Heino, der Sänger, war bis vor Kurzem die grösste Attraktion von Bad Münstereifel. Aber sein Café ist schon weg, umgesiedelt ins Kurhaus, ein paar Hundert Meter den Berg rauf. Wo Heino bisher empfing, schräg gegenüber dem Rathaus, liegt jetzt ein Schutthaufen, Maler und Maurer wuseln herum, es riecht nach Farbe und Putz. Nur im ersten Stock ist der kleine Besprechungsraum schon fertig. Da sitzt Georg Cruse und erklärt, wie es weitergehen soll mit Bad Münstereifel.
Er muss das wissen, denn er hat grosse Teile des Städtchens aufgekauft. «Ungefähr 30 Häuser», sagt er. Alles in allem 10'000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Das reicht für Cruses Plan: Münstereifel wird ein Factory Outlet – einer jener grossflächigen Verkaufstempel für Kleidung, Accessoires und Schuhe, in denen teure Marken billiger zu haben sind. Damit das Ganze funktioniert, müssen jedes Jahr Millionen Besucher kommen.
Innenstadt unter Denkmalschutz
Normalerweise setzen Outlet-Betreiber künstliche Dörfer auf die grüne Wiese. Ein Häuschen für Bruno Banani, eins für Guess, eins für Esprit. Und so weiter. Ein Hauch von Idylle darf gerne sein, aber wichtiger ist die Funktionalität. Alles muss barrierefrei sein, genormt, mit grossen Schaufenstern und ohne Säulen, die die Ladenkonzepte stören könnten. Doch Bad Münstereifel ist keine künstliche Idylle, sondern eine echte. Dutzende Riegelhäuser, die Wassermühle aus dem 12. Jahrhundert, das Rathaus von 1350. Drum herum eine Stadtmauer aus dem Mittelalter mit Toren, Türmen, Wehrgang. Die komplette Innenstadt steht unter Denkmalschutz.
Das ist schön, aber ein Problem für die Investoren. Die Idee des Restpostenverkaufs war noch ein paar Jahrhunderte weit weg, als diese Häuser gebaut wurden. Sie haben Stufen vor den Eingängen, zu kleine oder gar keine Schaufenster, Zwischenwände, wo Regale stehen könnten. Kann das gut gehen? Eine mittelalterliche Kleinstadt als Factory Outlet? Willkommen zum Versuch am offenen Herzen einer Stadt. Cruse gibt sich überzeugt: Es wird klappen. Mit großen Schritten eilt der 49-jährige Textilkaufmann, elegant gewandet mit blauem Sakko, hellblauer Strickweste und farblich abgestimmtem Halstuch, die Hauptstraße herunter, die hier Wertherstrasse heisst.
«Ist das nicht toll?»
«Die beiden Häuser dahinten gehören zu uns und die drei da rechts auch», zeigt er und läuft zur nächsten Baustelle. So geht das weiter, den knappen Kilometer zwischen Werther Tor und Orchheimer Tor. Ein paar Prachtexemplare des Denkmalschutzes sind dabei. Im Windeckhaus, Baujahr 1644, kann Cruse seinen Besitzerstolz nicht verbergen: «Die Fassade ist sogar auf einer Briefmarke abgebildet.» Jetzt öffnet sich hinter der historischen Fassade der künftige Verkaufsraum für Designerkleider. Der Ausbau ist weit fortgeschritten. «Ist das nicht toll?», fragt Cruse.
Für ihn ist Optimismus Pflicht. 40 Millionen Euro stehen für Cruse und seine Mitinvestoren Marc Brucherseifer und Rainer Harzheim auf dem Spiel. «Altersvorsorge», nennt Cruse das. Die Voraussetzungen seien gut. Weil ohnehin die halbe Innenstadt zum Verkauf gestanden habe, als sie vor drei oder vier Jahren anfingen, Häuser aufzukaufen. Weil mit Köln, Bonn, Aachen, Düsseldorf Millionen von Menschen in erreichbarer Nähe wohnen. Weil Bad Münstereifel einfach schön ist. «Bei einem Winterspaziergang in der Eifel», strickt der Investor an seiner Legende, seien sie auf das Outlet gekommen. «Die Idee war gut. Nach drei Bier war sie sehr gut. Am nächsten Morgen war sie immer noch gut.» Klappt der Plan, winkt dem Trio ein luxuriöses Altersruhegeld.
«Keine Apotheke, keine Drogerie, nichts für Kinder»
Und wenn nicht? «Man kann nur hoffen, dass die sich nicht verkalkuliert haben», sagt Klaus Thielen, einziger Gast im Caf0é Nipp an diesem grauen Dezembermorgen. Er finde die umgebauten Häuser ansprechend, aber nicht alle sähen das so. Regina Esser zum Beispiel, die gerade hinter der Theke den Kuchen neu sortiert, widerspricht. «Ein, zwei Jahre geht das gut, dann ist Schluss», grantelt die Kellnerin. Und wenn es doch gut gehe, sei den Leuten hier auch nicht geholfen. «Wer braucht so viele Klamotten? Wir haben keine Apotheke, keine Drogerie, nichts für die Kinder.»
