BILANZ: Sie treten nach sechs Jahren als Präsident ab. Ihre grösste Innovation bei Economiesuisse?
Gerold Bührer: Die grössten Innovationen werden oft in Krisen geboren. So war es auch bei uns. Die 2007 erarbeitete neue Strategie war sicherlich die grösste Innovation für den Dachverband der Schweizer Unternehmen.
Als Sie das Präsidium 2006 übernahmen, war die wichtigste Wirtschaftslobby ein zerstrittener Haufen.
Als ich anfing, war der Graben Finanzplatz–Werkplatz akut. Für mich war klar: Wir müssen aus dem internen Konflikt herauskommen, uns auf eine gemeinsame Linie verständigen. Als Parlamentarier wusste ich: Wer in der Politarena nicht geeint auftritt, wird nicht ernst genommen.
Einigkeit müsste selbstverständlich sein.
War sie aber nicht. 2007 setzten wir eine Strukturreform um, die strategische und statutarische Änderungen nach sich zog, auch die Beitragsordnung wurde angepasst. Das tönt vielleicht papieren, erzeugte aber viele positive Effekte nach innen wie nach aussen. Die Reihen wurden geschlossen, die Schlagkraft gegen aussen vergrössert. Auch die Entscheidungsprozesse haben wir verbreitert und klar strukturiert.
Vorher entschieden ein paar Alphatiere?
Nein, aber das war zumindest die Perzeption. Wir mussten dafür sorgen, dass die diversen Mitgliederverbände wieder das Gefühl hatten, sie sässen auch am Tisch, an dem Entscheide fallen, und nicht abseits am Katzentisch. Gleichzeitig haben wir die Kosten um 25 Prozent heruntergefahren, haben gezielt gespart, auch beim Personal. Das gelang dank der Konzentration aufs Kerngeschäft.
Steht die Wirtschaftslobby heute stärker da?
Dass wir geschlossen auftreten, wird in Bern klar registriert. Dank der Anpassung der Entscheidungsprozesse hat sich auch die Diskussionskultur im Innern verbessert. Heute pflegen wir eine offene Auseinandersetzungskultur. Es wird nicht einfach bestimmt und abgenickt.
Als dieser Konflikt im Wirtschaftsverband hochkochte, florierten der Finanz- und der Werkplatz. Nun serbelt die Finanzindustrie, und der Werkplatz ist unter Druck – trotzdem geht man nicht mehr aufeinander los. Was ist los?
Ich glaube, das ist auch eine Frucht der erwähnten Massnahmen, die wir nun ernten können. Wenn wir nicht die Reformen und ein paar neue Köpfe gehabt hätten, wäre der Konflikt Werkplatz–Bankenplatz spätestens mit der UBS-Krise wieder ausgebrochen.
Die Politik bot Hand zur Rettung der UBS.
Klar waren die Finanzkrise und der UBS-Fall eine grosse interne Belastung. Doch die internen Diskussionen wurden sachlich geführt, es gab keine Diadochenkämpfe oder Stellungskriege mehr.
Als die Nationalbank die 1.20-Untergrenze zum Euro einführte, flackerte der Konflikt wieder auf: Hier die Spekulanten, die auf den Euro-Niedergang hoffen, dort die Exportindustrie, die auf einen schwachen Franken baut.
Selbst in dieser angespannten Diskussion brachen keine alten Gräben auf. Es war intern allen klar, dass die von den Gewerkschaften geforderten 1.40 Franken nicht realistisch gewesen wären; das sah auch die Exportbranche. Die 1.20 Franken waren als mittlere Marke in breiten Kreisen akzeptiert. Ich kenne jedenfalls keinen Exponenten von Economiesuisse, der einen markant höheren Kurs gefordert hätte.
Wir schon: Sie.
Stimmt nicht. Ich habe nie gesagt, der Frankenmindestkurs gegenüber dem Euro müsste markant höher sein. Vor der Festlegung einer Untergrenze von 1.20 habe ich gesagt, 1.15 bis 1.20 sei realistisch.
Am 6. September 2011, kurz nach der Mindestkurs-Festlegung durch die Nationalbank, sagten Sie im Interview: «Wir alle wissen, dass der Eurokurs gemessen an der Kaufkraftparität bei 1.35 bis 1.40 liegt. Von diesem Punkt aus gesehen, ist 1.20 noch nicht ausreichend.»
Ja, dass gemäss Kaufkraftparität der Kurs über 1.30 sein müsste, ist eine rechnerische Feststellung. Daraus habe ich aber nie eine Forderung nach einer höheren Untergrenze abgeleitet.
