Liebe Leserin, lieber Leser
Christoph Mörgeli, der Herr Professor mit dem Konfirmandengesicht, spricht Hochdeutsch nur widerwillig und mit Akzent, politisiert dafür differenziert, wie es sich für einen Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei gehört. Heisst einer mit Nachnamen von Stechow und ist dieser deutscher Botschafter in Bern, empfindet Mörgeli das als Bedrohung für das Vaterland, ja fast als Geheimcode für einen subversiven Plan zur Invasion in die Eidgenossenschaft. Von Norden her kommen sie wie die Heuschrecken. Fallen ein ins geliebte Schweizerland. Tausend Deutsche überqueren den Rhein. Monat für Monat. 170 000 sind es schon. Diese Völkerwanderung kennt kein Ende. Wenn der Mörgeli seine Thesen zum Thema zum Besten geben darf, wie Anfang Februar im «Club» des Schweizer Fernsehens, kennt sein Zorn kein Mass: Die Deutschen «machen Druck auf den Arbeitsmarkt», poltert er, nähmen den Schweizern «die Jobs weg, das ist klar», weil der «Deutsche billiger arbeitet».
Möglicherweise glaubt der promovierte Historiker, was ihm da über die Lippen kommt. Vielleicht ist er aber nur eine Marionette der SVP, jener Polittruppe, die nicht vergisst, dass es innerhalb der EU deutsche Politiker gewesen sind, die auf die Zahlung der Kohäsionsmilliarde und die Gewährung der Personenfreizügigkeit gepocht haben. Nach dem Antiamerikanismus der Linken haben wir nun also das Antideutschtum der Rechten. Dies zeugt von Kleingeist und historischer Ignoranz. Die Schweiz hat von jeher von Deutschland profitiert. Die Gründung des modernen Bundesstaates im Jahre 1848 ist ohne den geistigen Sukkurs von deutschen Liberalen undenkbar; der Aufstieg der «Neuen Zürcher Zeitung» zum liberalen, staatstragenden Blatt ist in der Frühphase stark von deutschen Redaktoren geprägt worden. Kein zweites Land existiert, das bezogen auf die Bevölkerungszahl eine ähnliche Dichte an multinationalen Unternehmen aufweist, und von BBC über Roche bis Nestlé sind dies oft genug Gründungen von Immigranten aus Deutschland. Als der nördliche Nachbar in die Dunkelheit der Nazi-Diktatur abstürzte, flohen Schauspieler, Schriftsteller und Intellektuelle scharenweise in die Schweiz. Nie mehr in der Geschichte war das Kultur- und Geistesleben der Alpenrepublik derart rege wie in jenen Jahren, als sie zum Asylland brillanter Köpfe wurde.
Und die brillanten Köpfe immigrieren auch heute. Es sind dies Ärzte, Ingenieure, Hochschulprofessoren, alle gut ausgebildet und voller Elan, es zu etwas zu bringen. Ein Segen für die Schweiz, denn diese Qualifikationen existieren hierzulande nicht im Überfluss. Ein Fluch für Deutschland, denn das Land entvölkert sich in dramatischem Tempo: 500 000 Erwerbstätige müssten pro Jahr zuwandern, haben Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit ergeben, wollte Deutschland im Jahr 2040 noch die gleiche Erwerbsquote aufweisen wie derzeit. Eine Utopie.
Ein Land, das sich entvölkert, ist dem Untergang geweiht. Und Politikern vom Schlage eines Mörgeli sei ins Stammbuch geschrieben: Der Schweizer Pass allein stellt keine Berufsqualifikation dar. Der Arbeitsmarkt, zumal jener der Hochqualifizierten, ist heute ein globaler. Unternehmen wie Nationen stehen in einem weltumspannenden Wettbewerb um Talente und Wirtschaftsstandorte. Ein Nationalrat einer selbst ernannten Wirtschaftspartei sollte diese Zusammenhänge kennen oder seine Konsequenzen ziehen.