Die ganze Innenstadt hat eine Verkaufsfläche von 14'000 Quadratmetern. 10'000 davon gehören Cruses Investorentruppe schon jetzt. Bald sollen es 12'500 sein. Die Sache könnte gut ausgehen für Bad Münstereifel, glaubt Joachim Will, mit seiner Firma Ecostra einer der renommiertesten Berater für Outlet-Investoren in Deutschland. Es habe schon andere Anläufe gegeben, Outlet-Center in historischen Innenstädten zu etablieren, etwa Idstein im Taunus. Aber die seien über das Papierstadium nie hinausgekommen. In Bad Münstereifel dagegen hat der Beton bereits abgebunden.
Bitte keine Automatencasinos
Für den Geschäftsbetrieb haben Cruse und Co. Profis eingekauft. «Das sind Leute, die ihr Handwerk verstehen», sagt Will, der nach eigenen Angaben nicht in einer Geschäftsbeziehung zum Outlet in der Eifel steht. Die Fachkräfte, die den Betrieb bald in die Hand nehmen sollen, haben sich vom Outlet-Marktführer Mc Arthur Glen abgesetzt. Mit einer eigenen Firma namens Retail Outlet Shopping machten sie sich selbstständig.
Trotz aller Ortskenntnis der Macher nennt Will Bad Münstereifel «ein immobilienwirtschaftliches Experiment». Schliesslich wollten die Markenfirmen, die die Läden mieten sollen, vor allem ihr Image pflegen: «Die achten sehr auf das Umfeld.» Ein Billig-Shop oder ein Automaten-Casino könnten da empfindlich stören, ganz zu schweigen von Bettlern oder schrägen Strassenmusikanten. Auch die Sauberkeit könne ein Problem werden. Andere Outlets stehen auf privatem Boden, da reichen Hausrecht und Reinigungsfirmen. Nicht so in Münstereifel. Den Investoren gehören zwar grosse Teile der Stadt, aber eben nicht alles.
Den Dorfpolizisten angestellt
Das Umfeld habe man im Griff, sagt Cruse. Die eine oder andere städtische Aufgabe werde man schon übernehmen. Den Müll beispielsweise täglich wegräumen lassen und nicht wie bisher nur einmal wöchentlich. Für die Sicherheit auf den Strassen sorge künftig der Outlet-Betrieb selbst. Den pensionierten Dorfpolizisten, einen Sympathieträger im Ort, haben sie auch schon angeheuert.
Für Bürgermeister Alexander Büttner ist das Outlet eine Chance, die er sich bei seinem Amtsantritt vor neun Jahren nicht zu erträumen wagte. Bad Münstereifel ist wie viele kleine Kommunen vom Niedergang gezeichnet. Von den einst 19.000 Einwohnern sind 2000 schon weggezogen, weil es nicht genug Jobs gibt. Derzeit regiert Büttner mit einem Nothaushalt. Bei 30 Millionen Euro Haushaltsvolumen muss er sechs Millionen einsparen.
Kurgäste kommen fast keine mehr
Das Pittoreske des Eifelstädtchens täuscht über wirtschaftliche Not hinweg. Münstereifel lebte früher gut vom Gesundheitstourismus. 40'000 bis 50'000 Übernachtungsgäste jährlich fluteten bis in die 80er-Jahre hinein das Kneipp-Heilbad. Manche blieben 14 Tage, viele kamen als Feriengäste wieder, weil ihnen die Gegend gefiel. Doch das ist vorbei, seit die Krankenkassen sparen. Jetzt kommen weniger Kurgäste, und sie bleiben nur kurz. «Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel», murrt der Stadtchef, ein Mann mit Kurzhaarschnitt und Karohemd.
An den Tag, als die Stimmungswende in Gestalt von Georg Cruse zu ihm kam, erinnert er sich gut. Im September 2011 war es, als der Kaufmann an dem hellen Eichentisch in Büttners Amtszimmer sass und seinen Plan offenbarte. Sofort erkannte der Lokalpolitiker: «Das ist eine einmalige Chance.» Nun hatte er eine Alternative: «Wollen wir in Schönheit sterben oder den Schalter umlegen?» Für ihn war die Antwort klar, und die Stadträte ziehen bis heute mit. Die Grünen, mit denen er koaliert, aber auch SPD, FDP und Unabhängige Wähler. Widerstand gibt es aus den umliegenden Kommunen, die fürchten, dass noch mehr Kaufkraft an ihnen vorbeifliesst. Im Ort kämpft eine Bürgerinitiative gegen den Plan. Ihr Versuch, das Outlet im Frühjahr per Bürgerbegehren zu stoppen, scheiterte jedoch.
600 Jobs – das freut den Bürgermeister
Zur Freude der Investoren. Ihnen bietet der Ort noch einen Vorteil. Für jedes Outlet sei die Öffnung am Wochenende überlebenswichtig, sagt Experte Will. Die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen verhält sich zwar restriktiv in Sachen Ladenöffnung, lässt aber Ausnahmen für Tourismusschwerpunkte zu. «Bad Münstereifel ist zweifellos ein Kur- und Tourismusort und hat somit offiziell 40 verkaufsoffene Sonn- und Feiertage», konstatiert Cruse.