Bricht die Eurozone zusammen? Von welchem Szenario gehen Sie aus?
Ich bleibe sehr, sehr pessimistisch für Europa. Die Wahrscheinlichkeit, dass Griechenland in der Eurozone bleibt, halte ich für klein. Für mich ist der Austritt primär eine Frage der Zeit. Der Effekt auf das Bruttoinlandprodukt innerhalb Europas könnte in Grenzen gehalten werden. Was mich mehr beschäftigt, ist eine dreifache Krise: Wir haben eine Krise der mangelnden wirtschafts- und finanzpolitischen Kohärenz. Die Rezepturen der Regierungen sind sehr unterschiedlich. Dann haben wir die grösste Verschuldungskrise der letzten 100 Jahre, grösser als jene in der Depression der dreissiger Jahre, grösser als im Zweiten Weltkrieg. Wenn wir die implizite Staatsverschuldung aus den Vorsorge-Einrichtungen dazuzählen, liegt die Verschuldung massiv über 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Drittens sehe ich keine Einigkeit bezüglich einer marktwirtschaftlichen Wachstumsstrategie.
Die Folgen?
Europa bleibt über längere Zeit lädiert. Ich sehe während Jahren eine Kriechspur bezüglich Wachstum, und ich befürchte eine hohe politische und soziale Instabilität. Selbst wenn der Worst Case nicht eintrifft und die Brandmauern zu Italien und Spanien halten.
Und wenn die Brandmauern nicht halten?
Dann wäre die Eurozone in der aktuellen Form nicht mehr zu halten. Mit massiven Folgen für die Schweiz. Wir sitzen im Herzen Europas und wären schwer betroffen. Trotz den Währungsturbulenzen und Wachstumsschwächen steht die Schweiz derzeit sehr gut da. Von 2007 bis 2011 sind 220 000 neue Vollzeitstellen geschaffen worden, das sind sieben Prozent der Arbeitsplätze.
Weshalb dieses Wachstum?
Das Unternehmertum hat die Aufgaben insgesamt sehr gut gemeistert, bezüglich Kosten, Innovationen, vor allem aber bezüglich geografischer Diversifikation. 2012 werden die Ausfuhren in nichteuropäische Länder gegen 45 Prozent der Exporte ausmachen. Als ich studierte, gingen 70 Prozent der Exporte nach Europa. Bezüglich Direktinvestitionen sind es sogar 60 Prozent, die ausserhalb von Europa liegen. Nicht nur Uhren-, Maschinen- und Pharmaindustrie, auch andere Branchen wachsen stark ausserhalb Europas. Wie kaum ein anderes Land haben wir eine hohe Durchdringung durch multinationale Konzerne. Sie leisten 30 Prozent der Wertschöpfung, dazu gehört eine leistungsstarke Zulieferindustrie aus dem KMU-Bereich.
Was macht die Schweiz derart stabil?
Die Schuldenbremse, bei der ich im Parlament unter der Ägide von Bundesrat Kaspar Villiger mitwirken durfte, hat wesentlich für Stabilität und Vertrauen gesorgt. Es werden nicht plötzlich neue Steuern eingeführt.
Was lässt sich verbessern?
Bei den wirtschaftspolitischen Reformen glänzen wir seit einiger Zeit nicht gerade, da sind wir etwas selbstgefällig geworden: Die AHV- und die Gesundheitsreform stocken, der Postmarkt wurde nur sehr zögerlich geöffnet, eine Marktöffnung des Agrarhandels ist blockiert, und die Unternehmenssteuerreform bleibt in der Schublade. Verschiedene Liberalisierungsschritte sind stecken geblieben.
Hat sich das die Wirtschaft nicht selber zuzuschreiben?
Ja, die Reputation der liberalen Marktwirtschaft ist im Westen beschädigt. Wegen Lohnexzessen in der Finanzbranche und Staatsinterventionen zur Rettung von Firmen ist die Marktwirtschaft in die Defensive geraten. Die Interventionsfreude selbst von bürgerlichen Regierungen ist sehr erstaunlich.
Was ist zu tun, um wieder mehr Reformeifer hinzukriegen?
Um die Reformbereitschaft und die Marktwirtschaft aus der Defensive zu bringen, müssen wir die Grundstimmung kehren. Es braucht nicht nur einen guten Leistungsausweis – den haben wir –, wir müssen die Marktwirtschaft als bestmögliche Ordnung zur Gewährleistung von Wohlstand und Freiheit wieder stärker unternehmerisch besetzen. Dies ist für mich die grösste Herausforderung.
