Am frühen Nachmittag fegen die ersten Fallwinde durchs Dorf, wirbeln Papier und Dreck auf, künden vom Sturm. Vom Splügen und von Thusis herunter wälzt sich eine schwarze Wolkenfront gegen das Bündner Dorf Domat/Ems. Das nahende Unwetter beschleunigt die Gemächlichkeit der Einwohner nicht spürbar. An der Via Nova rückt eine ältere Frau im Garten vor dem Haus eine Steinplatte zurecht. Nach einem geschnauften «Grüess Gott» hört sie sich mit zunehmender Unruhe die Fragen des Besuchers an und hastet mit einem gemurmelten «Ich weiss nichts. Gar nichts» ins Haus.
In einer Querstrasse sitzt ein Mann in den Fünfzigern auf einem Holzbänklein und blättert gelangweilt in einem Magazin. Er lässt den Fremden nicht einmal ausreden, steht sichtlich unruhig auf, zieht wortlos die Haustüre auf und verschwindet. Zugeknöpft gibt sich auch Jürgen Steurer, Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde. Er hört sich das Ansinnen in aller Ruhe an und meint dann: «Ach, wissen Sie, bei politischen Angelegenheiten halte ich mich raus.»
Politische Angelegenheiten? Dabei hat der Journalist lediglich harmlose Fragen gestellt; beispielsweise wie im Dorf Magdalena Martullo-Blocher, die Chefin der Ems-Chemie, wahrgenommen werde; ob es stimme, dass das Unternehmen in grossem Stil Arbeitsplätze abbaue; wie die Stimmung im Werk sei. Doch darüber spricht man nicht – zumindest nicht mit Fremden. Sogar Beatrice Baselgia, Sozialistin und Gemeindepräsidentin in Domat/Ems, die sonst, so heisst es, kein Blatt vor den Mund nimmt, zeigt sich eingeschüchtert: «Es ist heikel, Auskünfte zu geben über die Ems-Chemie.» Nach längerem Nachdenken meint sie bestimmt: «Nein, ich will dazu nichts sagen.»
Mehr Zivilcourage zeigt der katholische Dorfpfarrer Klaus Rohrer. «An Weihnachten und Neujahr habe ich bemerkt, dass die Stimmung im Dorf gedrückt ist. Die Leute haben Zukunftsängste.» Als er vor einigen Jahren nach Domat/Ems gekommen sei, so erzählt der junge Gottesmann im Pfarrhaus, habe er in der Gemeinde erstaunt einen gewissen Übermut festgestellt. «Damals ging es der Ems-Chemie und damit dem Dorf gut, niemand brauchte um seinen Arbeitsplatz zu bangen.»
Rückschlag. Die Zeiten haben sich geändert. Nun kriecht die Wirtschaftskrise auch die Bündner Täler empor. Ems-Chemie ist der grösste private Arbeitgeber in der Region, ja im Bündnerland. Früher arbeiteten alleine aus Domat/Ems 500 Personen im Werk am Dorfrand, heute sind es immer noch gut 300. Im Vorjahr kassierte die Gemeinde Steuereinnahmen von 24 Millionen Franken; mindestens die Hälfte davon leisteten die Ems-Chemie sowie ihre Angestellten, die im Dorf wohnen.
Seit 1942 Werner Oswald damit begann, am Rand von Domat/Ems Äthylalkohol aus Holzabfällen zu destillieren, ist das Schicksal des Dorfes mit dem Unternehmen verbunden. 1969 trat ein Jurist aus Zürich, ein gewisser Christoph Blocher, eine Halbtagsstelle beim Rechtsdienst der Emser Werke an. Zwei Jahre später übernahm er das Amt des Generalsekretärs, 1983 die Aktienmehrheit – für nicht einmal zwei Dutzend Millionen Franken. Blocher führte das schwer angeschlagene Unternehmen zu frischer Blüte. Als der gewiefte Unternehmer und Hau-drauf-Politiker Ende 2003 zum Bundesrat gewählt wurde, mussten seine vier Kinder ihr Haupterbe, das Aktienpaket von gegen 60 Prozent an der Ems-Chemie, kaufen und sich dafür schwer verschulden (siehe 'weitere Artikel': «Karrierre: Magdalena Martullo»).
Neue Chefin bei der Ems-Chemie wurde seine älteste Tochter, Magdalena Martullo-Blocher. Der Vater stellte ihr einige seiner alten Weggefährten zur Seite, damit die damals 35-jährige Jungunternehmerin keinen Schiffbruch erlitt. Seine Befürchtungen waren unbegründet. Die HSG-Absolventin und Marketingspezialistin schlug sich besser als erwartet. Innerhalb von vier Jahren stiegen Gruppenumsatz und Betriebsgewinn um 27 respektive 37 Prozent. Dann begann sich vor einem Jahr die Wirtschaftskrise abzuzeichnen. Martullo verhängte einen Personaleinstellungsstopp, leitete Sparmassnahmen ein, baute die Lager ab, kürzte die Investitionen. Und wurde dennoch von der Heftigkeit des Einbruchs überrascht. Zwar hielt sich 2008 der Umsatzrückgang im Rahmen, doch Ebit und Gewinn knickten ein.