Für Bürgermeister Büttner ist der Aufschwung zum Greifen nah. «Das ist nur der erste Schritt», sagt er. Schon stehe ein anderer Investor für das nahe Parkhotel bereit, das seit Jahren leer steht. Zehn Millionen Euro wolle der Mann in die Hand nehmen, dessen Namen er noch nicht nennen könne. Das Hotel werde kräftig ausgebaut, das stehe so gut wie fest, von 40 auf 100 Zimmer. Und danach komme die Renovierung des alten Bahnhofs dran.
«Eine unheimlich spannende Zeit»
Insgesamt entstünden bis 2015 in der Stadt 600 Vollzeitarbeitsplätze – viel für einen Flecken wie Bad Münstereifel. «Das ist eine unheimlich spannende Zeit», freut sich Büttner. Klappt Cruses Plan, steht auch er glänzend da: Als einer von wenigen Stadt-Managern, die die kommunale Krise ganz ohne öffentliches Geld gemeistert hätten. Ein Kleinstadtbürgermeister im Glück.
Noch aber fällt es schwer, sich vorzustellen, dass in ein paar Monaten die Käuferscharen am Flüsschen Erft entlangflanieren sollen, das sich durch den Ort schlängelt. In einigen Häusern hat der Umbau noch nicht einmal angefangen. Dabei sollte das Outlet eigentlich schon 2013 an den Start gehen. Die Kreisbehörde habe sich mit der Genehmigung der 750 Parkplätze schwergetan, die seine Firma baut, klagt Cruse.
Die grossen Modemarken fehlen noch
Oder gibt es tiefer greifende Probleme? An diesem Punkt wird der Kaufmann schmallippig. Auf einen neuen Eröffnungszeitpunkt mag er sich nicht festlegen. Irgendwann «zwischen April und September 2014», sagt er nur. Aber nur das Wann stehe in Frage, nicht das Ob, versichert er. 60 Prozent der Flächen seien bereits vermietet. Welche Marken dabei sind, verrät er nicht. Auf der Wunschliste stehen Firmen wie Nike, Tom Tailor, Esprit, Bugatti, Pierre Cardin. Die Stars der Bekleidungsbranche fehlen wohl noch. «Eines kann ich Ihnen versichern», sagt Experte Will. «Prada und Gucci sind nicht dabei.» Die hochpreisigen Marken warteten immer ein paar Jahre ab, um sicherzugehen, dass sich ein Konzept bewähre.
Es ist ein Geben und Nehmen. Die Modehersteller brauchen Absatzkanäle, die Outlet-Betreiber attraktive Marken – und zahlen dafür. Hugo Boss etwa soll eine Million Euro Antrittsgeld dafür bekommen haben, dass die Firma in einem neuen Outlet ihre Regale aufstellt, heisst es in der Branche. Bestätigt ist das nicht, aber die Betreiber in Bad Münstereifel müssen mit ähnlichen Kosten rechnen – zusätzlich zum millionenschweren Werbeaufwand für die Eröffnung.
Kleine Händler sehen auch Chancen
Für die kleinen Händler im historischen Stadtkern sind das Summen aus einer fernen Welt. Aus ihrer Sicht ist das Outlet übermächtig. Christa Wolf beispielsweise betreibt seit Jahren einen gut laufenden Textilladen und muss dennoch Ende dieses Jahres dichtmachen – weil Cruses Investorentrio auch dieses Haus gekauft habe, wie sie sagt. Mit juristischen Tricks sei sie als Mieterin verdrängt worden. Allein 2000 Euro seien an Rechtsanwaltskosten aufgelaufen, nur um noch ein paar Monate länger weitermachen zu können. «Ich bin Kölnerin. Ich sage immer: Leben und leben lassen», sagt die Händlerin und verfällt dann erregt in ihren Heimatdialekt: «Aber dat hier is Mafia.»
Andere kleine Händler im Ort hoffen, von den Kunden zu profitieren, die das Outlet anlocken wird. So wie André Königs mit seinem Geschäft in der Nähe des Windeckhauses: «Man muss sich eine Nische suchen». Königs wird sich wohl auf Übergrößen spezialisieren. Auch Christa Wolf will sich mit der neuen Lage arrangieren. Wenn alles gut geht, macht sie im Februar einen neuen Laden auf, ein paar Häuser weiter.
Am ganz grossen Rad drehen
Das große Rad aber drehen Cruse, Brucherseifer und Harzheim. Wenn ihre Kalkulation aufgeht, soll jeder der jährlich eine Million Kunden in den Outlet-Läden im Schnitt 80 Euro für Designerkleidung, Schuhe oder Accessoires ausgeben. Im Heino-Café lag die Rechnung für Kaffee-, Kuchen- und Schlagerglück bei durchschnittlich 7.90 Euro.
DIeser Artikel erschein zuerst in unserer Schwester-Publikation «Die Welt».