Hat das Spitzenpersonal der Firmen mit seinem Verhalten der Marktwirtschaft nicht fast irreparabel geschädigt?
So dramatisch sehe ich es nicht. Aber es ist schon so: Obwohl sich die Marktwirtschaft wie keine andere Wirtschaftsordnung bewährt hat und obwohl sie seit dem Zweiten Weltkrieg breiten Wohlstand brachte, ist ihr Image beschädigt. Wir haben in der Schweiz über 300 000 Firmen, die ganz grosse Mehrzahl ist eine Erfolgsstory. Doch ein paar schwarze Schafe sind medial dermassen präsent, dass sie die Perzeption der Unternehmen insgesamt beschädigen. Hier müssen wir stärker ansetzen.
Mehr PR genügt?
Wir müssen unsere Leistungen besser hinüberbringen. Wir müssen es schaffen, wieder eine positive Grundstimmung zu kreieren. Da besteht eine Bringschuld des Unternehmertums. Die Verantwortung hört nicht am Werktor auf.
Ist Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann, Ihr FDP-Kollege, der richtige Mann, um die mentale Verfassung aufzuhellen?
Ja, er kommt authentisch herüber. Im Ausland kommt er mit seiner soliden, zuverlässigen Art gut an. Gerade in den asiatischen Ländern. Er steht für Swiss Quality, für Vertrauen, für Solidität.
Wir reden von der Schweiz.
In der Öffentlichkeit kommt er als glaubwürdige Persönlichkeit herüber, die unternehmerische Erfolge ausweisen kann. Er wird nicht als Blender wahrgenommen, sondern als bodenständig, sympathisch.
Wären Sie nicht der bessere Verkäufer? Sie wurden mehrmals als Bundesratskandidat gehandelt.
Nein. Ich bin glücklich, dass ich den Wirtschaftsverband Economiesuisse sechs Jahre präsidieren durfte. Ich war 30 Jahre in der Politik und in der Verbandspolitik, das genügt. Ich bin nun 64-jährig und möchte mich künftig mehr um meine VR-Mandate, insbesondere bei Swiss Life und bei Georg Fischer, kümmern. Zusätzliche Mandate suche ich nicht. Und ich möchte wieder mehr Zeit für private Dinge haben. Politik ist zeitraubend geworden. Heute ist die politische Landschaft viel fragmentierter. Früher musste ich mit CVP, SVP und der FDP reden. Heute kommen vor allem die Grünliberalen und die BDP dazu. Auch intern braucht es bei heiklen Geschäften heute mehr Zeit, um Geschlossenheit zu gewährleisten. Man kann nicht einfach eine Mail verschicken und glauben, es sei dann alles auf Kurs.
Ihrem Nachfolger, Rudolf Wehrli, fehlt Ihre politische Erfahrung. Geht das gut?
Sicher. Er war sechs Jahre Präsident des Verbandes der pharmazeutischen und chemischen Industrie und kennt den Dialog mit der Politik. Zudem sass er mehrere Jahre im Vorstandsausschuss von Economiesuisse. Mit Direktor Pascal Gentinetta wird Rudolf Wehrli ein sehr gutes Gespann bilden.
Sind Wehrli und Gentinetta «Arena»-tauglich?
Wehrli ist der abgeklärte Patron, Gentinetta der jüngere Kämpfer. Beide kommen gut herüber.
Die Aufgaben im Präsidium sind grösser und komplexer, trotzdem will Wehrli das Pensum reduzieren.
Ich habe pro Woche 25 bis 30 Stunden für das Präsidium eingesetzt. Wehrli wird einen Teil der Aufgaben an Direktor Pascal Gentinetta delegieren können, der sich auf ein kompetentes und motiviertes Team abstützen kann.
Der angekündigte Atomausstieg wird eine der grossen Herausforderung der Unternehmer. Sie gelten als letzter Mohikaner.
Weshalb?
Weil Sie an der Atomkraft festhalten.
In den nächsten Jahren wird die Akzeptanz für den AKW-Ersatz durch herkömmliche Atomkraftwerke in der Schweiz fehlen. Diesen Punkt sehen wir wie der Bundesrat. Und auch wir sind offen gegenüber neuen Technologien. Wir sind, um das klar zu sagen, nicht mit der Atomindustrie verheiratet. Unsere Strategie hat vier Zielsetzungen: Wir kämpfen für Versorgungssicherheit, für konkurrenzfähige Energiepreise, für einen umweltverträglichen Energiemix, und wir wollen nicht noch mehr Klumpenrisiken. Diese Vorgaben sind im Interesse der Schweizer Wirtschaft und der Arbeitsplätze entscheidend. Hier sehen wir bezüglich der Machbarkeit der bundesrätlichen Energiestrategie Probleme.