In den ersten Monaten 2009 hat die Krise an Heftigkeit zugelegt. Mehr als vier Fünftel des Gesamtumsatzes erzielt die Ems-Chemie im Geschäft mit polymeren Werkstoffen. Diese Hochleistungskunststoffe werden vor allem in der Autoindustrie verwendet, einer Branche, die gerade von einer noch nie gesehenen Rezession heimgesucht wird. Doch auch andere Abnehmer wie Firmen aus den Bereichen Optik oder Elektronik haben ihre Bestellungen bei der Ems-Chemie stark zurückgefahren. Das Resultat: Der Konzernumsatz sackte im ersten Quartal um 40 Prozent weg, der Betriebsgewinn wurde überproportional nach unten gedrückt. «Der enorm starke Rückschlag im ersten Quartal 2009 hat die Analystengemeinde überrascht», sagt Helvea-Analyst Martin Flückiger.
Mit Blick auf die Einbrüche musste das Unternehmen die Produktion herunterfahren. «Ems setzt weiterhin auf Kurzarbeit statt Entlassungen», führt Martullo-Blocher gegenüber BILANZ aus. Die Firmenchefin weiter: «Ems führte auf dem Werkplatz Domat/Ems im Januar 2009 für rund 600 Mitarbeiter Kurzarbeit ein, im April waren es noch rund 400. Zurzeit sind es etwa 200 Personen, die zwischen 20 und 30 Prozent Kurzarbeit machen.» Wurden denn gar keine Leute entlassen? Martullo-Blocher: «Leider konnten einzelne Frühpensionierungen und einzelne Entlassungen nicht vermieden werden.»
«Was für eine Untertreibung. Seit Monaten werden in grossem Umfang Leute entlassen und Stellen abgebaut», empört sich ein Angestellter, der aus Furcht vor Repressionen seinen Namen nicht gedruckt sehen will. Gemäss seinen Ausführungen wurden seit September 2008 alleine im Hauptwerk gegen 300 Stellen abgebaut: rund 100 durch Früh- und normale Pensionierungen, 100 wegen Nichterneuerung befristeter Arbeitsverträge, mindestens drei Dutzend Entlassungen sowie etwa 50 Stellen, die wegen des Anstellungsstopps nicht mehr besetzt wurden. BILANZ hat die Liste Gustav Ott vorgelegt. «Diese Zahlen entsprechen auch meinen Wahrnehmungen», bestätigt der SP-Präsident von Domat/Ems, der im Dorf eine Arztpraxis betreibt und sich nebenamtlich als Werksarzt bei der Ems-Chemie betätigt.
Fussabdrücke. «Diese Angaben sind komplett falsch», meint dagegen Martullo-Blocher. «Dank dem frühzeitigen Personalstopp und zahlreichen internen Umbesetzungen wurden keine grösseren Entlassungen nötig.» Erstaunlich daran ist, mit welcher Vehemenz Martullo-Blocher Entlassungen in grossem Stil in Abrede stellt. Denn sogar ein einschneidender Abbau von Arbeitsplätzen würde im aktuellen Wirtschaftsumfeld wohl grösstenteils auf Verständnis stossen. Die von BILANZ angeforderten Personalzahlen allerdings zeigen, dass auch die Ems-Chemie heftig abbaut: Anfang 2008 wurden schweizweit – das heisst fast ausschliesslich in Domat/Ems – 1221 Personen beschäftigt, Ende März 2009 waren es noch 1005. Damit sind in 15 Monaten 216 Arbeitsplätze verschwunden.
Magdalena Martullo-Blocher liegt viel daran, das Bild der sozialen Arbeitgeberin aufrechtzuerhalten. Den Grund sieht ein Bekannter der Familie beim Vater: «Christoph Blocher war ein harter Patron, der von seinen Leuten viel forderte, aber auch ein grosses Herz für seine Arbeiter hatte.» Ein Kahlschlag unter den Ems-Beschäftigten wäre also ein Eingeständnis, versagt zu haben. Doch dort, wo die Öffentlichkeit keinen Einblick hat, zeigt die 39-Jährige grösste Härte gegenüber den Angestellten. «Martullo-Blocher fegt in der Ems-Chemie mit eisernem Besen», meint Stefan Schmutz, Regionalsekretär der Gewerkschaft Unia in Chur.
