Liebe Leserinnen und Leser

Ich sitze in einem Internet-Café im Zentrum von Chengdu, um durch die Berichte der Schweizer Medien zu den Parlamentswahlen zu surfen.

Chengdu ist die Hauptstadt der Provinz Sichuan. Hier leben rund zehn Millionen Menschen. In ganz China gibt es noch ein gutes Dutzend Städte, die eine grössere Bevölkerung aufweisen als die Schweiz. Vor der Tür ist die Shoppingmeile von Chengdu. Hier können Sie alles finden, was es auch bei uns zu kaufen gibt. Die Sackmesser, die wir als Mitbringsel bei uns haben, hätten wir hier einkaufen können.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Chengdu ist nur einer der vielen heissen Orte, an denen die historisch einmalige Wirtschaftstransformation mit Händen zu greifen ist. Seit Jahren wächst das chinesische Bruttosozialprodukt um acht Prozent. Frankreich ist eingeholt, Deutschland in Sichtweite, und bei anhaltenden Wachstumsraten wird China um das Jahr 2015 zu Japan und den USA aufschliessen.

Egal, ob das Reich der Mitte noch als Entwicklungsland oder als Industriestaat betrachtet wird, es gehört mit dem sechsten Platz auf der Weltrangliste zu den Exportchampions. Im Jahre 2002 gingen zwei Drittel des Wachstums der globalen Ausfuhren auf das Konto der Chinesen. Auch die Importe halten Schritt: Der Aussenhandelsüberschuss beträgt gerade mal sieben Milliarden Dollar.

Die Amerikaner ärgern sich gleichwohl. Denn mit ihnen erzielt China einen Überschuss von mehr als 100 Milliarden Dollar. Die USA drängen darauf, den Yuan aufzuwerten. Die chinesische Währung mag gegenüber dem Dollar unterbewertet sein, an den sie gekoppelt ist. Als Wettbewerbsvorteil fällt das gleichwohl nicht ins Gewicht. Es sind vielmehr nach wie vor die Arbeitskosten, mit denen die Konkurrenz auf den Weltmärkten aus dem Feld geschlagen wird.

Günstiger Produktionsstandort, gigantischer Heimmarkt mit 300 Millionen Mittelstands-Chinesen – an China kommt kein Unternehmen vorbei. Entsprechend fliessen die Milliarden ins Land. Die chinesischen Neukapitalisten haben im letzten Jahr 53 Milliarden Dollar an ausländischen Direktinvestitionen angezogen, mehr als die USA.

Anheizer der Wirtschaft sind aber auch die Chinesen selbst, die dazu beitragen, dass die Schwindel erregende Investitionsquote über 40 Prozent liegt. Der Infrastrukturausbau wird vorangetrieben wie sonst nirgends auf der Welt. Geld scheint dabei keine Rolle zu spielen: Die Sparquote der 1,3 Milliarden Chinesen liegt über 43 Prozent. Doch da das Geld fast keinen (risikogerechten) Preis hat, die staatlichen Banken praktisch alles finanzieren müssen, was ihnen an Projekten vorgelegt wird – und das zu reglementierten Tiefstzinsen –, kann man sich leicht vorstellen, wie miserabel es den Banken geht. Viele Kredite sind notleidend. Der Finanzsektor ist Chinas Achillesferse.

Die Mängelliste liesse sich beliebig verlängern: Vieles, was in China vor sich geht, ist ungesund, störend oder gar unakzeptabel. Doch was Reformen angeht, sollten wir vor der eigenen Haustür kehren. Und uns den Satz in Erinnerung rufen, mit dem Deng Xiaoping 1978 den Startschuss zum kommunistischen Kapitalismus gab: «Es spielt keine Rolle, ob die Katze schwarz oder weiss ist, solange sie Mäuse fängt.»

Für die Schweiz nach den Wahlen liesse sich Dengs Satz so interpretieren: Ob Parlament und Bundesrat nun Mitte-links oder Mitte-rechts orientiert sind, spielt keine Rolle – wenn nur endlich etwas getan wird, um auch bei uns die Wachstumskräfte zu fördern. Im einstmals reichen und fortschrittlichen China dauerte die Durststrecke bis zum Neustart fast 150 Jahre. So lange sollten wir uns nicht Zeit lassen.