Sie sind also anderer Meinung.
Ja. Dem Bericht der Regierung fehlte im Mai 2011 die Solidität. Da hat man zwischenzeitlich etwas korrigiert. Ich greife nur einen Punkt heraus: Ich halte vor dem Hintergrund von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum eine Reduktion der Energienachfrage bis 2050 um 30 Prozent für unrealistisch. Da hat man den Leuten ein X für ein U verkauft. Und man müsste ehrlicherweise sagen: Wenn wir aus der Atomenergie aussteigen, wird das klimapolitisch einen Einfluss haben. Wir werden vorübergehend nicht ohne ein Mehr an Gaskombi-Kraftwerken auskommen.
Stört es Sie nicht, dass der Wirtschaftsminister den Ausstieg für möglich hält?
Es liegt nicht an mir, dem Bundesrat Verhaltensregeln zu erteilen, und wie er denkt, möchte ich nicht an die grosse Glocke hängen. Grundsätzlich bin ich dafür, dass in einem Gremium – in einem Verwaltungsrat oder im Bundesrat – um Überzeugungen gekämpft wird. Aber es ist schlecht, wenn diese Kämpfe in der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Wenn sich der Bundesrat wie vor ein paar Jahren im Schaufenster bekämpft, ist das dem Vertrauen nicht dienlich. Aber ich will auch keinen Kuschel-Bundesrat.
Sie sitzen im Bankrat der Nationalbank. In der grössten Krise der Bank, bei der Absetzung von Philipp Hildebrand, hat man nichts von Ihnen gehört.
Ich muss nicht zu allem in der Öffentlichkeit etwas sagen. Auch ich bin an die Vertraulichkeit gebunden. Der Bankrat ist ein Gremium, das sich um die Corporate Governance der Nationalbank kümmert. Das Direktorium wiederum agiert gemäss Verfassung in geldpolitischer Unabhängigkeit. Das Direktorium darf keine Direktiven von aussen entgegennehmen. Wenn ich also zur Notenbank rede, tue ich das als Präsident von Economiesuisse und nicht als Bankrat.
Wie lange kann die SNB die Euro-Untergrenze von 1.20 Franken halten?
Ich gehe klar davon aus, dass diese Untergrenze Bestand haben wird. Wir sind europaweit in einer schweren Krisensituation, die noch einige Zeit dauern wird. Es gibt in dieser Lage zwei Optionen: nichts tun oder eingreifen. Hätte die Nationalbank am 6. September 2011 nichts gemacht, wäre der Euro vermutlich unter Parität gefallen – und die Auswirkungen auf unsere Volkswirtschaft wären dramatisch. Sie hat sich für eine Intervention entschieden und eine Euro-Untergrenze eingeführt. Ich unterstütze dieses Vorgehen nach wie vor.
Gibt es Grenzen für Devisenkäufe?
Theoretisch gibt es keine Grenzen, die Notenbank kann über die 400 Milliarden hinaus für weitere Hunderte von Milliarden Devisen kaufen.
Bis auf 4000 Milliarden?
Ich will keine absoluten Zahlen nennen. Wenn die Devisenkäufe ins Exorbitante steigen würden, könnte diese Frage irgendwann zum Politikum werden. Wir dürften auch dieses Jahr namhaft weniger Teuerung haben als in der Eurozone. Wenn wir jedes Jahr einen Stabilitätsvorteil von drei Prozent haben, wird natürlich die Differenz zum Kaufkraftparitätenkurs sinken. Längerfristig hätte so die SNB etwas mehr Handlungsspielraum.
Langfristig sehen Sie den Euro eher bei 1.10 Franken?
Das Spekulieren überlasse ich anderen, aber langfristig könnte die Limite wegen des Teuerungseffekts leicht sinken. Leider muss ich davon ausgehen, dass in den nächsten Quartalen in der Eurozone keine glaubwürdige Lösung zustande kommen wird. Von daher bleibt eine glaubwürdige Verteidigung der aktuellen Untergrenze von 1.20 Franken ein Muss.
Der Schaffhauser Offizier: Der Ökonom startete seine Politkarriere als Kantonsrat von Schaffhausen. Von 1991 bis 2007 sass er für die FDP im Nationalrat, zudem war er Finanzchef des Industrie-konzerns Georg Fischer. 2006 wurde er zum Präsidenten des Wirtschaftsverbands Economiesuisse gewählt. Bührer ist mit der früheren Berner Regierungsrätin Elisabeth Zölch verheiratet. In der Armee war er Hauptmann.