Martullo-Blocher hat drei Handicaps. So muss sie als Frau ihre Managerqualitäten weitaus öfter unter Beweis stellen, als dies ein Mann müsste. Im Weiteren betreut sie, fast nebenbei, eine Familie mit drei Kleinkindern. Ihr grösstes Problem aber ist ihr Vorbild: ihr Vater. «Die Fussabdrücke, die Christoph Blocher bei der Ems-Chemie hinterlassen hat, kann seine Tochter nie ausfüllen», urteilt ein ehemaliges Kadermitglied. Noch vor sechs Jahren erzählte Magdalena Martullo-Blocher in der BILANZ: «Früher sagte ich immer, dass ich auf keinen Fall in das Unternehmen gehen wolle. Nie.» Heute ist ihre Sicht anders: «Ich bin mit Ems ebenso verbunden wie mein Vater.»
«Sie hasst es, von ihrer Umgebung zuerst als Blochers Tochter wahrgenommen zu werden», berichtet ein Bekannter aus Herrliberg. Doch genau dies widerfährt ihr seit Jahren. Sie kann sich nicht aus dem Schatten des übergrossen einstigen Ems-Lenkers lösen. Für sie muss es eine bittere Stunde gewesen sein, als an der Ems-Generalversammlung im vergangenen August ihr Vater mit Gattin Silvia ins Festzelt einmarschierte und von über 1000 Gästen mit frenetischem Beifall empfangen wurde. Für sie selbst hatten die Aktionäre nur wenig Wertschätzung übrig.
Drohung. Und so versucht Martullo-Blocher, nicht nur besser als ihr Vater zu sein, sondern auch härter. Das bekommen die Ems-Mitarbeiter zu spüren, vor allem die älteren, die jahrzehntelang loyal zur Firma standen. Ein über 60-jähriger Arbeiter erzählt: «Mir wurde gesagt, ich solle mich doch vorzeitig pensionieren lassen. Und wenn ich nicht kündige, würden sie das tun.» Andere wissen Ähnliches zu berichten. «Im Werk sind viele Arbeiter psychisch angeschlagen. Seit einigen Monaten sehen sie sich einer ihnen bislang unbekannten Situation ausgesetzt: Sie müssen um ihren Job bangen», meint ein Vorarbeiter.
BILANZ hat mit mehr als 20 Personen Gespräche geführt, kaum einer wollte sich namentlich zitieren lassen. Die Angst vor Sanktionen ist zu gross. Sogar Zwangs-Frühpensionierte wollen anonym bleiben – Freunden oder Verwandten, die noch bei der Ems-Chemie arbeiten, drohe sonst Sippenhaft. Die Ems-Führung bläut ihren Arbeitern fortwährend ein, mit keinem Aussenstehenden über das Unternehmen zu sprechen. Wer Journalisten Auskunft gibt, dem droht die Kündigung. Das sind keine leeren Worte. Laut Martullo-Blocher habe dieser Tage der Werksarzt Gustav Ott seinen Vertrag gekündigt. Angeblich wusste die Firmenleitung Bescheid über seinen Kontakt zu BILANZ. Der Arzt ist damit der unvermeidbaren Vertragsauflösung seitens der Ems zuvorgekommen – nach 20 Jahren Betriebszugehörigkeit. Ott selbst mochte sich nicht äussern.
Gegenüber der eigenen Führungsriege legt Martullo-Blocher ebenfalls Härte an den Tag. «Wie sie mit ihrem Management umgeht, grenzt an Brutalität», sagt einer ihrer Geschäftspartner. Einige Kadermitglieder haben bereits gekündigt, auch aus ihrem engsten Umfeld setzen sich Mitarbeiter ab. Nach dreieinhalb Jahren hat Boris Vasella 2008 seine Kündigung eingereicht, als Generalsekretär einst die rechte Hand von Martullo-Blocher. Er habe den Druck nicht mehr ausgehalten, wegen der geforderten totalen Verfügbarkeit seine Familie vernachlässigt, erklärt ein einstiger Kollege. «Ich will mich dazu nicht äussern», sagt Vasella.
Christoph Blocher zeigte nicht weniger Härte mit seinen Mannen. «Doch am Ende des Tages klopfte er den Leuten auf die Schulter, machte ihnen ein Kompliment oder erkundigte sich nach der Familie», hat ein langjähriger Weggefährte des einstigen Ems-Chefs beobachtet. «Blocher zeigte ein feines Gespür dafür, seine ruppige Art durch Wertschätzung wiedergutzumachen», erzählt ein ehemaliges Kadermitglied. Zudem habe er immer anständige Löhne gezahlt und den Leuten das Gefühl der Sicherheit vermittelt. «Dafür war man ihm dankbar. Seine Arbeiter wären für ihn durchs Feuer gegangen.» Martullo-Blocher dagegen lässt kaum je ein Kompliment hören, zeigt selten ein Lächeln, gibt sich verschlossen, unnachgiebig. «Ich kenne niemanden, der für sie durchs Feuer gehen würde», sagt der einstige Topmann.
