident etwa ein Pensum von 50 Prozent absolviert – und das pro bono.
Unterschiedliche Interessen
Wer auch immer der Chef ist, eines ist klar: Die Führung von Economiesuisse ist schwierig. Nicht weniger als 70 (!) Personen sitzen im Vorstand – mit unterschiedlichsten Interessen: Da treffen Werkplatz auf Finanzplatz, Binnenwirtschaft auf exportorientierte Branchen, kantonale Handelskammern auf global agierende Konzerne. Hinzu kommt die Konkurrenz der anderen Verbände. Der Arbeitgeberverband ist unter Vogt aggressiver geworden, der Gewerbeverband unter Bigler sowieso. Nicht am Tisch sitzen die Start-ups. «Economiesuisse ist ein Verband der Gegenwart, nicht der Zukunft», sagt ein bürgerlicher Wirtschaftspolitiker.
Auch so tut sich der Verband schwer, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Bei der Energiestrategie musste er Forfait geben. Was ihm prompt wieder neue Kritik beschert hat. Der Tenor: So macht sich Economiesuisse definitiv überflüssig. Karrer verteidigt sich und betont, dass dies erst das zweite Mal in den letzten vier Jahren sei, dass in einem Kerngeschäft «bewusst» auf eine Parole verzichtet wurde. Das erste Mal war es beim Freihandelsabkommen mit Indien, wo der Verband vom Bundesrat um eine Meinung angefragt wurde. Und dann keine abgeben konnte.
Nächsten Zerreissproben drohen
Regelmässig, nach jeder Abstimmungsniederlage, kommt auch wieder die Frage aufs Tapet, ob der Dachverband wieder aufgesplittet werden soll: in einen Lobbyverband und eine Kampagnenorganisation. Also die Frage, ob man zurück soll in die Zeit vor 2000, ins Zeitalter des Vororts und der Wirtschaftsförderung. Nach dem Motto: Zurück in die Vergangenheit, um die Probleme der Zukunft zu lösen. Karrer entgegnet, dass die Kampagnenführung bereits seit Mitte 2014 «intern» abgespaltet sei. Einer vollständigen Auslagerung steht er eher skeptisch gegenüber, umso mehr, als Lobbying und Campaigning nicht mehr so einfach zu trennen sind.
Die nächsten Zerreissproben drohen – bei der Neuaufgleisung der Steuerreform, der Abstimmung über das Vorsorgepaket, bei der «Raus aus der Sackgasse»-Initiative. Und vor allem bei der Konzernverantwortungs-Initiative, welche die hier domizilierten Firmen dazu verpflichten will, auch international gewisse Umwelt- und Menschenrechtsstandards einzuhalten.
Das Volksbegehren versetzt Unternehmen und Verbände schon heute in Panik. Um sicherzugehen, dass es diesmal keine bösen Überraschungen gibt, haben Economiesuisse und Swiss Holdings (SH) entschieden, bei dieser Kampagne «Hand in Hand» zu arbeiten, wie einem SH-Protokoll vom 22. September 2016 zu entnehmen ist. Darin ist auch zu erfahren, dass die «Wirtschaftsverbände ein Renaming auf ‹Konzern-Initiative› beschlossen» und eine «High-Level-Gruppe» eingesetzt haben, die bei Peter Böckli ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben hat.
Misstrauensvotum
Die starken Männer in dieser «High-Level-Gruppe» sind Novartis-Rechtschef Felix Ehrat und Holcim-Schweiz-Präsident Kaspar Wenger. Die Gründung dieser Begleitgruppe sei ein Zeichen von Misstrauen gegenüber Economiesuisse, wie ein Involvierter erzählt. Konkret: Man habe Angst, dass Economiesuisse auch diese Abstimmung verliere. Während Karrer also aussen vor steht, ist Bigler mit an Bord. Die Strategie der Gruppe ist noch unklar: Einige tendieren dazu, einen indirekten Gegenvorschlag zu unterstützen und so die Initianten zu einem Rückzug zu veranlassen, andere wollen das Anliegen an der Urne – wohl im Wahljahr 2019 – bodigen. Ein sicher nicht ganz einfaches Unterfangen.
Heinz Karrer wartet ab, was die von ihm in Auftrag gegebene Analyse bringt. Und er will den eingeschlagenen Weg weitergehen. Zum Beispiel mit einem «Stammtisch der Wirtschaft». Ihm bleibt nur die Hoffnung, dass seine Bemühungen fruchten.