Magdalena Martullo-Blocher kritisiert zwar selbst mit Hingabe, hat aber Mühe mit Kritik an ihrer Person, vor allem seitens der Journalisten. Wer auch nur den leisesten Tadel anbringt, wird von der Firmenzentrale an der Fuederholzstrasse 34 in Herrliberg aus unter Beschuss genommen – nicht selten von der Chefin selbst oder dann von ihrem Mann fürs Grobe: Conrad Gericke, seines Zeichens Generalsekretär und Leiter Administration.
Schulden. Beisshemmungen kennt die Ökonomin auch bei Politikern nicht. Das musste der Churer CVP-Grossrat Vincent Augustin erfahren. Vor gut einem Jahr kritisierte er im «Bündner Tagblatt» den von Christoph Blocher mitgetragenen Entscheid des Bundesrats, auch künftig keine Parallelimporte zuzulassen. Kurz danach machte sich der Grosse Rat des Kantons Graubünden zum alljährlich durchgeführten Besuch eines regionalen Unternehmens auf – diesmal zur Ems-Chemie. Nicht dabei war Vincent Augustin. Seine Kritik an ihrem Vater stiess Magdalena Martullo derart sauer auf, dass sie Augustin zur Persona non grata erklären liess. Seine Kollegen liessen sich ihr Schulreisli nicht verderben.
Den Gewerkschaften ein Dorn im Auge ist die Dividendenpolitik der Konzernherrin. Zwar hat sie für 2008 die Ausschüttung pro Aktie von 7.25 auf 5 Franken zusammengestrichen. Dennoch fliessen insgesamt 117 Millionen Franken aus dem Unternehmen; 71 Millionen davon wandern in die Taschen der drei Blocher-Mädchen, die zusammen 61 Prozent der Ems-Titel halten. Magdalena Martullo-Blocher versteht diese Kritik nicht: «Ems verfügt über eine hohe Liquidität, und das Geschäft erwirtschaftet einen positiven Cashflow. Die Dividende ist problemlos finanzierbar.»
Eine anständige Verzinsung des Risikokapitals ist nichts Verdammenswertes. Nur sind die Mitarbeiter der Ems-Gruppe vom alten Patron her anderes gewohnt. Christoph Blocher war es ein Gräuel, sich eine Dividende auszuzahlen. «So würde ja nur Geld von meinem linken in den rechten Hosensack verschoben, und der Staat zwackt einen grossen Teil davon als Steuern ab.» Seit der Machtübernahme von Martullo-Blocher werden wieder Dividenden bezahlt – und dies nicht zu knapp. Über die letzten Jahre hat die Firma ihren Aktionären gegen 1400 Millionen Franken überwiesen, die Blochers kassierten davon weit über die Hälfte.
Nur hat die Multimillionärin gar keine andere Wahl, als sich und ihren Schwestern einen stetigen Dividendenstrom zu sichern. Als das Blocher-Quartett 2004 dem Vater die Ems-Chemie-Aktien abkaufte, musste es bei der Bank wohl weit über eine Milliarde Franken aufnehmen – und als Sicherheit die Aktien hinterlegen. «Von der Dividende sehe ich privat keinen Rappen. Sie wird vollumfänglich für Steuern sowie für Zinsen und Tilgung der Schulden verwendet», sagt Magdalena Martullo-Blocher. Und schiebt fast trotzig hinterher: «Wir Blochers sind nicht Unternehmer, um uns zu bereichern.»
In diesem Jahr wird die Dividende von fünf Franken pro Titel kaum erarbeitet. «2009 ist für Ems gelaufen. Von wenigen Aufhellungen abgesehen, bleibt das Umfeld düster», beurteilt Helvea-Analyst Martin Flückiger den Ausblick. Frühestens 2010 dürften die Nachfrage nach Autos und damit der Geschäftsgang bei der Ems-Chemie wieder spürbar anziehen. Lässt der Aufschwung dagegen noch länger auf sich warten, kommt das Unternehmen wohl um weitere Entlassungen nicht herum.
Die Angst bleibt im Dorf.
In der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch tobt sich über Domat/Ems das Gewitter aus. Am nächsten Tag herrscht wieder strahlender Sonnenschein. Doch lange nicht alle Einwohner von Domat/Ems können sich daran erfreuen. «Manch einem im Dorf ist erst heute bewusst geworden, was wir am alten Blocher hatten», erzählt einer. «Nicht wenige meinen, es wäre für uns besser herausgekommen, der Christoph Blocher wäre geblieben», sagt Pfarrer Klaus Rohrer mit einem feinen Lächeln.